Die SVP ging aus den turbulenten 1990er Jahren als wichtigste Partei der Schweizer Bourgeoisie hervor. Seit ihrem historischen Sieg mit der Masseneinwanderungsinitiative 2014 ist die SVP immer weniger fähig, dieser Rolle gerecht zu werden. Damit geht in der Schweizer Politik ein Zyklus zu Ende.
Die SVP hat ihren Zenit überschritten. Die Blocher-Partei hat die Schweizer Politik in den letzten drei Jahrzehnten geprägt. Die herbe Wahlschlappe im Kanton Zürich im März (9 verlorene Sitze von 54) ist nicht nur symptomatisch dafür, dass es der SVP immer weniger gelingt, WählerInnen hinter sich zu scharen. Sie offenbarte auch den inneren Konflikt zwischen einer kleinbürgerlichen Parteibasis und der Finanzelite von der Zürcher Goldküste, die national die Linie vorgibt: Nach der Niederlage wurde die gesamte Parteileitung der Kantonalsektion von Blocher zum Rücktritt gedrängt.
Bauern wie der moderatere Ex-Präsident Langhart haben wenig gemein mit den Hardlinern des Finanzkapitals: «Die Parteimitglieder von der Goldküste und die Bauern vom Weinland treffen sich im wirklichen Leben gar nie», meinte er nach seinem Rücktritt – und übte sogleich harte Kritik an der nationalen Parteileitung und deren Politikstil. «Lächerlich» mache sich die SVP beispielsweise mit der aktuellen Hetzkampagne von Roger Köppel und Co. gegen eine rotgrüne «Umweltdiktatur». Immerhin: Die Bauern spüren den Klimawandel unmittelbarer als alle anderen. Die Absurdität der SVP-Propaganda erreicht ein derartiges Ausmass, dass sich breitere Teile der SVP-Basis abgestossen fühlen.
Die SVP hatte über Jahrzehnte eine untergeordnete Rolle im bürgerlichen Lager gespielt. Erst seit den frühen 1990er Jahren wuchs unter der Führung von Milliardär Christoph Blocher die Bedeutung der Partei. Von der Partei der Bauern und GewerblerInnen wandelte sie sich zur Interessensvertretung einer kleinen Finanzelite und teilweise der Exportindustrie. Sie setzte auf aggressive nationalistische und ausländerfeindliche Politik und rutschte weiter nach rechts.
Zwar hat die SVP bei der Landwirtschaft immer eine Ausnahme gemacht und sich im krassen Gegensatz zu ihrer übrigen Wirtschaftspolitik für die Ausschaltung des Marktes zum Schutz der Bauern eingesetzt. Mit diesem Zugeständnis sollte auch die traditionelle Bauernbasis bei Stange gehalten werden. Doch dieser Widerspruch zwischen den kleinbürgerlichen Schichten und den Kapitalinteressen der Börsenspekulanten und Grosskonzerne kann nicht ewig überspielt werden. Eben dies wurde mit der Episode der Zürcher Wahlen im Frühling deutlich. Doch die Gründe für die Krise der SVP liegen deutlich tiefer. Gerade das, was die SVP zur führenden Partei gemacht hat, untergräbt nun ihren eigenen Erfolg.
Der Aufstieg der «neuen» SVP fällt in ein Jahrzehnt der Krise und des Umbruchs in der Schweiz. 1992 stellte sich die SVP erfolgreich gegen den Beitritt zum EWR, der als Vorstufe zum Beitritt zur EU galt. Sie ging damit insbesondere in Opposition zur historischen Partei der Schweizer Bourgeoisie: der FDP.
FDP wie auch CVP sahen damals in der europäischen Integration den einzigen Weg, international den Anschluss nicht zu verlieren. Die SVP stellte sich unter nationalistischen Schlagworten des Verlusts der Unabhängigkeit vordergründig gegen die aussenpolitische Öffnung. Geschickt spielte sie sich als Oppositionspartei gegen die anderen Parteien auf. So half sie, den Schweizer Finanzplatz mit seinem Bankgeheimnis vor der europäischen Konkurrenz zu schützen, ohne in den anderen Bereichen jemals die Politik der Öffnung der Märkte, der Liberalisierungen und der Sparpolitik zu gefährden, die doch ganz dem neoliberalen Geist der EU-Verträge von Maastricht entsprachen.
