Anfang September gewannen die Bolschewiki durch ihre geduldige politische Überzeugungsarbeit in den Sowjets von Petrograd, Moskau und anderen Industriestädten die Mehrheit. Am 23. September wählte der Petrograder Sowjet Leo Trotzki zum Vorsitzenden. Unterdessen glänzte die neugebildete Regierung unter Kerenski durch Erfolglosigkeit. Die Versorgungslage verschlechterte sich und die Brotrationen in Moskau und Petrograd wurden auf ein halbes Pfund täglich gekürzt. Es kam schließlich zu Hungerdemonstrationen. Die Regierung verlor jede Autorität. Minister kamen und gingen, doch die Politik änderte sich nicht. Kerenski war isoliert und handlungsunfähig, da er keinen Widerstand provozieren wollte.
Vorbereitung zum Aufstand
Lenin, noch untergetaucht, drängte Anfang Oktober die Bolschewiki zu Taten. „Denn wozu noch drei weitere Wochen Krieg und Kornilowsche Vorbereitungen seitens Kerenski (Putschversuche, Anm. CM) dulden?“, fragte er ungeduldig aus dem Untergrund. War es nicht an der Zeit, die Sache zur Entscheidung zu bringen? Wenn die Partei die Vorbereitung der Machtübernahme nicht weiter vorantreibe, verstreiche eine historisch günstige Situation, die auf Jahre hinaus so nicht mehr eintreten würde. Genau aus diesem Grund ist eine Partei und eine Führung notwendig. Jede Verzögerung würde Kerenski ermuntern in die Offensive zu gehen. Auch die Bedingungen für die Revolution im Weltmaßstab reiften heran: Meutereien in der deutschen Flotte, Streiks tschechischer Arbeiter sowie Demonstrationen und Barrikaden in Italien bestätigten diese Perspektive Lenins.
Die Parteispitze war aber von der Juliniederlage noch schwer getroffen und neigte zu extremer Vorsicht. Sinowjew, der bislang immer Lenins Linie gefolgt war, war unentschlossen und unterstützte Kamenjew, der wie üblich den Weg der „Mäßigung“ ging. Wie im April war Lenin wieder in der Opposition in der Partei. In seinen zahlreichen Briefen kritisierte er die Politik des Zentralkomitees unablässig von links. Gegen das Zögern der Führung drohte er mit dem Austritt aus dem Zentralkomitee und wandte sich an die Parteibasis. Das ZK geriet unter Druck.
Am 10. Oktober fand in Petrograd die entscheidende Sitzung des Zentralkomitees statt. Lenin nahm verkleidet daran teil. Bei zwei Gegenstimmen (Kamenjew und Sinowjew) wurde Lenins Kurs zum Aufstand angenommen. Alle Parteiorganisationen wurden nun aufgefordert, „sich danach zu richten und alle Fragen von diesen Gesichtspunkt aus zu erörtern“.
Oktoberrevolution
Währenddessen arbeitete die Zeit weiter für die Revolution. Unruhen und Unzufriedenheit nahmen zu. Arbeiter und Soldaten zweifelten nicht daran, dass die Regierung sich bewusst darauf vorbereitete, Petrograd den deutschen Truppen auszuliefern. Kerenski wollte zwei Drittel der Petrograder Garnison, die dem Befehl der Sowjets folgten, an die Front schicken. Doch der Sowjet und die Bolschewiki stellten sich dagegen. Das war ein durchsichtiger Versuch, die revolutionäre Garnison in der Hauptstadt zu schwächen, aber es war aus zwei Gründen ein Geschenk des Himmels für die Bolschewiki. Erstens verursachte das eine Welle der Empörung in den Kasernen, die sogar die rückständigsten Schichten den Bolschewiki zutrieb. Zweitens zeigte es, dass die Regierung sich darauf vorbereitete, in die Offensive gegen das rote Petrograd zu gehen. Die Revolution war deshalb ermächtigt, zu ihrer Selbstverteidigung Taten zu setzen. Dies brachte auch die bis zuletzt schwankenden Genossen in den Reihen der Bolschewiki zum Schweigen.
Das Militärische Revolutionskomitee mit Trotzki als Vorsitzenden leitete die Aktionen. Am 16. Oktober erklärten die Regimenter, Kerenskis Befehlen nicht mehr zu folgen und nur noch dem Militärischen Revolutionskomitee zu gehorchen.
Alle Bedingungen für den Aufstand schienen erfüllt – nur ein Anlass zum Losschlagen fehlte noch. Den lieferte Kerenski am 23. Oktober, als er beschloss, gegen die Bolschewiki vorzugehen. Er verbot ihre Zeitungen und ließ Redaktionsräume verriegeln. Sofort wurden Arbeitermilizen zum Schutz der bolschewistischen Zeitungen geschickt. Der Befehl zum Aufstand wurde umgehend ausgeführt. Alles war bis ins Detail vorbereitet, um einem Angriff der Konterrevolution zuvorzukommen.
