In diesem Artikel stellt Alan Woods eine für Revolutionäre äusserst bedeutsame Frage: Wenn der Kapitalismus sich in seinem Niedergang befindet, wieso wurde dieses System noch nicht gestürzt? Bei der Beantwortung dieser Frage untersucht er die Gesetze, die Revolutionen und die Entwicklung des Bewusstseins bestimmen, und die entscheidende Rolle, die der subjektive Faktor der revolutionären Führung in diesem Prozess spielt.
„Die Menschen machen eine Revolution wie auch einen Krieg nicht gern. Der Unterschied jedoch ist, dass im Kriege die entscheidende Rolle der Zwang spielt; in der Revolution gibt es keinen Zwang, sieht man vom Zwang der Verhältnisse ab. Eine Revolution geschieht dann, wenn kein anderer Weg übrigbleibt.” (Leo Trotzki, Die Geschichte der Russischen Revolution. Oktoberrevolution. Kapitel 20. Die Kunst des Aufstands)
“Wenn der Zeitpunkt erreicht ist, wird´s drüben kolossal rasch und energisch gehn, aber bis dahin kann´s noch etwas dauern.”
Friedrich Engels, 24. Oktober 1891
Hegel erklärte, dass alles, was existiert, verdient, dass es zugrunde geht. Mit anderen Worten: Alles, was existiert, trägt in sich den Keim seiner eigenen Zerstörung. Das ist tatsächlich der Fall. Lange Zeit schien es, als würde der Kapitalismus bis in alle Ewigkeit bestehen. Der Status quo wurde von den meisten Menschen unhinterfragt hingenommen. Die bürgerlichen Institutionen machten einen unerschütterlichen Eindruck. Und selbst die schwersten Krisen konnten gelöst werden und hinterliessen auf den ersten Blick keine sichtbaren Spuren.
Doch der Schein trügt. Die Dialektik lehrt uns, dass sich Dinge in ihr Gegenteil verkehren. Nach einer langen Periode der politischen Stagnation stellen die Entwicklungen der letzten Jahre, ausgehend von der Krise von 2008, einen grundlegenden Wendepunkt auf globaler Ebene dar.
In Wirklichkeit haben sich die Bürgerlichen seither noch immer nicht von dieser Krise erholt. Wir haben damals betont, dass jeder Versuch der Bourgeoisie, das ökonomische Gleichgewicht wiederherzustellen, nur dazu beitragen wird, das soziale und politische Gleichgewicht zu zerstören. Und diese Aussage hat sich seither auf Punkt und Beistrich bestätigt. Die Bürgerlichen haben verzweifelte Massnahmen zur Lösung der Krise gesetzt und die Staatsausgaben in einem noch nie gesehenen Ausmass erhöht.
Als 2020 mit Ausbruch der Corona-Pandemie die Weltwirtschaft in die Rezession schlitterte, wurde diese Politik in noch grösserem Umfang wiederholt. Damit konnte ein unmittelbarer Zusammenbruch der Wirtschaft vermieden werden, aber nur zu exorbitant hohen Kosten. Dadurch wurden neue, und zwar unlösbare Widersprüche angehäuft, die nun überall zum Vorschein kommen.
Das System wurde mit enormen Staatsausgaben gerettet, und das gegen den bisherigen Konsens im bürgerlichen Lager, nach dem sich der Staat nicht in den Markt einmischen soll. Aber wie ein altes Sprichwort so schön sagt: Geld wächst nicht auf Bäumen. Diese Ausgabenorgie, bei der riesige Geldsummen aufgewendet wurden, die man gar nicht hatte, liess die Schuldenberge auf ein gigantisches Niveau anwachsen. Die Gesamtverschuldung weltweit beträgt mittlerweile 300 Billionen $.
In Friedenszeiten gab es noch nie eine vergleichbare Entwicklung. Zwar gab die herrschende Klasse im Zweiten Weltkrieg vergleichbare Summen aus, die in der langen Phase des Nachkriegsaufschwungs wieder hereingeholt wurden. Das war aber nur dank der sehr speziellen Verkettung besonderer Umstände möglich, die es heute nicht gibt und die sich in der Zukunft höchstwahrscheinlich auch nicht wiederholen werden.
Der unvermeidliche Effekt dieses Schuldenbergs ist ein Anstieg der Inflation, der sich nun in steigenden Preisen für Benzin, Gas, Strom und Konsumgüter spürbar macht und vor allem die Einkommensschwachen schwer trifft.
Die Konsequenz wird eine neue Periode wirtschaftlicher, sozialer und politischer Instabilität sein. Die Massenproteste in Kasachstan Anfang des Jahres waren ein erster Warnschuss. Was wir dort gesehen haben, kann sich jederzeit in anderen Ländern wiederholen.
Die gegenwärtige Krise ist nicht nur eine Wirtschafts- und Finanzkrise, sondern hat auch eine soziale und politische, ja sogar eine moralische und psychologische Dimension. Und diese Krise zeichnet sich dadurch aus, dass alle Länder von einer beispiellosen Instabilität erfasst werden.
Das kapitalistische System ist durch die schwerste Wirtschaftskrise seiner 300jährigen Geschichte gegangen. Das müssen sich alle ernsthaften Kapitalstrategen eingestehen. Dazu kommt, dass im Zuge der Pandemie Millionen Menschen ihr Leben verloren haben. Und diese Pandemie ist entgegen den Behauptungen der Bürgerlichen noch nicht zu Ende.