Das Vakuum an linken Antworten auf die Krise wurde von der SVP teilweise gefüllt.
Gleichzeitig gelang es der SVP, WählerInnen der ArbeiterInnenklasse zu gewinnen, die sich bereits in den späten 1970ern von der Sozialdemokratie abgewandt hatten. In der Wirtschaftskrise der 1990er stieg die Arbeitslosigkeit und damit auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Und mit dem Jugoslawienkrieg gingen auch die Flüchtlingszahlen hoch. Die Sozialdemokratie war völlig unfähig, auf die Krise mit Massnahmen zur Verteidigung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu reagieren. Das Vakuum an linken Antworten auf die Krise wurde von der SVP teilweise gefüllt. Sie machte die Immigration für den Druck auf die Schweizer ArbeiterInnen verantwortlich. Dass ihr dies gelang ist ein offensichtliches Resultat des Versagens der Sozialdemokratie.
Die SVP ging als Siegerin aus den Konflikten innerhalb der Fraktionen der Schweizer Bourgeoisie in den 1990er hervor. Sie kam als unverbrauchte Kraft und wurde zur veritablen Partei des Finanz- und Grosskapitals. 2003 wurde die SVP zur wählerstärksten Partei und erhielt mit Blocher einen zweiten Bundesrat. Damit pendelte sich ein gewisses Gleichgewicht unter der Führung der SVP ein, die die FDP als wichtigste Partei der Schweizer Bourgeoisie ablöste. Sie hatte es geschafft, einer neoliberalen Wirtschaftspolitik eine breitere Basis zu verschaffen, indem sie gerade nicht die neoliberale Wirtschaftspolitik in den Vordergrund rückte.
Seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise von 2008 sind mehr als zehn Jahre vergangen. Der Verlauf dieser Jahre der andauernden Krise lassen sich punkto SVP in zwei Hälften teilen: In den ersten Jahren konnte die SVP von der Krise profitieren, in der zweiten Hälfte hat sich ihre Politik merkbar erschöpft.
Mit dem Ausbruch der Krise 2008 akzentuierte sich auch in der Schweiz die Polarisierung des politischen Panoramas. Die SVP regierte zwar mit, verstärkte aber ihre Rolle als scheinbare Opposition. Im permanenten Wahlkampfmodus dominierte sie die Schweiz mit Initiativen. Indem sie sich als Vertreterin des «Volkes» gegen die politische Klasse in Bern aufspielte, nahm sie den Unmut in der Bevölkerung auf. Die Initiativen bezweckten, durch reisserische Propaganda gegen AusländerInnen und «Sozialschmarotzer» Wählerstimmen zu gewinnen.
In einer Zeit der Unsicherheit nutzte sie Ängste und münzte sie in den ersten Krisenjahren in ihren eigenen Auftrieb um. Doch als grösste Nationalratsfraktion, mit Bundesräten und einer soliden Verankerung in allen kantonalen Regierungen sowie der Verwaltung, wurde es schwierig, ihre Glaubwürdigkeit als «Opposition» aufrechtzuerhalten. Und sie konnte vor allem mit ihrer auf diese Weise gewonnenen Stärke nichts anfangen. Sie hat keinerlei Lösungen anzubieten – weder der Schweizer Bourgeoisie und erst recht nicht der ArbeiterInnenklasse.
Das ist der Hauptgrund, weswegen die SVP in den letzten Jahren an eine Grenze gestossen ist. Von Minarett-Verboten und Schäfli-Plakaten können sich die Lohnabhängigen nichts kaufen. Und dem Grosskapital half sie zwar, ihren arbeiterfeindlichen Sparkurs und Soziallabbau in aller Härte durchzupreschen und damit die ArbeiterInnenklasse für die Krise zahlen zu lassen. Aber auf die spezifischen Probleme der Schweizer Bourgeoisie hat auch die SVP keine Antworten: Das Schweizer Bankgeheimnis konnte sie nicht retten und das ohnehin schon gespannte Verhältnis zur EU hat sie im Gegenteil nur verschärft.
