50 Jahre lang wird Mai 68 bereits schlechtgeredet, umgedeutet, verharmlost und entstellt. Die Kraft der Erinnerung zieht das Ereignis aus dem Ausmass des damaligen Kampfes. Eine Richtigstellung, was während den fünf Wochen Generalstreik wirklich geschehen ist.
«Unumstritten ist, dass die Revolte von 1968 (…) grandios gescheitert ist.» Das ist für die NZZ das wichtigste. Es ist auch der Grund, weshalb man sowas nicht nochmals versuchen sollte. Wieso verteufeln die Bürgerlichen die Ereignisse vom Mai 68 noch heute, fünfzig Jahre danach? Die Erklärung liegt in der Angst der Bürgerlichen vor dem grössten Generalstreik Frankreichs. Schaut man sich die Ereignisse von Mai-Juni 1968 genauer an, sieht man schnell, wieso diese Erinnerungen der Bourgeoisie noch immer schlaflose Nächte bereiten.
Einmalig, aber nicht alleine
1968 ist ein weltweites Schlüsseljahr. Dem französischen Mai gehen studentische Massenmobilisierungen in Deutschland voraus. Zeitgleich spielt sich in der Tschechoslowakei der «Prager Frühling» ab. Im Anschluss kommt es zum «Heissen Herbst» der jungen italienischen Arbeiterklasse und dann zu revolutionären Aufständen in Mexiko, Pakistan und Brasilien, etc.
Mindestens in Europa haben diese Ereignisse eine gemeinsame Basis: den Nachkriegsaufschwung. Nach dem Krieg erlaubt die Industrialisierung in Frankreich ein Wirtschafts- und durchschnittliches Lohnwachstum von 5% im Jahr. Die Anzahl Familien mit Auto verdoppelt, die mit Waschmaschinen verdreifacht sich. Doch das betrifft bei weitem nicht alle: kapitalistisches Wachstum führt immer auch zu mehr Ungleichheit und härterer Ausbeutung der Lohnabhängigen. Viele ArbeiterInne profitieren nur sehr begrenzt. Ab 1967 flacht sich der Wachstumszyklus merklich ab. Es kommt zu ersten sehr kämpferischen Streiks.
Die Studierenden legen vor
Die Kämpfe der Studierenden in der ersten Maihälfte sind nicht nur Gradmesser der Stimmung in der breiten Bevölkerung. Sie führen auch zu einer beginnenden Regimekrise. Präsident De Gaulle und Premierminister Pompidou streiten sich darüber, wie mit den aufmüpfigen StudentInnen – und ihren legitimen Anliegen – umgegangen werden soll. Der erste verteidigt die harte Hand, der zweite Konzessionen.
Die brutale Polizeirepression führt zu einer Solidaritätswelle in der ArbeiterInnenschaft. Die Gewerkschaften sind gezwungen, am 13. Mai zu einem eintägigen Generalstreik aufzurufen. Das tun sie nur widerwillig, denn sie fürchten die Ansteckung durch die kämpferischen StudentInnen und den Verlust der Kontrolle über ihre Mitglieder. Die linken Organisationen, auch die Kommunistische Partei (KPF), haben sich mit dem herrschenden Regime abgefunden. Schlussendlich kämpfen sie alle für mehr Einfluss unter De Gaulles Obhut, nicht gegen ihn.
Der 13. Mai wird zu einer eindrücklichsten Grossdemonstrationen. Über eine Million marschieren in Paris. Die Klasse der Lohnabhängigen wurde für tot erklärt. Doch zu Tausenden reckt sie die geeinte Faust – auch wenn alle Organisationen ihre Ordnungsdienste anhalten, ihre Mitglieder nicht in den Kontakt mit Studenten und den kritischen linken Zeitungen kommen zu lassen.
Ein Flächenbrand breitet sich aus
Für die Gewerkschafts- und Parteifunktionäre hätte hier alles zu Ende sein können. Doch die ArbeiterInnenklasse fühlte sich nicht danach. Am Dienstag, 14. Mai, beginnt die Flugzeugfabrik Sud-Aviation bei Nantes einen Streik. Am Tag darauf folgt ihr das Renault-Werk in Cléon. Über Nacht springt der Funke auf weitere Renault-Werke über. Jetzt kommt es zum Flächenbrand: am Freitagabend zählt man bereits 175’000 Streikende. Und das, ohne dass eine einzige Gewerkschaft zum Generalstreik aufgerufen hätte. In der Folgewoche wird er zum nationalen Generalstreik.