Bei diesem Faktengemenge sollte es doch auf der Hand liegen, dass die objektiven Bedingungen für eine sozialistische Revolution bereits jetzt weltweit existieren. Und das stimmt auch. Allgemein betrachtet kann man sagen, dass dies schon seit sehr langer Zeit der Fall ist. Doch marxistische Perspektiven erschöpfen sich nicht im Postulieren von Allgemeinheiten.
Wir dürfen uns nicht damit begnügen, einfach nur die allgemeine Feststellung von der Unvermeidlichkeit der sozialistischen Revolution zu wiederholen. Man muss auch erklären können, warum diese Aussage korrekt ist. Hegel wies darauf hin, dass es die Aufgabe der Wissenschaft ist, nicht nur möglichst viele Detailinformationen anzuhäufen, sondern eine rationale Einsicht zu erlangen. Genau darin liegt auch die Aufgabe von MarxistInnen.
Nur zu oft zitieren Linke und selbst einige MarxistInnen endlos ökonomische Statistiken, die man auf den Seiten der bürgerlichen Presse leicht nachlesen kann. Ihre Ausführungen schliessen sie dann ab mit der Feststellung, dass „der Sozialismus die einzige Antwort ist“ oder dergleichen. Das mag durchaus stimmen, aber diese Schlussfolgerung wurzelt nicht in der Liste von Zahlen und Fakten und ist daher auch nur von geringem Wert. Eine derart mechanische Methode lässt vielmehr auf geistige Faulheit schliessen und löst bei der Zuhörerschaft eher Langeweile und Ungeduld aus, weil sie diese Argumente nur zu oft schon gehört haben.
Abstrakte Formeln und Schemata werden uns nicht helfen, die Realität der Epoche, die wir gerade durchleben, konkret zu erfassen. Und die reine Wiederholung der Feststellung, der Kapitalismus sei in einer Krise, verliert durch ständige Wiederholung seine Aussagekraft und Bedeutung und wird zu einer leeren Worthülse.
Wir müssen die Situation in all ihren Entwicklungsstufen konkret verfolgen und analysieren. Und wir sind gezwungen, eine Frage, die sich wohl viele Menschen stellen müssen, zu beantworten: „Gut, ihr MarxistInnen sagt, dass sich das kapitalistische System in der Krise befindet. Und ganz offensichtlich ist das auch der Fall. Aber warum gab es dann noch keine Revolution?”
Die Frage mag auf den ersten Blick naiv erscheinen. Sie stellt aber ein zentrales Problem dar, das wir nicht unterschätzen sollten. Jedenfalls verdient diese Frage eine sorgfältige Erörterung. Wenn wir uns ehrlich sind, dann stellen sich sogar einige, die sich selbst als MarxistInnen sehen, diese Frage: Warum haben sich die Massen nicht schon längst erhoben, wenn die Krise doch so tief ist?
Ich beziehe mich dabei vor allem auf diese sogenannten AktivistInnen, die sich durch eine verächtliche Haltung gegenüber der Bedeutung von Ideen und Theorie auszeichnen, und die glauben, sie könnten die Massen zur Aktion anstacheln, indem sie selbst wie kopflose Hühner herumlaufen und laut „Revolution“ rufen.
Ich kann mich noch gut an diese schwärmerischen Studentenführer in Paris im Mai 1968 erinnern, und ich sehe, was aus ihnen geworden ist: dickbäuchige, selbstzufriedene Bürgerliche, die sich über alle Revolutionäre lustig machen und auf ihre eigene Vergangenheit spucken. Ich muss gestehen, dass ich über diesen Wandel nicht sonderlich überrascht war. Welchen Weg sie einschlagen würden, konnte man schon im Mai 1968 erahnen. Sie haben damals schon nicht viel verstanden, und heute verstehen sie noch weniger.
Diese „AktivistInnen“ zeichnen sich durch Ungeduld gegenüber den Massen aus, und wenn ihre ständig wiederholten „revolutionären“ Slogans – die an die gemurmelten Beschwörungsformeln eines müden, alten Priesters erinnern – nicht die gewünschten Resultate zeitigen, geben sie der Arbeiterklasse die Schuld, sind demoralisiert und ziehen sich aus der politischen Aktivität zurück. Gedankenloser Aktivismus und ohnmächtige Apathie sind nur zwei Seiten derselben Medaille.
Es ist nicht die Aufgabe von MarxistInnen, der Arbeiterklasse ein Thermometer unter die Achsel zu schieben, um bestimmen zu können, wann sie bereit ist, sich zu erheben. Solch ein Thermometer hat es nie gegeben und wird es auch nie geben. Und die Ereignisse werden sich durch Ungeduld nicht beschleunigen lassen.
Entwickelt sich alles zu langsam aus deiner Sicht? Nun, wir würden uns alle wünschen, dass es schneller geht. Aber der Prozess wird seine Zeit brauchen, und Ungeduld ist unser gefährlichster Feind. Es gibt keine Abkürzungen! Schon Trotzki hat einst gewarnt, man könne nur ernten, wo man zuvor gesät hat. Alles andere ist zum Scheitern verurteilt und wird entweder zu ultralinken oder zu opportunistischen Fehlern führen. Und wer versucht, lauter zu schreien, als es seine Stimmbänder zulassen, wird ganz einfach seine Stimme verlieren.