„Der Sowjet ist in Gefahr“ war die Parole zur Übernahme der Macht. In der Nacht besetzten Rote Garden und reguläre Regimenter das Taurische Palais (Regierungssitz), Postämter und Bahnhöfe, Telefonzentralen und Elektrizitätswerke, die Nationalbank und andere strategische Punkte. Kerenski floh, seine Minister wurden verhaftet. Das Militärische Revolutionskomitee des Petrograder Sowjets berichtete dem All-Russischen Rätekongreß bei seiner Eröffnung, dass Kerenski gestürzt war. Die Sowjets unterstützen in einer Abstimmung diese Aktion mit überwältigender Mehrheit und übernahmen die Macht, mit den Bolschewiki an der Spitze. Entscheidend am relativ reibungslosen und friedlichen Verlauf (10 Menschenleben waren zu beklagen) der revolutionären Erhebung war, dass durch die politische Arbeit der Bolschewiki in den neun Monaten vor dem Oktober, die Masse und damit auch die entscheidenden Teile der Armee gewonnen wurden.
Als die Nachricht vom Petrograder Aufstand bekannt wurde, erhoben sich die Arbeiter in ganz Rußland. In Moskau, wo die Reaktion besonders gut organisiert war, zog sich der Kampf um die Macht mehr als eine Woche hin.
Die erste Handlung der neuen Regierung war die Zerschlagung des Großgrundbesitzes und die Aufforderung an die örtlichen Bauernräte, das Land an die armen Bauern zu verteilen. Dadurch sicherte sich die neue Sowjetregierung die Unterstützung der Bauernschaft. Fast gleichzeitig eröffnete die Sowjetregierung Friedensverhandlungen mit dem deutschen Imperialismus, um den Krieg zu beenden. In wenigen Tagen vollbrachte sie für die Arbeiter und Bauern mehr als alle provisorischen Regierungen zusammen in acht Monaten.
Arbeiterdemokratie
Zum ersten Mal in der Geschichte hatte die Arbeiterklasse bewusst die Macht ergriffen. Es war nicht länger eine theoretische Frage, sondern lebendige Wirklichkeit. Lenin begann seine Rede vor dem Sowjetkongress mit den Worten: „Wir beginnen jetzt mit dem Aufbau der sozialistischen Ordnung.“ Die Gesellschaft sollte von jetzt an von den Massen durch ihre demokratischen Organisationen – die Sowjets – gelenkt werden. Die Sowjets waren miteinander auf regionaler und nationaler Ebene verbunden. Sie wählten einen gesamtrussischen Rätekongress, der wiederum ein zentrales Exekutivkomitee bildete. Dieses Zentrale Exekutivkomitee ernannte die Regierung, den Rat der Volkskommissare, der direkt den Sowjets gegenüber verantwortlich war.
In dieser Periode war es das demokratischste Regierungssystem, das je existierte. Die einzige Partei, die verboten wurde, waren die Schwarzhundertschaften, eine Bande faschistischer Antisemiten, berüchtigt wegen ihrer Hetze und Pogromen gegen Juden. Sogar die kapitalistischen Parteien durften sich frei organisieren, solange sie nicht zum bewaffneten Kampf gegen die Revolution übergingen.
Lenin und Trotzki wussten aber, dass die Revolution in Russland nur der erste Schritt sein konnte. So schrieb Lenin: „Deshalb ist die in Russland ausgebrochene Revolution erst der Beginn der sozialistischen Weltrevolution.“ Es kam allerdings anders wie die russischen Revolutionäre gehofft hatten. Die Niederlage der Arbeiter in Europa, die mit der blutigen Niederschlagung der von den Bolschewiki so herbeigesehnten Revolution in Deutschland ihren negativen Höhepunkt erreicht hatte, und die damit verbundene Isolation Russlands legten zusammen mit den verheerenden Folgen des Bürgerkrieges die Basis für eine Bürokratisierung des Sowjetsystems und eine politische Entmachtung der Arbeiterklasse. Dem Vorwurf, die Oktoberrevolution sei aber nur ein bolschewistisches „Abenteuer“ gewesen, das nichts als stalinistischen Terror und bürokratische Misswirtschaft über Russland brachte, hält John Reed zurecht entgegen: „Ein Abenteuer war es, und eines der herrlichsten, das die Menschheit aufzuweisen hat. Die arbeitenden Massen haben die Geschichte in die Hand genommen und alles ihren gewaltigen und doch so leichtverständlichen Wünschen untergeordnet.“
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