Die hauchdünne Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) im Februar 2014 war ein Wendepunkt. Abgesehen von den Nationalratswahlen 2015 konnte die SVP seither keine nennenswerten Erfolge verzeichnen.
Mit der MEI hat die SVP die Schweizer Bourgeoisie noch weiter in die Sackgasse manövriert. Aber auch sich selbst: Die SVP hatte selbst kaum ein Interesse an der Annahme der MEI. Auch sie beabsichtigte an diesem Punkt nicht, die Personenfreizügigkeit und damit die Bilateralen Verträge mit der EU aufs Spiel setzen. Immerhin bedeuten diese fürs Schweizer Kapital den wichtigen Zugang zu Arbeitskräften und zum Absatzmarkt Europa.
Die SVP ist heute immer weniger fähig, ihre Rolle als Rammbock zur Durchsetzung der Interessen der Schweizer Bourgeoisie zu spielen. Das liegt auch daran, dass sich FDP und CVP im Verlauf der EU-Krise nach rechts angepasst haben. Da ein EU-Beitritt bei allen vom Tisch ist, verliert die SVP aber auch eine Möglichkeit, sich von den anderen bürgerlichen Parteien abzuheben. Gleichzeitig hat die FDP so ihren Niedergang gestoppt und macht der SVP den Platz als verlässliches Sprachrohr für das Schweizer Kapital wieder streitig.
Dazu kommt, dass sich auch die Interessen des Finanzplatzes verändert haben, den die SVP mit ihrer bremsenden Haltung in der europäischen Integration zuvor noch verteidigte. Mit dem Fall des Bankgeheimnisses ist für den Finanzsektor auch die Notwendigkeit weggefallen, den Finanzplatz Schweiz abzuschotten. Mittlerweile werden Finanzdienstleistungsabkommen mit der EU gar zu einer Notwendigkeit, um besseren Zugang zu europäischen Kunden zu erhalten und wettbewerbsfähig zu bleiben. Das erfordert aber mindestens den Ausbau des bilateralen Weges, gegen den sich die SVP vehement stellt.
Die SVP vertritt die Interessen einer reichen Wirtschaftselite. Durch ihre fremdenfeindliche Rhetorik konnte sie die Spaltung der Arbeiterklasse entlang nationaler Grenzen und die damit einhergehende Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt aufnehmen. So gelang es ihr, Teile der ArbeiterInnenklasse als Wählerbasis zu gewinnen, indem sie den unvereinbaren Interessengegensatz zwischen KapitalistInnen und ArbeiterInnen durch einen aggressiv propagierten Gegensatz zwischen InländerInnen und AusländerInnen scheinbar überspielte. Wir haben immer betont, dass dieser Spagat nicht auf Dauer gelingen kann.
Du kannst nicht im Interesse von Finanzkapital und Grosskonzernen permanent die ArbeiterInnen angreifen, für Lohnsenkungen, höheres Rentenalter, Sozialabbau und tiefere Steuern für die Bonzen kämpfen, ohne deine ArbeiterInnenbasis zu brüskieren. Das hat das deutliche Nein zur Unternehmenssteuerreform III im Februar 2017 klar gezeigt. Die SVP-Basis stellte sich mehrheitlich gegen dieses Paket von Steuergeschenken für die Grosskonzerne, das von der SVP mitgeschnürt wurde.
Die SVP-Demagogie droht sich gegen die Interessen der Schweizer Bourgeoisie zu verselbstständigen.
Umgekehrt präsentiert sich die Sache aber auch von bürgerlichem Standpunkt aus widersprüchlich. Mittlerweile droht sich die SVP-Demagogie gegen die Interessen der Schweizer Bourgeoisie zu verselbständigen.
