Land- und Betriebsbesetzungen, Rätestrukturen und Massendemonstrationen. Startschuss für dieses revolutionäre Szenario gab ein Offiziersputsch in Portugal vor 40 Jahren am 25. April 1974 – die so genannte „Nelkenrevolution“.
Portugal ist ein Land, in dem sich die kapitalistische Produktionsweise nur sehr zögerlich und verspätet durchsetzen konnte. Tief bis ins 20. Jahrhundert hinein galt es als rückständiges Agrarland, das den bereits voll industrialisierten Staaten Europas um Meilen hinterherhinkte. Schuld daran war nicht zuletzt der Kolonialismus, dem Portugal wegen hoher Erträge durch Gewürz-, Textil- und Sklavenhandel lange Zeit mehr Bedeutung beimass, als der Errichtung eines Binnenmarktes. Marx schon hatte behauptet, dass sich alte Gesellschaftsstrukturen so lange am Leben halten, sie also neuen Produktionsweisen nicht Platz machen, bevor sie nicht alle Mittel und Ressourcen zur Erhaltung ihrer Existenz ausschöpfen konnten. Auf Portugal gemünzt: Erst als es Brasilien gelang sich loszulösen und in den verbleibenden Kolonien in Afrika und Asien anti-imperialistische Befreiungsbewegungen die Kolonialherrschaft ernsthaft zu bedrohen begannen, begann auch die heimische Bourgeoisie den monarchistischen Feudalismus zu bedrohen.
1910 gelang es dem portugiesischen Bürgertum durch eine Militärerhebung, angestachelt und unterstützt von der Arbeiterbewegung, die Macht an sich zu reissen. Es versäumte jedoch, eine Agrarreform durchzuführen und in bestehende Besitzverhältnisse einzugreifen; die Privilegien der Grossgrundbesitzer blieben unangetastet und dem Proletariat, das den Bürgerlichen in den Sattel der Macht verholfen hatte, blieb politische Macht weiterhin vorenthalten. Auf einen Punkt gebracht: Es war eine bürgerliche Revolution reinster Prägung. Als gesellschaftshistorische Folge der Teilnahme am Ersten Weltkrieg und der sich zuspitzenden Lage in den Kolonien konnte sich 16 Jahre später die Rechte innerhalb des bonapartistischen Militärregimes durchsetzen. Wirtschaftspolitisch fuhr sie Kurs in Richtung eines protektionistischen Systems unter staatskapitalistischer Leitung basierend auf der Effektivierung der Ausbeutung der Kolonien. Der repressive Staatsapparat lässt faschistische Gesichtszüge erahnen (obwohl in Ermangelung einer sozialen Massenbasis von Faschismus nicht wirklich gesprochen werden kann): Die Regierung setzte auf die Paralysierung der Arbeiterbewegung durch Verbot aller demokratischer Parteien und Zeitungen, und machte mit der blutigen Niederschlagung eines Volksaufstandes und der Errichtung mehrerer Konzentrationslager deutlich, wie ernst ihr die Sache war.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges begann sich Portugal sich vorsichtig den imperialistischen Staaten und Staatenbündnissen anzunähern. NATO, UNO, IWF und Weltbank stellten Portugal unter der Bedingung des Beitritts vielversprechende Investitionen, die die inländische Wirtschaft auf Touren bringen sollten, in Aussicht. Um den Preis der Aufgabe des Protektionismus und dem der totalen Abhängigkeit von ausländischem Kapital verbuchte Portugal in den 1960er Jahren nun endlich wieder hohe Wachstumsraten. Von politischer Stabilität kann trotzdem nicht die Rede sein: Der Krieg in den Kolonien und die Abwerbung portugiesischer Arbeitskräfte durch Deutschland verlangten der Bevölkerung 2,5 Millionen Menschen ab, was ein Drittel der inländischen Arbeitskraft ausmachte. Hinzu kommt die Wiederauferstehung der Revolte. Arbeiterklasse, aber auch Studenten, Militär und selbst Teile der Kirche begannen nun, den Herrschenden immer deutlicher ihre Zähne zu zeigen. Unter jenem Druck der Massen und angesichts der aussichtslosen Lage im Kolonialkrieg gewährte Staatschef Caetano sowohl den Kolonien als auch dem portugiesischen Volk mehr Freiheiten. Eine Lockerung der Zensur sollte den Protesten den Wind aus den Segeln nehmen. Mit diesen Massnahmen konnte das Regime jedoch nichts weiter erreichen, als ihren Untergang ein wenig hinauszuzögern. Zu explosiv waren die sozialen Konflikte, zu prekär die ökonomische Lage. Der Kolonialkrieg verschlang 40 % des Staatseinkommens und hatte das Land an den Rande des Bankrotts getrieben. Die Regierung verlor ihre Basis; was blieb, waren Polizei und Geheimpolizei.