Wenn du nach der Lektüre dieses kurzen Artikels unbedingt darauf bestehst, wissen zu wollen, wann sich die Arbeiterklasse erheben wird, um den Kapitalismus zu stürzen, dann kann ich eine sehr präzise Antwort anbieten.
Die ArbeiterInnen werden sich erheben, wenn sie dazu bereit sind.
Keine Minute früher.
Und nicht eine Minute später.
Allein schon die Tatsache, dass jemand die Frage stellt, warum die Revolution bislang ausgeblieben ist, lässt einen eigentlich fassungslos zurück. Denn das zeugt von einer völligen Ignoranz sowohl gegenüber den grundlegenden Gesetzen der Revolution als auch gegenüber der Art und Weise, wie sich Massenbewusstsein entwickelt. In beiden Fällen haben wir es nicht mit automatischen, mechanischen Prozessen zu tun, und, wie wir sehen werden, sind beide Aspekte eng miteinander verbunden.
Beginnen wir, wie wir es immer tun, mit den Grundlagen marxistischer Theorie. Die Dialektik zeigt uns, dass es Parallelen zwischen den Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft und der Geologie gibt. Unsere Sinne sagen uns, dass der Boden, auf dem wir uns bewegen, solide und fest ist („felsenfest“, wie man so schön sagt). Doch die Geologie lehrt uns, dass Felsen alles andere als fest sind, und dass der Boden unter unseren Füßen sich ständig verschiebt.
An der Oberfläche mag alles friedlich und stabil erscheinen, so dass man sich keine Sorgen machen muss. Doch unter der Oberfläche befindet sich ein weiter Ozean aus brodelndem, flüssigem Gestein, wo unvorstellbare Temperaturen herrschen und sich Druck aufbaut, der in der Erdoberfläche einen Schwachpunkt sucht. Früher oder später werden diese Kräfte unter der Erde ein Ausmass erreichen, denen die Erdkruste nicht mehr standhalten kann, und das Magma wird in Form einer gewaltigen Explosion an die Oberfläche schiessen. Gewaltige Kräfte, die sich mit der Zeit angestaut haben, werden sich dann in einem Vulkanausbruch entladen.
Diese Analogie hilft uns zu verstehen, wie der Prozess auch in der menschlichen Gesellschaft verläuft. An der Oberfläche ist alles ruhig, und diese Ruhe wird nur durch gelegentliche Beben gestört, die den Status quo jedoch weitgehend unverändert lassen. Die Verteidiger des herrschenden Systems lassen sich von der Vorstellung täuschen, dass alles in Ordnung sei. Doch unter der Oberfläche machen sich Unzufriedenheit, Verbitterung und Zorn breit. Diese Stimmung akkumuliert sich langsam, bis sie einen kritischen Punkt erreicht, an dem ein soziales Erdbeben unvermeidlich wird.
Der Zeitpunkt, an dem das passiert, kann unmöglich exakt vorhergesagt werden, so wie es auch unmöglich ist, trotz aller Fortschritte der modernen Wissenschaft und Technologie ein Erdbeben genau vorherzusagen. Die Wissenschaft sagt uns, dass die Stadt San Francisco auf einer Verwerfung der Erdkruste, der San-Andreas-Verwerfung, errichtet wurde. Das bedeutet, dass hier die Stadt früher oder später erneut ein verheerendes Erdbeben erleben wird.
Dass es dazu kommen wird, ist nahezu gewiss, auch wenn niemand weiss, wann dies passieren wird. Und genauso sicher ist es, dass es zu revolutionären Explosionen kommen wird, wenn die Bourgeoisie und ihre bezahlten Strategen, Ökonomen und Politiker es am wenigsten erwarten.
Trotzki verwendete den äusserst anschaulichen Begriff „Molekularprozess der Revolution“, der sich ununterbrochen in den Köpfen der ArbeiterInnen vollzieht. Da es sich dabei aber um einen graduellen Prozess handelt, der die allgemeine politische Physiognomie der Gesellschaft unberührt lässt, bleibt er, mit Ausnahme für die MarxistInnen, weitgehend unbemerkt.
Aber nicht alle, die sich als MarxistInnen bezeichnen, haben die grundlegendsten Methoden des Marxismus auch wirklich begriffen. Wir haben das zum Beispiel in Frankreich im Mai 1968 gesehen, als die Sektierer vom Schlage eines Ernest Mandel die französischen ArbeiterInnen endgültig als „verbürgerlicht“ und „amerikanisiert“ abgeschrieben haben. Weniger als vier Millionen ArbeiterInnen waren damals Gewerkschaftsmitglieder, aber 10 Millionen ArbeiterInnen besetzten im grössten revolutionären Generalstreik der Geschichte die Fabriken. Ob derartige Explosionen zu einer erfolgreichen sozialistischen Revolution führen können oder nicht, ist jedoch eine völlig andere Frage.
