Der 2011 erstmalig erschienene Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ von Yuval Noah Harari wird von allen etablierten Medien hochgelobt. Die Fanliste ist lang und reicht von Barack Obama über Mark Zuckerberg und Daniel Kahneman bis hin zu Angela Merkel. Der britische Guardian listete das Werk sogar als eines der wichtigsten des 21. Jahrhunderts. Miriam Van den Nest nimmt das Buch genauer unter die Lupe und zeigt, warum Hararis Idealismus in eine Sackgasse führt.
Zusammengefasst beschreibt Harari, seines Zeichens israelischer Historiker mit einem Forschungsschwerpunkt auf Militärgeschichte, in seinem Sachbuch die Evolution und Geschichte des Homo sapiens. Als Angelpunkte hierfür dienen die, seiner Meinung nach, „drei grossen Revolutionen der Menschheitsgeschichte“: die kognitive, die landwirtschaftliche und die wissenschaftliche Revolution. Seine Hauptthese besteht darin, dass der Mensch sich als Spezies von anderen Tierarten durch die Fähigkeit abhebt, gemeinsam an Mythen zu glauben und darüber zu sprechen.
So werden im Laufe des Buches allerlei gesellschaftliche Phänomene zu geteilten Mythen oder sogenannten „intersubjektiven Realitäten“ stilisiert. Der Begriff der „Intersubjektivität“ möchte hier ausdrücken, dass Dinge zwar personenübergreifend wahrgenommen und akzeptiert werden („kollektive Mythen“), sie aber nicht „objektiv“ existieren, sondern nur in unseren Köpfen. Damit reduziert Harari alles (!) Gesellschaftliche auf ein reines Fantasieprodukt. Richter werden zu Zauberern, Gesetzestexte zu Zaubersprüchen und Gesetze eine Fiktion, die sich Menschen zufällig ausgedacht haben.
Diese Herangehensweise wird in seinen Ausführungen zum Unternehmen Peugeot und zu GmbHs generell besonders anschaulich. Sie werden beide als fiktive Hirngespinste beschrieben, die nur existieren, weil daran geglaubt wird: Nachdem Menschen einfach begonnen hätten, sich „Gesellschaften mit beschränkter Haftung“ vorzustellen, konnte Armand Peugeot durch juristische Zauberrituale, die mit der Eucharistie einer christlichen Messe verglichen werden, seine Firma Peugeot, seine Fiktion, erschaffen.
Die Tatsache, dass es zu früheren Zeitpunkten der Menschheitsgeschichte weder Logistik noch Infrastruktur und schon gar keinen Verwendungszweck für Grosskonzerne gab (und im Übrigen: auch keine Autos), scheinen für Harari keine Rolle zu spielen.
Zu Ende gedacht behauptet er so, dass Natur und Gesellschaft vollkommen unabhängig voneinander existieren. Während Erstere den Gesetzen der Welt unterliegt, sei Letztere komplett zufällig entstanden und entwickelt sich so auch zufällig weiter. Tatsächlich ist unsere Gesellschaft aber Teil unserer Natur, sie ist aus ihr heraus entstanden und beides beeinflusst sich gegenseitig.
Gesellschaftliche Phänomene sind nicht das Resultat einer rein zufälligen kollektiven Vorstellung, sondern stets Ausdruck von Notwendigkeiten, die sich aus der materiellen Situation ergeben. So kommt es nicht aus heiterem Himmel, dass GmbHs gerade im bürgerlichen Staat existieren. Die GmbH ist eine Geschäftsform, die erst durch den Kapitalismus möglich, notwendig und nützlich geworden ist. Hararis Mystifizierung von gesellschaftlichen Phänomenen verschleiert so nur den wahren Charakter derselben, ohne dadurch die Welt besser erklären zu können. Sie gar bewusst zu verändern, liegt dem Autor erst recht fern. Doch alles der Reihe nach.
Die Geschichte des bewussten Menschen begann, so Harari, vor 70.000 Jahren mit der „kognitiven Revolution“, der ersten wichtigen Revolution in der Menschheitsgeschichte. Diese sei mit allergrösster Wahrscheinlichkeit (der Autor ist kein Fan davon sich gänzlich festzulegen) durch eine einzelne Genmutation entstanden, die dem Homo sapiens jene Denkweise gebracht hätte, die ihn vom Tierreich abhob und zum bewusst handelnden Menschen machte.