Die Bourgeoisie hatte mittlerweile ihre Hoffnung in das Caetano-Regime aufgegeben und orientierte sich nun in Richtung Militär, wo eine Handvoll Offiziere, die „Bewegung der Hauptleute“ (MFA), daran war, eifrig Pläne für einen Putsch zu schmieden. Am 25. April 1974 wurden aus Plänen Taten: Der Staatsstreich der MFA, angeführt von Spinola (der unter Franco gegen die Republik in Spanien gekämpft hatte), ist ein voller Erfolg. Die MFA proklamierte die „Junta zur nationalen Errettung“, deren Programm auf alles andere orientiert war als auf Arbeiterinteressen. In gegenwärtige Besitzstrukturen sollte nicht eingegriffen werden, es wurde eine selektive Demokratisierung eingeführt, die Bevölkerung jedoch als aktiver Machtfaktor ausgeschlossen. Das war das richtige Rezept, sich sowohl bei der NATO als auch bei der inländischen Bourgeoisie Sympathie zu verschaffen. Die Mission der neuen Junta lag auf der Hand: Der drohenden Revolte gegen das Caetano-Regime zuvorzukommen. Nichts fürchtete man mehr als die Massen aufgebrachter PortugiesInnen auf den Strassen der Industriezentren. Die Rechnung sollte aber nicht aufgehen. Noch am Tag der Machtübernahme schlug der Putsch in einen Volksaufstand um. Massendemonstrationen in den Ballungszentren liessen die Junta und hinter ihr die Bourgeoisie vom Scheitel bis zur Ferse erzittern. Die DemonstrantInnen jagten Mitglieder der verhassten ehemaligen Geheimpolizei und richteten einige in wütender Selbstjustiz hin. 5.000 DemonstrantInnen versammelten sich vor dem Caxia-Gefängnis und forderten die Freilassung aller Inhaftierten. Repräsentiert war die entstandene Massenbewegung weniger von politischen Parteien als von Einheitskomitees unter Teilnahme der Arbeiteravantgarde. Die Komitees etablierten sich in den Stadtvierteln, organisierten die Absetzung der Repräsentanten der ehemaligen Regierung, übernahmen deren Kompetenzen und veranstalteten Massenversammlungen, um dem hohl geworden Wort „Mitbestimmung“ Leben einzuhauchen.
Weitgehend unberührt von der Bewegung blieb der Norden des Landes, wo politische Säuberungen nur sehr halbherzig und eingeschränkt durchgeführt wurden, es nicht gelang eine relevante linke Massenbewegung ins Leben zu rufen, und es der Kirche glückte, ihre Machtposition grossteils zu behalten.