1968 lag die Macht in den Händen der französischen Arbeiterklasse. Präsident De Gaulle informierte damals den US-Botschafter mit den Worten: „Das Spiel ist aus. In wenigen Tagen werden die Kommunisten an der Macht sein.“ Das war damals tatsächlich eine realistische Option. Dass es nicht dazu gekommen ist, war nicht die Schuld der Arbeiterklasse, die alles in ihrer Macht Stehende tat, um die Revolution zu machen. Verantwortlich für das Scheitern dieser Bewegung war die Politik der Führung. Auf diesen zentralen Aspekt werden wir später zu sprechen kommen.
Damit eine sozialistische Revolution erfolgreich sein kann, braucht es gewisse Voraussetzungen sowohl objektiver als auch subjektiver Natur.
Die Tatsache allein, dass es eine Wirtschaftskrise gibt, ist an und für sich genauso wenig ausreichend, dass eine Revolution ausbricht, wie ein sinkender Lebensstandard. Leo Trotzki merkte einmal an, dass die Massen ständig zur Revolution bereit wären, wenn Armut die Ursache für Revolution wäre.
Es gibt Sektierer, die sich in der Tat so verhalten, als wären die Massen permanent zur Revolution bereit. Aber das ist nicht der Fall. Dass das kapitalistische System in einer tiefen Krise steckt, ist offensichtlich. Das müssen wir nicht gross beweisen. Aber wie das von den Massen wahrgenommen wird, ist eine völlig andere Sache. Illusionen, die über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte genährt wurden, werden nicht von einem Tag auf den anderen überwunden. Es wird eine Reihe von tiefen Erschütterungen brauchen, damit das bestehende Gleichgewicht zerstört wird.
Es stimmt, dass objektiv betrachtet die Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution nicht nur existieren, sondern schon seit geraumer Zeit herangereift sind. In Wirklichkeit sind sie schon etwas überreif. Doch die Geschichte wird durch das Handeln von Menschen bestimmt. Als MaterialistInnen wissen wir, dass das menschliche Bewusstsein im Allgemeinen nicht revolutionär, sondern zutiefst konservativ ist. Der menschliche Geist steht jeder Veränderung abgeneigt gegenüber.
Dabei handelt es sich um einen tiefsitzenden psychologischen Mechanismus, der dem Selbstschutz dient – ein Erbe aus der fernen Vergangenheit, die schon vor langer Zeit aus unserer Erinnerung gestrichen wurde, die aber in unserem Unterbewussten unauslöschliche Spuren hinterlassen hat. Es handelt sich um ein Prinzip, das im Wunsch nach Selbsterhaltung tief verwurzelt ist.
Infolgedessen hinkt das Massenbewusstsein den Ereignissen tendenziell immer hinterher. Und die sich daraus ergebende Kluft kann entsprechend dem Charakter der vorangegangenen Erfahrungen beträchtliche Ausmasse annehmen. Diese Tatsache müssen wir ständig mitberücksichtigen, wenn wir die gegenwärtige Situation analysieren.
Es gibt einen alten chinesischen Fluch, der lautet: „Möge er in interessanten Zeiten leben.“ Wenn der Boden unter den eigenen Füssen zu beben beginnt, wenn die alten Tempel und Paläste in sich zusammenstürzen, dann ist das zuallererst eine zutiefst beunruhigende Erfahrung.
Die Menschen werden sich wie wild auf die Suche nach einer neuen Sicherheit machen. Doch in den alten Bahnen lässt sich keine Sicherheit finden. Deshalb muss man die alten, ausgetretenen Wege verlassen und neue suchen. Tiefreichende Schocks haben bereits das Vertrauen der Menschen in die bestehende Gesellschaft erschüttert.
Doch es ist auch eine unbestreitbare Tatsache, dass sich die meisten Menschen in ihrer bekannten Umgebung, in einer Welt, in der sie aufgewachsen und schon immer gelebt haben, sicherer und wohler fühlen. Selbst wenn die Zeiten schlecht sind, werden sie an dem Gedanken festhalten, dass es morgen wieder besser werden und dass früher oder später eine Rückkehr zu „normalen Zeiten“ möglich sein wird.
Wenn die revolutionären Kräfte die Notwendigkeit einer Revolution aufzeigen, dann werden die meisten als erste Reaktion den Kopf schütteln und sagen: „Von zwei Übeln wählt man am besten das, was man schon kennt.“ Und das ist eine völlig natürliche Reaktion. Eine Revolution ist wie ein Sprung ins Dunkel, und man weiss nicht, was einen erwartet.
Die herrschende Klasse hält in ihren Händen sehr starke Waffen zur Verteidigung ihres Reichtums und ihrer Macht: den Staatsapparat einschliesslich der Armee, der Polizei, der Justiz, der Gefängnisse, die Massenmedien und das ganze Bildungssystem. Doch die stärkste Waffe in ihrem Arsenal ist eine ganz andere. Es ist die Macht der Gewohnheit, das gesellschaftliche Äquivalent zur Trägheitskraft in der Mechanik.
Das Trägheitsprinzip ist ein allgemein anerkanntes Gesetz, das auf alle Körper anwendbar ist. Es besagt, dass Körper immer in ihrem Zustand, entweder in Ruhe oder in Bewegung, bleiben, solange nicht eine äussere Ursache sie dazu zwingt, ihren Zustand zu ändern, was als Aktion und Reaktion bezeichnet wird. Dasselbe Gesetz ist auf die Gesellschaft anwendbar.