Weiters schreibt er, dass sich das so geschaffene Bewusstsein bis heute nicht verändert hätte: Nachdem wir noch immer über die gleichen genetischen und körperlichen Voraussetzungen und somit die gleiche Denkweise verfügen, könnten wir, so Harari, ohne Probleme mit den Menschen vor 70.000 Jahren über Quantenmechanik oder Alice im Wunderland sprechen.
Tatsächlich geht man davon aus, dass es vor ca. 70.000-50.000 Jahren zu einem qualitativen Sprung in der Evolution kam. Doch die These, die Entstehung des heutigen menschlichen Bewusstseins basiere nur auf einer einzelnen Mutation ist bei näherer Betrachtung absurd. Wenn wir tatsächlich annehmen, dass sich das Bewusstsein bei seiner genetischen Geburt bereits „voll“ entfaltet hätte, ist es unverständlich, warum es so lange gedauert hat, bis der Mensch begann, Flugzeuge zu bauen oder Symphonien zu komponieren. Ausserdem führte diese Annahme dazu, dass die einzige Möglichkeit, die uns zur Verfügung steht, um uns weiterzuentwickeln, eine neue Mutation wäre.
Doch das menschliche Bewusstsein ist in all seiner Komplexität viel mehr als die anatomischen Strukturen des Gehirns. Dessen Entwicklung geschah (und geschieht) in Interaktion mit der Umwelt und der Natur: Durch die Arbeit und die Herstellung von Werkzeugen entstand die Notwendigkeit für eine abstraktere Wahrnehmung der Umwelt und eine ausdifferenzierte Kommunikation – also die Sprache. So unterlag es auch nie dem Zufall, wann welche Ideen (oder „Mythen“) aufkamen. Diese Ideen entstanden immer in enger Beziehung zur Produktionsweise und den daraus resultierenden Möglichkeiten. So entstand das menschliche Bewusstsein letztendlich in dem Prozess, dass der Mensch begann, die Umwelt umzuformen – etwaig notwendige Mutationen waren in diesem Sinne zwar Zufälle, aber Zufälle, deren materielle Zeit gekommen war!
Das führte zu Fortschritt, zur Weitentwicklung des Menschen und seiner Ideen, nämlich von Höhlenmalereien hin zur Kunst der Renaissance, von der erstmaligen Entstehung komplexer Laute hin zu hochdifferenzierten Sprachen, Literatur und Quantenmechanik.
Als zweite wichtige Revolution beschreibt Harari die landwirtschaftliche Revolution, die der neolithischen Revolution vor ca. 10.000 Jahren entspricht. Als neolithische Revolution bezeichnet man im Allgemeinen den Umbruch in der Menschheitsgeschichte, bei dem Kultivierung bzw. Domestizierung von Pflanzen und Tieren und damit einhergehend eine Sesshaftwerdung stattfand. Diese Entwicklung führte in weiterer Folge zur Bildung von Städten und letztendlich zur Entstehung von Staat und Klassengesellschaft.
Harari bezeichnet diese landwirtschaftliche Revolution salopp als den „grössten Betrug der Menschheitsgeschichte“: Durch den Versuch Zeit zu sparen und Nahrung anzuhäufen, sei die Menschheit in eine grosse Falle getappt, aus der sie nicht mehr herauskäme. Die Rechnung, durch mehr Arbeit heute morgen ein besseres Leben zu haben, sei nicht aufgegangen, mit jedem Fortschritt komme lediglich eine neue Bürde hinzu. Anstatt durch den Fortschritt stressfreier zu leben, sei unser Alltag gehetzter denn je, beispielsweise in Anbetracht der E-Mail- und Nachrichtenflut, die jeder von uns tagtäglich zu bewältigen habe. Nicht zum ersten oder letzten Mal verwendet Harari hier den Kniff des Panpsychismus und haucht der Pflanze Weizen ein eigenes Bewusstsein ein: Im Herzen dieser landwirtschaftlichen Revolution habe so im Endeffekt der Weizen uns auf clevere Art und Weise domestiziert, und nicht die Menschen ihn. Trotz seiner Bedürftigkeit sei der Weizen fähig gewesen, den Menschen davon zu überzeugen (!), seinen Lebensstil für ihn zu ändern.