In den Industriezentren geriet die Bewegung jedoch erst jetzt so richtig in Gang: Streiks um Lohnerhöhungen, Formen von Arbeiterkontrolle in den Betrieben und erste Ansätze von Rätestrukturen brachten die MFA in eine missliche Lage. Die Bourgeoisie hatte ihr nämlich ihre Unterstützung zugesagt, sofern die Junta Ruhe und Ordnung im Land bewahrt. Am 15. Mai wurde ein Verfassungsdekret verabschiedet, welches einen vierzehnköpfigen Staatsrat als legislative Kraft ernannte. Der Staatsrat setzte sich zusammen aus sieben Delegierten der Militärjunta und sieben von Spinola persönlich ernannten Vertrauensleuten. Hauptaufgabe der neuen provisorischen Regierung sollte erstens die Vorbereitung allgemeiner Wahlen sein, zweitens die möglichst rasche Eindämmung der Massenbewegung. Von den innenpolitischen Unruhen nahm nun auch der Imperialismus Notiz, der nicht lange zögerte, noch zu retten, was zu retten war: Kapitalflucht und Investitionsstop und ein damit einhergehender drastischer Inflationsanstieg kündigten im Sommer 1974 schon die nächste fatale Wirtschaftskrise an. Die hohe Inflation hatte bereits die Lohnerhöhungen von April wettgemacht, die Fabrikbesitzer versuchten mittels Sabotageakten die Arbeiterkontrolle über die Betriebe zu schwächen, was allerdings nur noch zu weiterer Radikalisierung der Massen führte. Indes unternahm Spinola, der in der provisorischen Regierung immer mehr an Kompetenzen einbüssen musste, am 28. September mithilfe eines Marsches seiner Basis (grösstenteils Kleinbürger, deren Betriebe unter Arbeiterkontrolle geraten waren) gen Lissabon den Versuch, seine Vormachtstellung zurückzuerobern. Der reaktionäre Putschversuch konnte durch die organisierte Arbeiterbewegung mittels gewaltiger Gegendemonstrationen und Barrikaden vereitelt werden. Die Niederlage Spinolas bedeutete gleichzeitig sein Ende als Ministerpräsident Portugals.
Unter seinem Nachfolger, General Gomes da Costa, erfolgte ein starker Linksruck innerhalb der Regierung, deren neues Konzept ein Bündnis zwischen Volk und MFA vorsah. Die Regierung sollte sich auf die organisierte Arbeiterbewegung stützen, die man mit erweiterten Rechten ausstattete; Endziel sei eine Umgestaltung der Gesellschaft. Die Arbeiterklasse – voller Selbstvertrauen nach dem niedergeschlagenen Putschversuch – trieb den revolutionären Prozess weiter voran. Nach zahlreichen Betrieben wurde nun auch Landgut besetzt, so genannte „Komitees der Wachsamkeit“ installiert, Wahlen auf Personalvollversammlungen ernannten Delegierte für überbetriebliche Kommissionen und all das unter ständig wachsender Beteiligung des Proletariats. Die Bourgeoisie reagierte mit Unterstützung oppositioneller bürgerlicher Parteien und dem Aufbau einer „Portugiesischen Befreiungsarmee“, die EG mit dem Hinauszögern versprochener Kredite. Am 11. März 1975 unternahm Spinola einen weiteren jämmerlichen Putschversuch, der mühelos von der Arbeiterbewegung gestoppt werden konnte. Noch am selben Tag wurden Junta und Staatsrat (Kompromisse mit der Spinola-Tendenz) aufgelöst und ersetzt durch den „Obersten Revolutionsrat“, der Legislative und Exekutive in sich vereinte. Die MFA, die den Revolutionsrat personell dominierte, wurde per Verfassung als Garant der Revolution deklariert. Das neue Dekret führte zu einer rasanten Verstaatlichungswelle: Die MFA sah sich angesichts der Eigendynamik, die die Arbeiterbewegung zu entwickeln begann, gezwungen, besetzte Betriebe (darunter die namhaftesten Banken und Versicherungen) zu vergesellschaften, um der Bildung eines robusten Räteapparats einen Riegel vorzuschieben. Trotz all der revolutionären Rhetorik lag nämlich ein von ArbeiterInnen regiertes Portugal den Interessen der MFA fern. So war man dazu verleitet, aus Arbeiterkontrolle so schnell wie möglich staatliche Kontrolle zu machen, um ja zu verhindern, dass die Bewegung die Grenzen des kapitalistischen Systems überschreitet und man sie nicht mehr in Schach halten kann.