Das kapitalistische System erzieht die Menschen zu Gehorsam. Diese Gewohnheit zu gehorchen wird schon in der Schule erlernt und braucht es dann auch am Fliessband in der Fabrik und als Soldat in der Kaserne.
Die Last der Tradition und der Alltagsroutine wiegt schwer auf den Schultern der Menschen und zwingt ihnen deren Einschätzungen auf. Das bedeutet, dass die Massen zumindest in einer ersten Phase immer den Weg des geringsten Widerstands gehen werden. Doch im Endeffekt werden sie durch die Hammerschläge der Ereignisse gezwungen sein, ihre Werte, ihre Moral, ihre Religion und ihre Anschauungen, die ein Leben lang ihr Denken geprägt haben, zu hinterfragen.
Es braucht schon gewaltige Ereignisse, damit die Massen aus der bewusstseinsermattenden Routine aufgerüttelt werden und sie gezwungen sind, ihre tatsächliche Stellung in der Gesellschaft zu erkennen, die alten, scheinbar ewig gültigen Glaubensgrundsätze zu hinterfragen und revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen. So ein Prozess braucht seine Zeit. Doch im Zuge einer Revolution erfährt das Massenbewusstsein einen gewaltigen Anstoss und kann sich binnen 24 Stunden vollständig verändern.
Wir sehen eine ähnliche Entwicklung schon in Streikbewegungen. Es kommt nicht selten vor, dass die klassenbewussteren ArbeiterInnen überrascht sind, wenn vormals eher desinteressierte und konservative KollegInnen plötzlich besonders kämpferisch auftreten.
Ein Streik ist in gewisser Hinsicht eine Revolution im Miniaturformat. Und in jedem Streik ist die Frage der Führung für den Prozess der Entwicklung des Bewusstseins von zentraler Bedeutung. Nicht selten kann das entschlossene Auftreten eines einzelnen in einer Massenversammlung über Sieg oder Niederlage eines Streiks entscheiden. Das bringt uns zum Kern des Problems.
Spontane revolutionäre Bewegungen sind der Beweis für die gewaltige Stärke der Massen. Doch es handelt sich dabei nur um eine potentielle Stärke, keine faktische. Fehlt der subjektive Faktor, dann kann selbst die stürmischste Massenbewegung die brennenden Probleme der Klasse nicht lösen.
Wir müssen verstehen, dass es zwischen den bürgerlichen Revolutionen der Vergangenheit und der sozialistischen Revolution einen grundlegenden Unterschied gibt. Anders als bei der bürgerlichen Revolution braucht es in der sozialistischen Revolution die bewusste Bewegung der Arbeiterklasse, die nicht nur die Staatsmacht erobern, sondern von Anfang an auch die bewusste Kontrolle über die Produktivkräfte ausüben muss.
Mittels der Arbeiterkontrolle in den Fabriken und Betrieben schafft sie die Voraussetzungen für eine demokratisch verwaltete sozialistische Planwirtschaft. In der bürgerlichen Revolution war der Prozess ein ganz anderer, denn die kapitalistische Marktwirtschaft braucht keine Planung oder bewusste Intervention der revolutionären Klasse.
Der Kapitalismus entstand historisch betrachtet spontan in Folge der Entwicklung der Produktivkräfte im Feudalismus. Die Theorien der Führer der bürgerlichen Revolutionen, soweit es so etwas gegeben hat, waren nicht viel mehr als eine unbewusste Widerspiegelung der Erfordernisse der aufstrebenden Bourgeoisie, ihrer Werte, ihrer Religion und Moral.
Den Zusammenhang zwischen dem Protestantismus (und speziell dem Calvinismus[1]) und den Werten der aufsteigenden Bourgeoisie hat der Soziologe Max Weber ausführlich erklärt. Als Idealist hat er diese Beziehung jedoch auf den Kopf gestellt.
Ein Jahrhundert später bereitete der Rationalismus der Aufklärung den Boden für die Grosse Französische Revolution. Die Aufklärung proklamierte kühn die Herrschaft der Vernunft, während sie in der Praxis der Herrschaft der Bourgeoisie den Weg ebnete.
Selbstredend brachten die Ideen der Bourgeoisie weder in ihrem früheren religiösen Gewand noch im glänzenden Mantel der Vernunft ihre rohen, materialistischen, von Geldgier gekennzeichneten Interessen direkt zum Ausdruck. Im Gegenteil, nur indem sie ihre Interessen auf diese Weise verschleierte, konnte die Bourgeoisie die Volksmassen gegen die alte Ordnung mobilisieren. Die Massen sollten dadurch unter dem Banner ihrer künftigen Herren kämpfen.
Insofern als diese Theorie die Interessen der aufsteigenden bürgerlichen Klasse nicht angemessen widerspiegelte (oder sogar in Widerspruch zu diesen stand), wurde sie stillschweigend fallengelassen und durch andere Ideen ersetzt, die besser zur neuen gesellschaftlichen Ordnung passten.
In den ersten Stadien der Englischen Revolution musste Oliver Cromwell die bürgerlichen Elemente in der Bewegung zur Seite schieben, um den Sturz der alten monarchischen Ordnung vollenden zu können. Dabei stützte er sich auf die plebejischen und halbproletarischen Kräfte in der Gesellschaft, die am entschlossensten für den revolutionären Wandel kämpften. Cromwell stand für die Idee vom Königreich Gottes auf Erden, was die Massen begeisterte.