Nachdem uns der Autor zuerst erklärt hat, dass die menschliche Gesellschaft nur auf kollektiven Fiktionen basiert, muss er nun gar Naturelemente zu einem Mythos erheben, um seine Geschichte aufrecht zu erhalten.
Dies geht sogar so weit, dass Harari behauptet, eine der ersten Tempelanlagen, Göbekli Tepe (in der heutigen Türkei), sei für den Weizen errichtet worden und der Mensch sei für den Weizen sesshaft geworden. Mit dieser These ist Harari in den Geisteswissenschaften zwar nicht allein, aber sie dreht die Verhältnisse geradewegs um. Es liegt zwar durchaus im Bereich des Möglichen, dass dem Weizen, gerade in Anbetracht seiner tragenden Rolle für die Ernährung, ein religiöser Kultstatus zukam, aber: Schlussendlich war es trotzdem der Mensch selbst, der durch (und nicht für) den Anbau von Kulturpflanzen in die glückliche Lage kam, eine viel grössere Anzahl an Personen verlässlicher zu ernähren. Dies gelang den Menschen sogar so gut, dass Zeit und Energie für einen Tempelbau übrigblieben!
Die Kultivierung von Pflanzen war eben kein „Betrug“ des Weizens an uns, sondern ein wichtiger Fortschritt, der Nahrungsmittelsicherheit bedeutete. Kurzum: ein Schritt in Richtung der Kontrolle des Menschen über die Natur, anstatt seine Unterwerfung durch die Natur.
Für den Autor des Buches ist die Geschichte an sich jedoch eine wahllose Aneinanderreihung zufälliger Ereignisse, der jegliche Richtung abgesprochen wird und die die Möglichkeit eines Fortschrittes kategorisch ausschliesst.
Doch tatsächlich war die Entstehung der Klassengesellschaft ein Fortschritt. Ja, es mögen nicht alle Teile der Gesellschaft Gewinner in diesem Spiel gewesen sein, schliesslich führte es zur Bildung einer herrschenden Klasse, die mithilfe eines Staates auf dem Rücken der Mehrheit lebten. Doch diese Ausbeutung bedeutete damals gesamtgesellschaftlich eine höhere Produktivität – mehr Reichtum bedeutete, dass eine Minderheit sich von der harten Arbeit freispielen konnte und dafür Wissenschaft, Kunst und Kultur weiterentwickelte.
Das Ergebnis der langen Geschichte von Klassengesellschaften ist es, dass wir heutzutage erstmals in einer Welt leben, in der eine Wochenarbeitszeit von wenigen Stunden ausreichen würde, um alles in Gang zu halten und die gesamte Menschheit (die seit der neolithischen Revolution etwa um den Faktor 1000 wachsen konnte!) zu ernähren, in der eine sozialistische Gesellschaft möglich ist. Das Einzige, das sich heute in der Entfaltung dieser Möglichkeiten als Hemmschuh erweist, ist der Kapitalismus selbst, der unfähig ist, dieses Potential im Sinne der Menschen zu nutzen. Dieses Potential gilt es zu verwirklichen. In den richtigen Händen stellt der Fortschritt, mit Technologisierung und Produktivitätssteigerung, die Grundlage für die Befreiung der Menschheit dar und eben keinen „Betrug“.
Genauso wie dem Weizen spricht Harari auch dem Geld einen eigenen Willen zu und beschreibt es als den erfolgreichsten Eroberer unserer Weltgeschichte, voller Toleranz und Anpassungsfähigkeit, mal als die erfolgreichste Geschichte, die je erzählt wurde. Und so wie im Falle des Weizens erklärt er Geld zur reinen Glaubensfrage: Wir glauben deshalb an das Geld, weil unser Nachbar daran glaubt, und weil uns unsere „Schamanen“ (also die Bänker) ihre wundervolle Geschichte glaubhaft erzählen. Geld ist am Ende keine materielle, sondern eine hochgradig spirituelle Angelegenheit, die keinerlei objektiven Wert hat.
Wieder begeht Harari hier denselben Fehler wie bei der Beschreibung aller anderen gesellschaftlichen Phänomene, ein Fehler, der tief in seiner idealistischen Methode wurzelt: Nur weil etwas seinen Ursprung nicht in der menschlichen Biologie hat, wird es deshalb nicht weniger real oder weniger objektiv. Man kann sich nicht dafur entscheiden, an Geld zu glauben oder nicht! Unser tägliches Überleben ist abhängig davon, ob wir genügend davon besitzen.