Mit der Absicht, im veränderten Klima nach 2014 an alte Wahlerfolge anknüpfen zu können, versuchte es die SVP mit einer Radikalisierung ihres Anti-EU-Kurses. Doch mit der Selbstbestimmungsinitiative, den Diskussionen rund um das Rahmenabkommen und der kommenden Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit hat sich die SVP in den letzten drei Jahren auf Konfrontationskurs mit den Unternehmerverbänden begeben. Die Entfremdung von economiesuisse und Gewerbeverband gegenüber der SVP hat einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Die SVP hatte immer wieder gegen Europa gehetzt, um Druck auf den Lohnschutz durch die flankierenden Massnahmen zu machen. Das mag im Interesse vieler Unternehmen gewesen sein. Doch indem sie mit der Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit die gesamten Bilateralen Verträge mit der EU aufs Spiel setzt, bringt sich die SVP notwendigerweise in Reibung mit der mächtigen Exportindustrie und deren Verbände wie Swissmem. «Wir konnten bisher stets darauf zählen, dass die SVP ein verlässlicher Partner in der Steuer- und Sozialpolitik ist», sagt der Präsident des Arbeitgeberverbands Valentin Vogt. Mittlerweile habe die Partei jedoch «an Berechenbarkeit eingebüsst».
Die SVP befindet sich keineswegs im freien Fall. Solange die Linke unfähig ist, kompromisslos die Interessen der ArbeiterInnen zu verteidigen, kann auch die Demagogie der SVP bei unzufriedenen Schichten wieder neuen Anklang finden. Sie bleibt auch weiterhin die stärkste Partei und eine wichtige Stütze der herrschenden Klasse. Aber mit der Erschöpfung des SVP-Erfolges in den letzten Jahren geht ein Zyklus zu Ende, in dem die SVP die Führung über die Fraktionen der Schweizer Bourgeoisie innehatte.
Einige bürgerliche Kommentatoren freuen sich über den Bedeutungsverlust der SVP. Doch die Widersprüche der SVP sind die Widersprüche der bürgerlichen Herrschaftsausübung. Niemand im bürgerlichen Lager hat eine Lösung für die Krise und den schleichenden Niedergang des Schweizer Kapitalismus und die Europa-Sackgasse. Dass die SVP in dieser Situation stärker gegen wichtige Kapitalinteressen agiert, spitzt nur die Spaltung in der herrschenden Klasse zu und untergräbt ihre Macht.
Die Probleme der Bourgeoisie sollten eigentlich gute Nachrichten für die Linke sein. Aber statt diese Situation zu nutzen, trauert SP-Fraktionschef Roger Nordmann im Einklang mit den Liberalen einer «verlorenen Legislatur» nach, weil sich die bürgerliche Mehrheit im Parlament in den letzten vier Jahren selbst blockiert habe: «Für das Land ist diese politische Lähmung besorgniserregend», lamentiert er. Aber statt staatsmännisch vom Standpunkt des «Landes» aus zu denken – ist dieses Land etwa nicht in Klassen gespalten? – und zu versuchen, auf Biegen und Brechen die unlösbaren Probleme der Schweizer Bourgeoisie zu lösen, muss die Sozialdemokratie in die Fundamentalopposition gehen.
Mit einer sozialen Politik, die auch gegen den Willen der Bourgeoisie die Arbeits- und Lebensbedingungen verteidigt, können die Schichten der ArbeiterInnenklasse zurückgewonnen werden, die in den 1990er Jahren zur SVP übergegangen sind. Kümmern wir uns also nicht um die Rettung des bürgerlichen Staates in der Krise. Die Organisationen der Arbeiterklasse müssen in die Offensive gehen. Das erfordert ein entschiedenes Programm gegen jede Form von Sparmassnahmen. Fordern wir die Verstaatlichung der Banken und Grosskonzerne! Sie gehören unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse! Das ist für die Lohnabhängigen der einzige Weg vorwärts.
Martin Kohler
JUSO Stadt Bern
Foto: CC BY 2.0 Flickr: Giò
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