Als er diese Aufgabe erfüllt hatte, ging er gegen den linken Flügel vor und zerschlug die Bewegung der Levellers[2], was der konterrevolutionären Bourgeoisie den Weg freimachte. Die Bürgerlichen ihrerseits suchten einen Kompromiss mit dem König und führten die sogenannte Glorreiche Revolution von 1688 aus, die letztlich der Herrschaft der Bourgeoisie zum Durchbruch verhalf. Die alten Ideen der Puritaner[3] wurden verfolgt und ihre Anhänger gezwungen, in die Neue Welt auszuwandern, wenn sie ihren religiösen Glauben praktizieren wollten.
Ähnlich verlief der Prozess in der Französischen Revolution, wo sich die revolutionäre Diktatur der Jakobiner, die sich auf die halbproletarischen Massen der Pariser Sansculotten gestützt hatte, von der Reaktion des Thermidors gestürzt wurde. Auf das Direktorium folgte die Diktatur von Napoleon Bonaparte und schlussendlich die Restauration der Herrschaft der Bourbonen (französisches Adelsgeschlecht; Anm.) nach der Schlacht bei Waterloo. Der endgültige Sieg der französischen Bourgeoisie wurde erst durch die Revolution von 1830 und die Niederschlagung der proletarischen Revolution von 1848 sichergestellt.
Die zentrale Rolle des subjektiven Faktors lässt sich sehr gut anhand der Geschichte der Russischen Revolution zeigen. Lenin schrieb 1902 in Was tun:
“Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser Gedanke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart.”
Und er fügte dem hinzu, dass “die Rolle des Vorkämpfers nur eine Partei erfüllen kann, die von einer fortgeschrittenen Theorie geleitet wird.”[4]
Das war in der bürgerlichen Revolution nicht der Fall, wie wir bereits gezeigt haben. Für den Erfolg der sozialistischen Revolution war es aber eine notwendige Voraussetzung, wie das Beispiel von 1917 gezeigt hat.
In der Februarrevolution gab es keine bewusste revolutionäre Führung. Die ArbeiterInnen und Soldaten (Bauern in Uniform) waren stark genug, um das zaristische Regime, das Russland über Jahrhunderte beherrscht hatte, zu stürzen. Dennoch haben sie im Februar nicht die Macht erobert. Stattdessen gab es eine Doppelherrschaft, die bis zur Machtübernahme der Sowjets in der Oktoberrevolution 1917 unter der Führung der Bolschewiki andauern sollte.
Warum haben die ArbeiterInnen im Februar nicht die Macht erobert? Natürlich könnte man diese Frage mit einer Reihe von „cleveren“ Argumenten beantworten. Sogar einige Bolschewiki vertraten die Meinung, dass der Grund dafür in der Tatsache zu suchen sei, dass das Proletariat das „eherne Gesetz der historischen Etappen“ einhalten müsse, und dass die Revolution zuerst durch eine „bürgerliche Etappe“ gehen müsse. In Wirklichkeit versuchten diese Leute ihre eigene Ängstlichkeit, ihre politische Verwirrung und Ohnmacht damit zu verschleiern, indem sie sich auf die „objektiven Faktoren“ herausredeten. Ihnen antwortete Lenin verächtlich:
„Warum ist die Macht nicht ergriffen worden? Steklow sagt: aus dem und dem Grunde. Das ist Unsinn. Die Sache ist die, dass das Proletariat nicht klassenbewusst genug und nicht organisiert genug ist. Das muss man zugeben; die materielle Kraft ist beim Proletariat, die Bourgeoisie aber war klassenbewusst und vorbereitet. Das ist eine ungeheuerliche Tatsache, aber man muss sie offen und unumwunden zugeben und dem Volke erklären, dass die Massen darum die Macht nicht ergriffen haben, weil sie unorganisiert und nicht genügend klassenbewusst sind.“[5]
Einer Sache müssen wir uns bewusst sein. Hätte es damals keine Bolschewistische Partei gegeben – im Grunde, wären damals zwei Männer, Lenin und Trotzki, nicht zur Stelle gewesen – wäre es nie zur Oktoberrevolution gekommen. Die Revolution wäre nicht vollendet worden. Stattdessen hätte die Konterrevolution gesiegt, und ein faschistisches Regime wäre an die Macht gekommen.
Mit anderen Worten, die Macht der Arbeiterklasse – die ein Faktum ist – würde ohne subjektiven Faktor ein reines Potential bleiben. Und das reicht nicht aus, um den Kapitalismus zu stürzen. Darin liegt die grosse Bedeutung des subjektiven Faktors in der Geschichte.
In der objektiven Situation sind heute revolutionäre Erschütterungen angelegt. Unabhängig davon, ob eine revolutionäre Partei existiert oder nicht, wird es zu Revolutionen kommen, genauso wie auf die Nacht der Tag folgt. Doch im Krieg zwischen den Klassen, genauso wie im Krieg zwischen den Nationen, ist ein guter Generalstab von entscheidender Bedeutung. Und genau hier liegt das Problem.
Die Massen suchen einen Ausweg aus dem Alptraum der kapitalistischen Krise. Dabei testen sie eine Partei und Führungspersönlichkeit nach der anderen, nur um sie früher oder später auf dem Misthaufen der Geschichte zu entsorgen. Das erklärt die grosse Instabilität im politischen Leben aller Länder in der gegenwärtigen Periode. Das politische Pendel schwingt heftig einmal nach rechts und dann wieder nach links.
