Es sind Szenen, die keine zwei Meinungen zulassen. Am 17. Mai 1968 marschieren knapp 3000 Studierende der Pariser Universität Sorbonne zur rund zehn Kilometer südwestlich gelegenen Renault-Fabrik der Gemeinde Boulogne-Billancourt. Mit roten Fahnen ausgestattet, die Fäuste kämpferisch erhoben und die kommunistische Internationale singend, wollen die Uni-Besetzenden ihre seit dem Vortag streikenden Genossinnen und Genossen vor Ort unterstützen. Doch daraus wird nichts: Beim Areal angekommen, verschliessen sich vor den Augen der Studierenden die Tore. Zwischen dem Arbeits- und dem Uni-Kampf ragen symbolisch dicke Gitterstäbe empor. Es ist ein Bild, das für zwei nicht vereinbare Welten steht und seither prominent in den Berichterstattungen vertreten ist.
Diesem Bild zufolge soll die 68er-Bewegung in Frankreich vor allem aus individualistischen Studis bestehen, die nach der Utopie sexueller Freiheit streben. In ein paar Fabriken legten die Angestellten parallel dazu ihre Arbeit nieder – miteinander zu tun hätten die beiden Bewegungen aber nichts. Erstere träumten schliesslich von Idealen und Letztere kämpften vereinzelt für bessere Arbeitsbedingungen. Die herrschende Erzählung konstruiert einen Gegensatz zwischen Fabrik und Uni, indem sie beide Seiten falsch darstellt: Zum einen fordern im Mai-Juni 68 nämlich nicht einfach ein paar Arbeitende ein bisschen mehr Lohn, sondern knapp 70% von ihnen (10 Millionen) drängen das De-Gaulle-Regime bis kurz vor den Einsturz. Frankreich durchlebt den grössten Generalstreik der Geschichte Europas. Bei diesem stehen die Studis nicht einfach verträumt daneben, wie uns weisgemacht wird, sondern beteiligen sich aktiv und antreibend an den Kämpfen, obschon sie mit 12 Prozent nur eine Minderheit der Bewegung ausmachen. Fabrik und Uni sind also keine fix getrennten Sphären. In Zeiten der Umwälzung verfliessen sie ineinander.
Diese Durchmischung läuft in der Praxis über sogenannte Aktionskomitees. Vor und hauptsächlich während 1968 bilden unter anderem Studierende und Arbeitende in ganz Frankreich über 600 davon, meist nach Quartieren aufgeteilt. In fast allen Metropolen und vereinzelt in der Provinz unterstützen diese aktiv die streikenden Lohnabhängigen. So zum Beispiel in Nantes, wo sich Mitte Mai 1000 Studierende zur acht Kilometer entfernten «Sud-Aviation», der ersten besetzten Fabrik, aufmachen. Sie bringen Geld, sowie Decken und diskutieren bis tief in die Nacht mit den Streikposten. Kein Pieps davon in den Medien. Auch nicht von jenen Studis, die sich zum Zeitpunkt der Gitter-Aufnahmen bereits in der Renault-Fabrik befinden. Tatsache ist: Vielerorts kämpfen Studierende Schulter an Schulter mit den Streikenden – nicht nur in den Fabriken, sondern auch an den Unis. In Paris, Rouen und Montpellier begeben sich Arbeitende nahegelegener Betriebe zu den Aktionskomitees der philosophischen Fakultäten, um Meinungen zur Rolle der Gewerkschaften und zu radikaleren Möglichkeiten des Kampfes einzuholen. Der Kontakt mit den «Intellektuellen» sei «herzlich und gutmütig», berichtet ein Arbeiter von «Sud Aviation» und fügt an: «Wir ignorieren dennoch nicht die Hindernisse, die uns an einer tieferen Einheit hindern».
Die verschiedenen sozialen Hintergründe kann man nicht unter den Tisch wischen. Probleme wie geschlechtergetrennte Wohnheime (Ursprung der Studi-Bewegung anfangs Mai) kennen die Fabrikangestellten in dieser Form nicht. Die alltäglichen Gewohnheiten unterscheiden sich stark. So berichtet eine «Lip»-Uhrenmacherin nach ihrem abendlichen Besuch bei einer revolutionären Studi-Gruppe: «Die Frauen machten nichts, die Männer kochten. Um Mitternacht sagten sie: „Essen ist fertig“. Um Mitternacht! Das geht doch nicht. Und die Frauen rauchten ständig.»
