Seit Monaten werden wir im Westen von der gleichen Propaganda beschallt: Der Westen sei der Freund der Zivilbevölkerung und Hüter der Demokratie gegen autoritäre Regimes wie Russland. Ein Blick auf die Geschichte der Ukraine seit den 1990er zeigt: Das ist pure Heuchelei.
In der Ukraine herrscht Krieg. Seit Monaten hören wir in der Schweiz wie in allen westlichen Ländern die gleiche Propaganda. Die bürgerlichen Medien stellen es als die grösste Selbstverständlichkeit der Welt dar: Der Westen gibt sich als Hüter der Demokratie, welcher der ukrainischen Zivilbevölkerung gegen den despotischen russischen Angreifer zu Hilfe eile.
Aber hinter den schönen Worten versteckt sich nur ihre eigene Kriegstreiberei zur Verteidigung ihrer eigenen imperialistischen Interessen. Die Wahrheit – dass es sich um einen Konflikt zwischen verschiedenen imperialistischen Mächten handelt und keine der beiden Seiten auch nur annähernd fortschrittlich ist – darf es in der «öffentlichen Meinung» als Option gar nicht geben. Wer sich gegen Sanktionen oder Waffenlieferungen ausspricht, wird als «Putinversteher» gebrandmarkt.
Ein Blick auf die Geschichte der Ukraine seit den 1990er Jahren zeigt deutlich, wie heuchlerisch und verlogen diese Propaganda ist. Den westlichen Regierungen geht es nicht um das Leben der ukrainischen Bevölkerung, damals nicht und heute nicht.
Vor etwas mehr als 30 Jahren zerfiel die Sowjetunion. Der sowjetische Arbeiterstaat mit seiner Planwirtschaft war durch den Stalinismus völlig bürokratisch degeneriert. Er war brutal, ineffizient und korrupt und konnte so nicht mehr weiterexistieren. Doch die Restauration des Kapitalismus in den 1990er-Jahren bedeutete für die arbeitenden Massen nicht weniger als einen Rückfall in die Barbarei und brutalstes Elend.
Die Ukraine wurde in den Kollaps der Wirtschaft gestürzt, die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse wurden zerstört: Von 1990 bis 2000 sank das BIP um 62 Prozent. Es herrschte eine Hyperinflation von über 4700 Prozent im Jahr 1992. Das heisst: 100 CHF am Montag waren am Mittwoch bereits weniger als 1 CHF wert. Daneben sank die Lebenserwartung um 3 Jahre. Im Jahr 1995 lebten über die Hälfte aller UkrainerInnen in Armut. Die Ukraine wurde zum ärmsten Land Europas.
Das alles geschah unter dem jubelnden Beifall der westlichen Kapitalisten, die an vorderster Front der kapitalistischen Konterrevolution standen. Unterstützt und finanziert vom US-Imperialismus führten die Bürokraten des ehemaligen Sowjetstaates ihren Raubzug am Staatseigentum durch. Sie verwandelten sich in die neue Klasse von superreichen kapitalistischen Oligarchen, die seither in der Ukraine wie in Russland die politische Macht unter sich teilten.
Den Preis für die Restauration des Kapitalismus waren sie locker bereit in Kauf zu nehmen. Sie mussten ihn ja nicht bezahlen. Während sie ihre Märkte und Einflussgebiete ausdehnen konnten, bezahlte die Arbeiterklasse der ehemaligen Sowjetunion mit härtesten Angriffen auf ihr Leben.
Mit «Demokratie» hat das nicht das Geringste zu tun. Errichtet wurde vielmehr die Diktatur des Kapitals. Für die Arbeiterklasse hätte es nur einen positiven Ausweg aus der bürokratisch degenerierten Planwirtschaft der Sowjetunion gegeben: Nicht die Restauration des Kapitalismus, sondern der Sturz der korrupten stalinistischen Bürokratie und die Einführung einer Arbeiterdemokratie auf der Grundlage der bestehenden Planwirtschaft. Statt die ganzen sowjetischen gesellschaftlichen Reichtümer einigen wenigen Oligarchen zu überlassen, hätten sie unter die demokratische Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung gestellt werden müssen.
So entstand aus den Trümmern der Planwirtschaft das brutale Regime eines Mafia-Kapitalismus, der seinem Wesen nach völlig instabil war. Verschiedene Gangs von Oligarchen kontrollieren seither die Wirtschaft und damit das politische System. Der westliche Imperialismus nutze diese Instabilität, um seine Einflusssphäre auf die Ukraine auszudehnen und investierte über die Jahre Milliarden an Dollars, um seine Interessen in der Ukraine durchzusetzen.
Einige der Oligarchen in der Ukraine sahen in Allianzen mit dem Westen die Möglichkeit, ihre eigenen Interessen durchzubringen. Andere wiederum richteten sich mit der gleichen Absicht nach Russland aus. Dabei ging es beiden Gangs nur um eines: Profitmaximierung und die Erhaltung ihrer Macht. Es folgte ein korruptes, autoritäres bürgerliches Regime auf das andere, mal mit Ausrichtung nach Westen und mal nach Osten. Die Leidtragenden waren in jedem Fall die Arbeiterklasse.