Die politische Mitte zerbröselt in diesem Prozess zusehends. Diese Entwicklung macht den Kapitalstrategen ernste Sorgen, weil das Zentrum stets ein stabilisierender Faktor war, der die extremen Pole auf der Linken und auf der Rechten ausglich und diese neutralisierte. Dieses politische System erinnert an eine Landschaft, wo alle klaren Demarkationslinien zu Unkenntlichkeit verschwimmen, wo leere Rhetorik und vage Versprechungen für bare Münze gehalten oder zumindest wie ein Schuldschein gesehen werden, den man irgendwann in der Zukunft einlösen kann.
Lange Zeit wurde das Zentrum in den USA von zwei Parteien repräsentiert, den Republikanern und den Demokraten, und in Grossbritannien von Labour und den Konservativen, die sich nur in Nuancen unterschieden. Doch dieses politische System hatte eine materielle Grundlage.
In der Nachkriegsperiode, als der Kapitalismus einen ungeahnten Wirtschaftsaufschwung durchlebte, war es den Sozialdemokratien möglich, wichtige Sozialreformen durchzusetzen, wie das staatliche Gesundheitssystem NHS in Grossbritannien. Doch diese Zeit ist längst vorbei.
Heutzutage kann die herrschende Klasse nicht einmal die alten Errungenschaften der Vergangenheit dulden, geschweige denn ist sie bereit, neue Reformen zuzulassen. Die alten Gewissheiten sind passé und damit die einstige Stabilität. Überall sehen wir turbulente Entwicklungen und Krisen. Und die Krise des Kapitalismus geht einher mit einer Krise des Reformismus.
Die Krise des Reformismus und der Zusammenbruch des Stalinismus haben dazu geführt, dass auf der Linken ein riesiges Vakuum entstanden ist. Da die Natur aber kein Vakuum zulässt, muss dieses gefüllt werden. Und nachdem die marxistische Strömung nicht über die dazu notwendigen Kräfte verfügt, wird dieser Raum vom Linksreformismus besetzt.
Aus historischen Gründen, die wir hier nicht näher ausführen können, wurden die Kräfte des Marxismus vor langer Zeit weit zurückgeworfen. Angesichts dieser Schwäche des subjektiven Faktors ist es unvermeidlich, dass sich die Massen, wenn sie wieder zu politischem Leben erwachen, in einer ersten Phase an die bestehenden Organisationen und deren prominente Führer, speziell jene mit einem „linken“ Ruf, wenden.
In der gegenwärtigen Epoche werden wir daher den Aufstieg linksreformistischer und sogar zentristischer Strömungen sehen. Doch auch diese politischen Strömungen werden von den Massen auf die Probe gestellt werden, und in vielen Fällen werden sie nicht viel mehr als ein kurzlebiges Phänomen darstellen.
Ausgehend von einem Verständnis für diese Perspektive muss die marxistische Strömung eine flexible Herangehensweise an den Linksreformismus entwickeln. Wir werden die LinksreformistInnen insofern unterstützen, als sie bereit sind, gegen den Rechtsreformismus einen politischen Kampf zu führen, aber wir werden sie überall dort kritisierten, wo sie schwanken, inakzeptable Kompromisse schliessen und vor dem Druck der bürgerlichen Meinungsmacher und der rechtsreformistischen Verräter in die Knie gehen.
Der Wunsch nach einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft kann nicht darauf reduziert werden, ein richtiges Programm und klare Perspektiven zu haben. Es braucht auch Willensstärke bzw. eine gesunde Portion Willen zur Macht: das heisst einen bewussten Willen zu gewinnen, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die Macht zu erobern und die Gesellschaft zu verändern.
Dazu braucht es im Gegenzug eine Vision von der Zukunft und ein komplettes Vertrauen in die gesellschaftsverändernde Kraft der Arbeiterklasse. Die linksreformistischen Strömungen haben weder das eine noch das andere. Deshalb drücken sie sich ständig vor der zentralen Aufgabe.
Sie machen lieber Ausflüchte, zögern und suchen nach Kompromissen, was nur ein anderes Wort für Kapitulation ist, weil sie Kompromisse suchen, wo es keine geben kann, weil sie unversöhnliche Klasseninteressen unter einen Hut bekommen wollen und dadurch die Quadratur des Kreises versuchen. Zweifel, fehlende Klarheit und Unentschlossenheit prägen ihr inneres Wesen. Defätismus ist ihnen tief in ihre Seele und Psyche eingeschrieben.
Natürlich werden sie das nicht zugeben und es sich auch nicht eingestehen. Im Gegenteil, sie sind überzeugt davon, dass ihr Ansatz der einzig wahre ist und alle anderen Konzepte unvermeidlich zum Scheitern verurteilt sind. Ihnen fallen tausend Gründe ein, sich selbst etwas vorzumachen, und sie sind so überzeugt davon, dass es ihnen umso besser gelingt, anderen etwas vorzumachen.
In den meisten Fällen sind diese Linken ehrliche Menschen, die von der Richtigkeit ihrer Argumente vollkommen überzeugt sind. Doch ein ehrlicher Linksreformist kann mehr Schaden anrichten als ein unehrlicher. Ihr Verrat ist kein vorsätzlicher. Die Massen setzen all ihr Vertrauen in sie und werden umso sicherer von ihnen in eine Niederlage geführt.