Umgekehrt haben viele Studis – gerade aus privilegierteren Schichten – mit den Anliegen der Arbeitenden wenig bis gar nichts am Hut. Eine offen konterrevolutionäre Rolle spielen zum Beispiel die Jus-Studis in Dijon. Sie gründen ein Verteidigungskomitee für das «Recht auf Arbeit», das gegen die Streikbewegung mobilisiert.
1936 gibt’s in Frankreich erst 72’000 Studierende, drei Viertel davon sind Kinder aus Oberschichtsfamilien. Im Nachkriegsboom zieht es dann massiv Jugendliche aus anderen Schichten ins intellektuelle Milieu: 1968 steht die Zahl der Studierenden bereits bei 440’000, knapp die Hälfte davon gehört zur Klasse der Lohnabhängigen. Gleichzeitig drängt es im Wirtschaftsaufschwung haufenweise junge Arbeitende in die Fabriken. So liegt das Durchschnittsalter in der grossen Renault-Cléon-Fabrik nahe Rouen 1968 beispielsweise bei 27 Jahren. Weg vom ländlichen Familienhaus, hinein in die Massenschläge der Betriebssiedlung: Das frische Proletariat fühlt sich allein schon wegen des ähnlichen Alters und der teilweise geteilten sozialen Bedingungen zu den Ideen radikalerer Studi-Gruppen hingezogen.
So kommt es schon vor den stürmischen Monaten zum Austausch von Ideen und Erfahrungen. Beispielsweise im Januar 68, als Studierende junge, streikende Lohnabhängige in Caen im Kampf gegen die Staatsgewalt unterstützen. 29 von ihnen werden verhaftet (nebst 54 Angestellten). Die Polizeirepression, aber auch die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen (viele Studis der unteren Schichten müssen während den Semesterferien in Fabriken arbeiten) sind unmittelbare, geteilte Probleme. Sie werden in den Betrieben, auf der Strasse und zuhause am Esstisch diskutiert. Die Studierenden bringen ihren angestauten Frust, damals wie heute in Frankreich, oftmals schneller zum Ausdruck und lassen so den Funken für grössere Arbeitskämpfe überspringen. Der Vorreiterrolle unterliegt wohl die Tatsache, dass marxistische Ideen an den Unis präsenter sind und radikal handelnden Studis keine Festanstellung und damit ihre Existenzgrundlage zu verlieren haben.
Diese punktuellen Verbindungen verbreiten und intensivieren sich im Generalstreik. Das Potential einer tieferen Zusammenführung der Kämpfe ist vorhanden – ein revolutionärer Umsturz bedingt jedoch dessen bewusste Ausschöpfung. Von alleine passiert das nicht! Schon gar nicht, wenn die linken Organisationen (inklusive der Kommunistischen Partei), den revolutionären Prozess aktiv sabotieren. Einige kleine radikal-linke Organisationen versuchen einen Weg vorwärts aufzuzeigen, doch ihnen fehlt allen die Verankerung in den Betrieben. Die Arbeit des Vertrauen-Gewinnens in den Fabriken erweist sich als zäher und langwieriger als an den Unis, wo sie schon vor den Ereignissen Wurzeln geschlagen hatten und so exponentiell wachsen konnten. Weil diese Aufbauarbeit unter den Lohnabhängigen zu spät passiert, können diese Organisationen während den potentiell revolutionären Wochen weder eine entscheidende Rolle spielen, noch die Macht der KP antasten. Auch wenn die Revolution deshalb scheitert, lässt 1968 durch die Verbindung der Arbeitenden- und Studierendenkämpfe eine neue, solidarische Gesellschaft in ihrer Keimform erkennen. Die Bourgeoisie sieht darin richtigerweise ihren eigenen Untergang und kämpft mit all ihren Mitteln dagegen – damals wie heute.
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