Ein Schlüsselmoment in diesem Kampf zwischen dem westlichen und dem russischen Imperialismus um die Kontrolle der Ukraine war die Euromaidan-Bewegung 2014. Der damalige Präsident Janukowytsch hatte zuvor eine brutale Politik von Privatisierung und Sparmassnahmen durchgeführt, ganz im Sinne der Programme des IWF, einer der Hauptinstitutionen des westlichen Imperialismus. Ende 2013 fasste er kurzfristig den Beschluss, ein Assoziationsabkommen mit der EU platzen zu lassen, da er von Russland einen besseren Deal bekommen konnte.
Das provozierte die Euromaidan-Bewegung. Sie war eine bürgerliche Protestbewegung, die sich nach Westen ausrichten wollte und vom westlichen Imperialismus unterstützt wurde. Gestützt auf Neonazi-Gruppen stürzte die Bewegung die Regierung.
Die neue Maidan-Regierung wurde vom US-Imperialismus zusammengestellt, um ihre Interessen zu vertreten. Sie pochte auf einen NATO- und EU-Beitritt und prügelte das IWF-Schock-Programm des westlichen Imperialismus durch: Kürzungen der Subventionen für Heizkosten, Massenentlastungen von öffentlichen Bediensteten, das Einfrieren von Löhnen und Pensionen, etc. Das war auf ganzer Linie ein Frontalangriff auf die Arbeiterklasse und ihre Lebensbedingungen. Dadurch halbierte sich das BIP in den kommenden zwei Jahren, die Armutsrate wurde mehr als verdoppelt und die Inflation schoss von wenigen Prozentpunkten auf fast 50 %. Nochmals: Diese Leute – die westlichen Imperialisten, die ukrainischen Oligarchen und ihre Regierung – interessieren sich nicht für das Wohl der Menschen in der Ukraine. Sie verteidigen nur ihre eigenen kapitalistischen Interessen.
Diese Bewegung zur Verteidigung der westlichen Interessen stützte sich direkt auf rechtsextreme Elemente und schürte anti-russischen Nationalismus. Die Maidan-Regierung ergriff verschiedene diskriminierende Massnahmen gegen die russischsprachige Bevölkerung, die vor allem im Süden und Osten des Landes lebte.
Diese Angriffe auf den Lebensstandard und die Rechte der russischsprachigen Minderheit provozierten in diesen Regionen eine Gegenbewegung gegen die Maidan-Regierung, die zunächst als Bewegung für die Unabhängigkeit und demokratische und soziale Rechte startete. Der Versuch der Regierung, sie niederzuschlagen, artete schliesslich im Bürgerkrieg aus, der seit 2014 in der Region des Donbass wütete.
Seit 2014 wurde die Ukraine von einer Serie von reaktionären Oligarchen-Regierungen regiert, die sich dem westlichen Imperialismus verpflichteten. So auch die Regierung Selenski, die seit 2019 brutale Angriffe auf die Arbeiterklasse durchführte und die Kriegstreiberei gegen den russischsprachigen Teil der Bevölkerung weiter befeuerte.
Es ist eine Lüge, dass der Krieg in der Ukraine 2022 mit der Invasion durch das Putin-Regime begann. Das russische Oligarchen-Regime verteidigt in verbrecherischer Weise nur seine eigenen imperialistischen Interessen, so wie die westlichen Imperialisten davor.
Der Krieg durch die russische Intervention ist eine menschliche Tragödie. Aber sie muss gesehen werden als eine weitere Eskalationsstufe im imperialistischen Konflikt um die Ukraine, der das Terrain dafür lange vorbereitet hat.
Diese gesamte Geschichte zeigt, dass die westlichen Regierungen und Kapitalisten keine fortschrittliche Kraft sind. Sie sind mitverantwortlich für diese Situation und haben keinerlei Legitimität, über das Leid der Menschen zu klagen.
Egal wie der Krieg endet, auf kapitalistischer Basis sind die Folgen davon komplett reaktionär. Die Ukraine ist zerstört und der Westen hat die Ukraine bereits zu einer Schuldenkolonie degradiert: US-Hilfe über 40 Milliarden Dollar, EU-Hilfen über 10 Milliarden Euro, rund ⅔ der laufenden Staatsausgaben der Ukraine werden von westlichen Kreditgebern bestritten. Ein Kriegsende wird keinen Frieden bedeuten: Die Frage der russisch besetzten Gebiete wird nicht gelöst sei, sondern in eine Situation von jahrelangem kalt-heissen Konflikt übergehen. Die Ukraine wird ein Marionetten-Staat und die Arena des Zusammenpralls zwischen imperialistischen Kräften bleiben.
Dafür wird die Arbeiterklasse so lange bezahlen, bis sie in den verschiedenen Ländern – in der Ukraine, in Russland, hier im Westen – «ihre» kapitalistischen Regierungen stürzt. Die Arbeiterklasse hat nichts zu gewinnen in diesem Krieg. Und nur sie kann, mit vereinten Kräften, diesem Schrecken ein Ende setzen.
Tobias Siedler, Marxistischer Verein Unibe
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