Aber was ist Geld dann, und wie ist es entstanden, und hat es einen objektiven Wert?
Die stabile Produktion für einen Überschuss über die direkt überlebensnotwendigen Dinge hinaus legte die materielle Basis für einen systematischen Handel. Mit der Weiterentwicklung der Produktivkräfte wuchs dieser Handel weiter und so wurde es notwendig, den Wert der zu handelnden Waren zu objektivieren. Diese Notwendigkeit drückte sich in der Entstehung des Geldes aus. Geld entstand, indem eine reale Ware (letztendlich oft Edelmetalle) zum Mittel des Austauschs wurde. Das heisst, dass hinter dem Geld unsere reale Interaktion mit der Natur steckt, nämlich dass wir Waren produzieren und sie dann austauschen.
Und so ist es am Ende keine spirituelle Angelegenheit, sondern ein Ausdruck von realen Beziehungen in unserer Gesellschaft, nämlich der Beziehung von Arbeit und von Waren zueinander. Dass die einen viel Geld haben und die anderen wenig, liegt nicht an einer mysteriösen Eigenschaft des Geldes, sondern spiegelt wider, dass es in der Gesellschaft Klassen gibt – die Kapitalisten besitzen die Produktionsmittel (Firmen, Land, Maschinen …) und können daher das Geld akkumulieren. Die ausgebeuteten Klassen, heute v.a. die Arbeiterklasse, haben keine Kontrolle über die Produktion und damit auch weniger Zugang zu Geld.
Geld ist nicht die Wurzel, sondern das Resultat der Wirtschaftstätigkeit des Menschen. Geld „abschaffen“, „ändern“ oder „anders interpretieren“ (wie z.B. Kryptowährungen) wird das Wirtschaftssystem nicht grundlegend ändern. Umgekehrt: Es muss die wirtschaftliche Produktion geändert werden, um die Rolle des Geldes zu ändern – und damit es schliesslich in einer kommunistischen Gesellschaft verschwinden kann.
Das Aufkommen der dritten vom Autor definierten Revolution, der sogenannten „wissenschaftlichen Revolution“, die mit der Renaissance und dem aufstrebenden Kapitalismus zusammenfällt, erklärt sich der Autor so, dass die Menschen in Europa (mal wieder) plötzlich das Universum verstehen wollten und daher zu forschen begannen. Die Bourgeoisie nennt er hierbei „wahre Gläubige der kapitalistischen Religion“, die (mal wieder) einfach so irgendwann begonnen hätten, kapitalistisch zu denken, während Chinesen und Perser ganz anders dachten und nicht Schritt halten konnten.
Abermals wird die Geschichte als ein Produkt der menschlichen Ideen dargestellt, anstatt die neuen Ideen der Renaissance aus den materiellen Produktionsverhältnissen der Menschen zu erklären. Dabei entpuppt sich Harari im weiteren Verlauf als wahrer Fanboy des Kapitalismus: Durch das Aufkommen des Fortschritts- und Wissenschaftsglaubens sei eine Welt geschaffen worden, in der uns ein unendlich weiterwachsender Kuchen zur Verfügung stehe: „Wir können neue Güter produzieren, ohne die Produktion der alten zu beeinträchtigen. Wir könnten eine Bäckerei eröffnen, die sich auf Sachertorte und Croissants spezialisiert, ohne dass deshalb die Vollkornbäcker pleitegehen. Jeder entwickelt einen anderen Geschmack und isst einfach mehr (!). Ich kann reich werden, ohne dass Sie deshalb arm werden, ich kann Übergewicht haben, ohne dass Sie verhungern. Der globale Kuchen kann einfach grösser werden.”
Weiters zeichnen sich Harari zufolge die „Gurus des Kapitalismus“ dadurch aus, dass sie die Welt durch ihre Ethik, ihren Arbeitsfleiss und ihre Investitionstätigkeiten zu einem besseren und faireren Ort machen.