April 1974
Den ersten herben Rückschlag für die MFA stellten die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung Ende April 1975 dar, die die reformistische SP mit einer Mehrheit von 38 % ausstattete. Die Bevölkerung hatte zu diesem Zeitpunkt den konterrevolutionären Verrat der SP, die stets gegen den Verstaatlichungskurs des Revolutionsrates opponiert hatte, noch nicht erkannt. Ungeachtet des Wahlergebnisses setzte der Revolutionsrat seinen Verstaatlichungs- und Sozialisierungskurs fort, woraufhin die SP im Sommer aus der Regierung austrat. Dadurch verlor diese einen beachtlichen Teil ihrer Basis, und damit auch den breiten Rückhalt der Bevölkerung, was in terroristischen Anschlägen gegen Büros von Gewerkschaften und diversen Linksparteien ausartete. Zudem verlor die MFA durch Uneinigkeiten innerhalb der Organisation auch noch eine klare Stossrichtung: Während eine (KP-nahe) Tendenz eine anti-monopolistische Strategie vertrat, sah eine andere im Sozialisierungsprozess das Fundament für eine Umgestaltung der Gesellschaft. Regierungschef Goncalves, der ersterer Strömung angehörte, versuchte mittels anti-monopolistischer Politik die Klein- und Mittelbourgeoisie für ein Volkfrontbündnis zu gewinnen. Jene war aber durch die Legalisierung von Betriebs- und Landbesetzungen abgeschreckt und lehnte Kooperation kategorisch ab. Die MFA war also nicht mehr zu erhalten und zerbrach an ihrer Uneinigkeit und an der üblen wirtschaftlichen Lage des Landes, in die es der Investitionsstop des Imperialismus gefahren hatte.
So trat am 6. September 1975 eine neue Regierung an, die nicht viel Zeit vergeudete, um auf harten Konfrontationskurs gegen die Arbeiterbewegung und die von ihr errichteten Doppelmachtstrukturen zu gehen. Neben politischer Entmachtung der Basiskommissionen und Einwohnerräten sowie linker Militäreinheiten unternahm sie ausserdem schmerzhafte ökonomische Angriffe. Mit einem Lohnstopp und der Aufhebung des Preisstops für Grundnahrungsmittel sollte die Unterstützung des Imperialismus wiedererlangt werden, der sich nun wieder gefahrlos in Portugal mit Krediten und Investitionen einnisten konnte. Ein erfolgreicher Streik der Bauarbeiter und eine gescheiterte Revolte von einigen Fallschirmjägerkontingenten sollten das letzte Aufbegehren gegen die neue Regierung vor den allgemeinen Parlamentswahlen am 25. April 1976 – dem zweiten Jahrestag der „Revolution der Nelken“ – sein. Die neu verabschiedete Verfassung beinhaltete grösstenteils Errungenschaften der Arbeiterbewegung der beiden vergangenen Jahre – die Herrschaft des Kapitals wurde jedoch von der breiten Masse nun nicht mehr in Frage gestellt.
Die portugiesische Revolution (sie kann trotz fehlender Vollendung getrost „Revolution“ genannt werden) zeigt sehr deutlich, dass es für eine revolutionäre Bewegung keineswegs einer Verelendung der Massen und eines sie gnadenlos unterdrückenden, faschistoiden Diktators bedarf. Ein gesunder Marxist reibt sich nicht erwartungsvoll die Hände, wenn die Arbeiterklasse ihrer Rechte und Löhne beschnitten wird, in Hoffnung auf eine automatisch hervortretende Erhebung der Massen. Erst als mit der „Revolution der Nelken“ im April 1974, selektiv demokratische Rechte eingeführt, die Zensur gelockert und die Löhne erhöht wurden, begann die Bewegung in Gang zu kommen, und je mehr sich die Linke in den darauffolgenden zwei Jahren in der Regierung durchsetzte, desto mehr wurde die sozialistische Revolution, getragen von der Masse der LohnarbeiterInnen, Realität. Trotzdem scheiterte die Erhebung, die Revolution wurde nicht vollendet; nicht zuletzt in Ermangelung einer in der Bewegung fest verankerten revolutionären Partei, die die einzig richtige Antwort auf die Frage einer Revolution in einem rückständigen Agrarland liefern hätte können: die permanente internationale Revolution.
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