Draussen ist es noch dunkel, als ich beim Zähneputzen den laut pfeifenden Demonstrationszug streikender Bauarbeiter von der nahe gelegenen Baustelle des Polizei- und Justizzentrums höre. Sie sind auf dem Weg zum Helvetiaplatz, um den Baumeistern zu zeigen, dass sie genug haben von den Angriffen auf ihre Arbeitsbedingungen.
Kurz später am Helvetiaplatz sind erst mal nur Marktstände zu sehen: Der Wochenmarkt verunmöglicht eine Besammlung auf dem Platz. Von dem schlechten Timing lassen sich die anwesenden Bauarbeiter aber nicht stören und besammeln sich stattdessen auf der angrenzenden Strasse. Während die Gewerkschaft Unia Kaffee und Streik-Accessoires verteilt, kommen immer mehr Busse an. Langsam füllt sich die Strasse und wir werden informiert, dass mehrere grosse Baustellen im Raum Zürich stillstehen.
Während wir auf die nächsten Anweisungen warten, unterhalten wir uns mit den anwesenden Bauarbeitern. Warum sie denn heute streiken, wollen wir wissen. Wir kriegen unterschiedliche Antworten zu hören. Für den Lehrling Basil (16) ist es der erste Streik. Es habe ihn Wunder genommen, wie das laufe. Ihm selber ginge es zwar gut, aber er merke, das irgendwas gewaltig schief läuft. Ela (30) kann es schon genauer benennen: Die Arbeitsbedingungen auf dem Bau sind insgesamt schlecht, besonders für Temporärarbeiter und diese seien auf seiner Baustelle in der Mehrheit. Auch er ist temporär angestellt: «Ich weiss nie, ob ich nächsten Monat noch Arbeit habe.»
Bei der Frage des Rentenalters teilen sich die Meinungen in Alt und Jung: Die jüngeren Arbeiter sehen sich davon noch nicht betroffen. Amanda (21) erklärt, sie streike heute aus Solidarität: «Bis ich in Rente gehe, wird es sowieso schon bei 65 liegen. Ich bin heute vor allem für meine älteren Mitarbeiter hier.» Für den 50-jährigen Tunnelbauarbeiter Peter hingegen ist klar: Rentenalter 60 ist schon zu hoch. Der körperliche Verschleiss sei massiv: «Viele Leute überlegen sich beim Hausbau mit 40 Jahren bereits, wie sie später mit dem Rollstuhl am besten über die Terasse ins Haus kommen.» Dann klärt er uns auf, was die anderen Bauarbeiter meinen, wenn sie vom Stress auf der Baustelle erzählen. Knapp berechnete Termine müssen eingehalten werden und die gesamte Verantwortung lastet auf den Arbeitern, beispielsweise bei Unfällen mit den Maschinen: «Die Schuld wird immer den Maschinisten zugeschoben. Sie sind diejenigen, die haften. Wenn dir sowas passiert, kannst du auf deine Rente scheissen.»
Plötzlich geht es ganz schnell. Auf der Gubrist-Baustelle wird noch gearbeitet. Die Unia verpackt einige Freiwillige in Reisebusse und wir fahren dorthin, um die Arbeitenden vom Streik zu überzeugen. Die Stimmung im Bus ist angespannt, wir wissen nicht so genau was auf uns zukommt. Wird die Polizei dort sein? Und wie wird sie sich verhalten? Informationen aus Basel erreichen uns: Dort hatte die Polizei ihre «Neutralitätspflicht» verletzt und vor einer Baustelle «verdachtsunabhängige» Kontrollen durchgeführt. Zwar nur ein kleiner Verstoss, der aber klar zeigt, auf wessen Seite sie in diesem Kampf stehen. Das sieht auch ein portugiesischer Bauarbeiter so: «Der Staat hat ein Interesse daran, dass ich weniger Lohn kriege.»
Über die Konflikte, die die Arbeiter in diesem Streik teilt, erzählt uns Antonio (40). Diese werden wir später auf der Gubrist-Baustelle hautnah miterleben. «Die Bosse spalten die Arbeiter nach Nationalitäten und nach Gehältern. Sie kommunizieren damit: Ich gebe dir mehr, dafür nimmst du meine Meinung an.» Als wir bei den Baracken ankommen zeigt sich, wie erfolgreich diese Taktik ist: Die Poliere (Chefs auf dem Bau) haben sich eingesperrt und ermuntern die (noch) nicht streikenden Arbeiter, es ihnen gleich zu tun. Unia-Sekretärin Nicole erklärt uns, dass die Bauarbeiter, die sich einsperren, später einfachere Arbeiten erwarten dürften. Ein junger Streikender zeigt den Polieren kurzerhand, was er von ihrer Taktik hält. Er läuft hinter die Baracke und steckt ihnen den Strom aus. Über die Motivation der Poliere den Streik zu boykottieren, gibt ein polnischer Arbeiter Aufschluss: «Mit unserem Polier ist es schwierig heute. Er möchte die Termine einhalten, damit er Ende Jahr seine Prämie einstreichen kann.»
Kurze Zeit später laufen wir über die Baustelle, als uns ein Lastwagen viel zu schnell entgegen rast. Wir müssen aus dem Weg springen, um nicht überfahren zu werden. Wütend umzingelt die Menge den Lastwagen. Aus dem Wortwechsel zwischen Chauffeur und Streikenden wird klar: In den Augen des Schweizer Chauffeurs sind nicht die Chefs an den tiefen Löhnen Schuld, sondern die Arbeitsmigranten, denen tiefere Löhne ausbezahlt wird. Eine spannende Interpretation, schliesslich wollen die Baumeister im neuen LMV Lohndumping wieder zulassen. Es zeigt sich aber auch: Die Gewerkschaften konnten nicht alle Arbeiter vom Streik überzeugen. Hätten sie mehr machen müssen?
Im Bus zurück nach Zürich ist nicht ersichtlich, wie viele Bauarbeiter vom Gubrist wir überzeugen konnten. Aber als wir am Central ankommen, werden die Gedanken aus dem Kopf verbannt. Über das Limmatquai schlängelt sich ein Demonstrationszug von rund 4’000 Menschen. Neben den Zürchern sind auch Streikende aus der Romandie, Ostschweiz und Basel dazugestossen, um gemeinsam mit ihren Zürcher Kollegen zu kämpfen. Die Stimmung kocht, die Einheit der Arbeiter ist zu spüren.
Auf der Brücke zum Hauptbahnhof sind Lastwagen aufgefahren: Es werden Bänke und Tische aufgebaut. Zum Mittagessen besetzen wir die Bahnhofsbrücke – eine von Genf übernommene Tradition. Von Stocki und Zürigschnätzletem gestärkt, treten wir der Weinbergstrasse folgend den letzten Marsch zum Zürcher Sitz des Baumeisterverbandes an. Mit lauten Pfiffen, Rufen und roten Rauchpetarden zeigen wir den Baumeistern, was wir von ihrem «modernen und zeitgemässen Landesmantelvertrag» halten. Die Arbeiter sind bereit gegen faule Kompromisse zu kämpfen. Es bleibt einzig die Frage offen: Vertraut die Unia auf die Stärke ihrer Mitglieder oder knickt sie am Verhandlungstisch ein?
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