Schauen wir uns diese Sammlung an mehr als realitätsfernen Aussagen einmal an: Prinzipiell hat Harari Recht, wenn er feststellt, dass Kapitalisten vielfältige Investitionen tätigen, doch tun sie dies primär nicht aus reiner Wohltätigkeit oder „neu geborener Ethik“ heraus, oder weil sie den herrschenden Klassen vergangener Epochen moralisch überlegen wären, sondern um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Ihre übertriebene Zurschaustellung und Verschwendung von Reichtum tritt vor allem in solchen Zeiten zu Tage, in denen sich keine Investitionsmöglichkeiten in der Realwirtschaft mehr finden und in denen das vorherrschende Gesellschaftssystem seinen Zenit überschritten hat. Dass dies in unseren Zeiten der Fall ist, bedarf wohl keiner Erklärung – hier genügt ein kurzer Hinweis auf die sinnlosen privaten Weltraumausflüge so mancher Milliardäre.
Abgesehen davon zeigen uns alle Statistiken zur Vermögensverteilung wieder aufs Neue, wie sehr die Schere zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft auseinandergeht. Die Idee, dass hier jeder etwas abbekommt, entbehrt jeder Grundlage. Denn tatsächlich basiert der Reichtum der Kapitalisten genau auf der Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft. Das ist kein Kollateralschaden im System, sondern das Prinzip, wie der Kapitalismus funktioniert.
Hararis Thesen scheinen umso absurder, da das Versagen des Kapitalismus noch nie deutlicher zu sehen war als heute. Zu behaupten, dass beispielsweise Lateinamerika ein friedliches (20.) Jahrhundert hinter sich hätte, da keine grossen kriegerischen Auseinandersetzungen stattgefunden haben, zeugt von Geschichtsrevisionismus und menschenverachtendem Zynismus. In etwa so, wie die Behauptung, dass dem Vereinigten Königreich Dank für den friedlichen Rückzug aus seinen Kolonien zu zollen wäre (!), oder dass in heutigen Zeiten allen Menschen bei Katastrophen durch einen Sozialstaat oder internationale Hilfsorganisationen Rettung zur Verfügung stünde (!).
Des Autors Überzeugung, dass keine andere, bessere Welt möglich wäre, dass die Welt nur noch vom Kapitalismus zu regieren sei, dass wir ohnehin in Zeiten leben, in denen der Frieden so stabil wie noch nie zuvor wäre (unter anderem deshalb, weil uns „friedliche Eliten“ regieren würden) ist so offensichtlich falsch, dass einem die Worte fehlen.
Und doch folgt dieser realitätsleugnende Glaube logisch aus seiner Geschichtsbetrachtung. Ihm fehlt jegliches Verständnis für Fortschritt(spotentiale), geschweige denn für die Widersprüchlichkeit von Entwicklungen.
Der Kapitalismus stellte zwar in seinen Anfangstagen einen Fortschritt für die Entwicklung der Produktivkräfte dar, aber mittlerweile hat er seinen Höhepunkt überschritten und eine Welt geschaffen, die er nicht mehr selbst weiterbringen kann. Der Kapitalismus hat seine geschichtliche Rolle gespielt und muss nun von der Bühne abtreten. Oder wie Marx es formulierte:
„Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoss der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“
Doch wie stellt sich Harari dann die Zukunft vor? Welches Schicksal sieht er dem Homo sapiens vorgezeichnet? Darüber können wir leider nicht viel herausfinden: „Die Eigenschaften der modernen Gesellschaft definieren zu wollen, ist daher so, als wolle man die Farbe eines Chamäleons bestimmen“. Weiter sagt er zwar, wir müssen „die moderne Geschichte optimistisch sehen“, zeichnet aber zugleich ein pessimistisches, dystopisches Zukunftsszenario, indem er uns vor Künstlicher Intelligenz, Bionik etc. warnt: „Mit jeder neuen Erfindung entfernen wir uns weiter vom Garten Eden…“ und überromantisiert im gleichen Atemzug das Leben vergangener Epochen: „Mittelalterliche Bauern sind auf der Glücksskala sicher weit oben“ oder „Nichts im angenehmen Leben der Mittelschicht…annähernd so erhebend…wie die Mammutjagd…“, während der Mensch im heutigen Zeitalter so „unzufrieden sei wie je“ und „nicht wisse wohin“.