Übers Wochenende bereiten die Gewerkschaftsaktivisten – mit oder ohne Zustimmung ihrer Organisation – die Ausbreitung des Streiks vor. Auch die Betriebe ohne gewerkschaftliche Präsenz stehen still. Um ausschliesslich weibliche oder migrantische Belegschaften hatten sich die Gewerkschaften nicht gekümmert. Doch auch dort bilden sich innert Stunden Komitees, gerade auch im Dienstleistungssektor. Überall werden die Betriebe besetzt. Am 25. Mai, dem Höhepunkt, befinden sich 10 Millionen Lohnabhängige im Ausstand.
Premierminister Pompidou organisiert eiligst Geheimverhandlungen mit den Gewerkschaften. Die Arbeitgeber sind zu substanziellen Konzessionen und Lohnerhöhungen bereit, wenn sie damit ihre eigene Existenz sichern können. Der Generalsekretär der CGT wird ausgebuht, als er das Abkommen den Metallern des gewerkschaftlichen Vorzeigewerkes Renault-Billancourt vorstellt. Die Lohnabhängigen verweigern landesweit das Verhandlungsresultat und stellen sich damit auch gegen ihre Gewerkschaften.
Die dritte Streikwoche ist die Zerreissprobe des französischen – und damit europäischen – Kapitalismus. Der Staat «verflüssigt» sich. Nach 14 Tagen Generalstreik macht sich Unzufriedenheit im Repressionsapparat breit, der gerade jetzt umso wichtiger wird. Die Polizisten von Paris drohen mit einem Streik. Der militärische Generalstab verweigert den Befehl, die Reserven zu mobilisieren. Die in den Kasernen eingeschlossenen Soldaten werfen Solidaritätsbotschaften über die Mauern: sie wollen sich mit den ArbeiterInnen verbrüdern. Niemand ist mehr bereit, dieses Regime zu verteidigen. In dieser dritten Woche hängt die Macht des gesamten kapitalistischen Regimes nur noch an einem seidenen Faden.
Dieser Faden heisst KPF
Die KPF versteht sich als die einzige Partei der ArbeiterInnen. In den entscheidenden Sektoren der Klasse hat sie die Vorherrschaft. Doch an die Revolution glaubt die erz-stalinistische Organisation nicht. Sie sieht «einen eigenen französischen Weg zum Sozialismus» vor, innerhalb der bürgerlichen Demokratie. Geschickt verwendet sie die Ausrede eines notwendigen Bündnisses mit anderen reformistischen Organisationen. Damit erklärt sie, wieso sie selber keine Initiative ergreift und die zerbrechliche Macht De Gaulles nicht direkt angreift.
Als der Streik bereits Tatsache war, setzt sie sich mit ihrer Gewerkschaft CGT an seine Spitze. Dort verhindert sie aktiv, dass die vielen betrieblichen Streiks über eine vereinigte Streikleitung zu einem Generalstreik werden. Die resultierende Vereinzelung schwächt den Streik und stärkt die Position der zentralisierten CGT.
Ein Stunt ist De Gaulles letzte Chance
Am 30. Mai spricht der Präsident vom drohenden Bürgerkrieg und ruft Neuwahlen aus. Es ist ein Aufruf an die KPF: «Ihr dürft an den Neuwahlen teilnehmen, wenn ihr dafür den Generalstreik abwürgt!» Der Ausgang dieses Stunts ist ungewiss.
Die Stalinisten hoffen auf ein gutes Resultat, denn sie führten den Streik ja an. Für einen Machtgewinn innerhalb des Regimes sind sie bereit, eine revolutionäre Bewegung zu erdrosseln. Doch das ist nicht so einfach. Die Belegschaft der Autoindustrie streikt noch satte drei Wochen weiter. In den Hochburgen der CGT lösen sich die Streikenden von ihrer Organisation und ziehen revolutionäre Schlüsse. Doch die geeinte Macht aller «linker» Organisationen und der Staatsgewalt ist übermächtig.
Die Wahlen werden für die KPF zum Schlamassel. Sei verliert 600’000 Stimmen und 39 Sitze. Der «Gaullismus» siegt und gewinnt eine Million Stimmen dazu.
An Bewusstsein mangelte es nicht
Mai-Juni 68 war eine radikale Auflehnung der Ausgebeuteten gegen ein System, dass trotz längerem Wirtschaftswachstum die Situation der Lohnabhängigen nicht grundsätzlich verbessern konnte. Deshalb konnte sich der Generalstreik wie ein Lauffeuer ausbreiten. Seine Macht entwickelte er spontan, sogar gegen den Willen der Bürokraten. Doch ohne eine bestehende revolutionäre Organisation waren sie nicht stark genug, ihr Streben gegen die eigenen Organisationen und die geballte Macht des bürgerlichen Staates durchzusetzen. An uns liegt es, dies zukünftig zu verändern.
Caspar Oertli
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