Der Autor spürt wohl irgendwie, dass wir in einer Epoche der grossen Umbrüche leben, wenn er schreibt:
„Vielleicht können sich Pessimisten und Optimisten darauf einigen, dass sich unsere Epoche durch eine einmalige Dynamik auszeichnet. Wir leben an der Schwelle zwischen Himmel und Hölle und springen nervös zwischen der Pforte des einen und dem Vorraum der anderen hin und her.“
Doch einen Ausweg aus seiner eigenen Unsicherheit und Verwirrung hat er nicht und überlässt unser Schicksal – dem Zufall:
„Die Geschichte hat sich noch nicht für ein Ziel entschieden – welchen Weg sie einschlagen wird, könnte noch immer von einer Vielzahl an Zufällen abhängen.“
In der Mitte seines Geschichts(!)buches gibt Harari dann, seines Zeichens wohlgemerkt Historiker, auch selbst zu, dass sich seiner Meinung nach Geschichte nur erzählen, aber nie erklären liesse. Hararis idealistische Geschichtsauffassung ist nichts Neues, doch führt dieses Eingeständnis seine Arbeit eigentlich ad absurdum. Womit er aber Recht hat, ist, dass ein Verständnis der Geschichte mit seinem Ansatz tatsächlich nicht möglich ist. Seines Erachtens nach basieren alle Geschehnisse auf den zufällig entstandenen Ideen der Menschen. Diese Zufälligkeit führt zwangsläufig zu dem Glauben, dass auch immer alles im Bereich des Möglichen gewesen wäre, dass in jeder Epoche alles hätte passieren können, unabhängig von der äusseren Welt – nur, erklären, verstehen oder voraussagen könne man diese Vorgänge jedenfalls nicht.
MarxistInnen hingegen erkennen an, dass die Geschichte gewissen Gesetzmässigkeiten folgt. Kann man diese erkennen, kann man auch bewusst in die Geschehnisse eingreifen und sie verändern. Hararis Zugang hingegen ist perfekt für das geeignet, was er bezweckt: Den Status quo zu glorifizieren und zu akzeptieren. So bringt der bekennende Buddhist auch in seinem Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ folgendes buddhistische Gleichnis: „Auf die Frage der Leute was sie denn tun sollen, soll Buddha gesagt haben: ‚Tut nichts, absolut gar nichts‘.“ Weiter solle man das Streben nach äusseren Errungenschaften aufgeben und ausserdem sei jeder Sinn, den wir unserem Leben geben, eine reine Illusion. In Interviews spricht Harari zudem gerne davon, dass die Meditation und Introspektion zu den wichtigsten Fertigkeiten in unseren Zeiten zählen. Daher ist es auch kein Zufall, dass die grössten Profiteure unseres Systems zu seinen grössten Fans zählen.
So lässt er in all seinen Darstellungen den Menschen als passiven Zuseher seiner eigenen Geschichte zurück, der seinen Genen, Zufällen und Mythen schutzlos ausgeliefert ist. Wie schon bisher schreitet dort, wo er die Gesellschaft nicht versteht, die mystische, göttliche Natur ein: Die Geschichte des Homo sapiens neige sich dem Ende zu, wir stünden kurz davor Gott zu werden und müssten entscheiden, was wir werden wollen, eine einzelne Mutation könne uns eine neue Form des Bewusstseins verschaffen, die uns in ein neues Wesen verwandeln könne („Ich kann euch versichern, dass es in zweihundert Jahren keine Israelis und keinen Homo sapiens mehr geben wird – sondern etwas anderes.“ New Yorker, 17.2.20).
Wir können hingegen mit Sicherheit sagen, dass die bürgerliche Geschichtsschreibung heute nichts als den Kapitalismus vergötternden, esoterischen Wirrwarr hervorbringt. Diese manisch-depressiven Kalenderspruch-Monografien lehnen wir dankend ab.
Als MarxistInnen haben wir ein klares Verständnis von der Gesellschaft, wieso sie in einer Krise ist und wie diese gelöst werden kann. Mit diesem Verständnis können wir bewusst in die Welt eingreifen und sie verändern: Indem wir dafür kämpfen, dass die Arbeiterklasse den Kapitalismus stürzt und den Gang der Geschichte so in die eigenen Hände nehmen kann.
Miriam Van den Nest
Nordamerika — von Alan Woods, marxist.com — 27. 11. 2024
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024