Der Menschewik Julius Martow war zweifelsohne ein sehr ehrlicher und aufrichtiger Mensch, und er war noch dazu sehr fähig und intelligent. Dennoch spielte er in der Russischen Revolution eine äusserst negative Rolle.
In der stürmischen Periode der 1930er Jahre befanden sich die sozialdemokratischen Massenorganisationen in einem permanenten Gärungszustand. Die Wirtschaftskrise im Gefolge des Börsencrashs von 1929, die Massenarbeitslosigkeit und der Aufstieg des Faschismus in Europa brachte ein Phänomen hervor, das MarxistInnen als „Zentrismus“ bezeichnen. Trotzki verwendete den Begriff „Zentrismus“ für eine Reihe von Strömungen und Gruppierungen, die damals zwischen Reformismus und Marxismus hin- und herschwankten.
In der gegenwärtigen Periode jedoch findet die revolutionäre Bewegung in der Gesellschaft keinen Ausdruck in den Reihen der Sozialdemokratie, wie das in den 1930ern der Fall war. Bewegungen wie Podemos in Spanien, SYRIZA in Griechenland und in einem geringen Ausmass die Bewegung hinter Mélenchon in Frankreich spiegelten diese wachsende Unzufriedenheit teilweise wider. Doch diese Formationen zeichneten sich allesamt durch sehr konfuse politische Positionen aus und sind nur eine sehr blasse Widerspiegelung der zentristischen Strömungen in den 1930ern.
Im Fall von Griechenland und unter den Bedingungen einer extremen sozialen Krise wuchs die kleine Linkspartei SYRIZA, die als rechte Abspaltung der stalinistischen KKE entstanden war, sehr schnell, und zwar auf Kosten der traditionellen reformistischen Massenpartei, der PASOK, die in den Augen der Massen weitgehend diskreditiert war. Im Januar 2015 wurde SYRIZA durch einen Erdrutschsieg über die rechte Nea Demokratia an die Macht gespült.
Nach der Krise von 2008 stand Griechenland am Rande des Abgrunds und war de facto pleite. Es gehörte zu den EU-Ländern, die am stärksten von der Staatsschuldenkrise betroffen waren. Die EU, der IWF und die Europäische Zentralbank boten Griechenland ein „Rettungspaket“ an, im Gegenzug musste Griechenland jedoch brutale Sparmassnahmen umsetzen. Das löste eine gewaltige Massenbewegung gegen das Spardiktat aus. Im Gegensatz zur Nea Demokratia und zur PASOK versprach SYRIZA ein Ende der Austeritätspolitik. Doch vor dem Hintergrund der kapitalistischen Krise war das unmöglich.
Die europäischen Kapitalisten sahen darin jedoch eine Bedrohung. Sie mussten SYRIZA in die Knie zwingen und anderen linken Parteien wie Podemos in Spanien, die versucht gewesen wären, denselben Weg einzuschlagen, einen Schuss vor den Bug zu setzen. Sie waren entschlossen, die linke Regierung in Athen mit allen Mitteln niederzuringen. Unter diesen Bedingungen war es absolut korrekt, ein Referendum abzuhalten und auf diesem Weg die Massen hinter der Regierung und gegen das Spardiktat zu mobilisieren.
Beim Referendum am 5. Juli 2015 stimmten 61 Prozent mit „Nein“ gegen die von der EU-Spitze vorgelegten Bedingungen für die Rettungspakete. Angesichts dieses überwältigenden Ergebnisses kann wohl niemand am Kampfgeist der griechischen Arbeiterklasse zweifeln. Nicht nur die ArbeiterInnen, sondern alle Schichten der Bevölkerung mobilisierten für diesen Sieg. Alle Schichten, mit Ausnahme jener, die in dieser Situation eine Führung darstellen hätten sollen.
Wäre der Parteichef Tsipras ein Marxist gewesen, hätte er versucht, diese Bewegung zu nutzen, um die Gesellschaft grundlegend zu verändern. Er hätte die ArbeiterInnen dazu aufgefordert, die Banken und Fabriken zu übernehmen. Die griechische Bevölkerung wäre in dieser Situation zu Opfern bereit gewesen, so wie die russischen ArbeiterInnen nach der Revolution von 1917 dazu bereit waren.
Eine revolutionäre Politik in Kombination mit einem Aufruf zu internationaler Solidarität hätte einen elektrisierenden Effekt auf die ArbeiterInnen in Europa und der ganzen Welt gehabt. Die Massen in Spanien, Italien, Frankreich und anderswo hätten mit Enthusiasmus auf einen internationalistischen Appell der belagerten griechischen Bevölkerung reagiert. Demonstrationen und Streiks hätten in der Folge die Banker und Kapitalisten in die Defensive gezwungen und auch in anderen Ländern eine revolutionäre Perspektive eröffnet.
Die Frage wurde geradeheraus gestellt: entweder Kampf bis zum Ende oder eine krachende Niederlage. Der Linksreformismus kämpft aber nie bis zum Ende, sondern hält immer Ausschau nach dem Weg des geringsten Widerstands und bemüht sich um einen Kompromiss mit der herrschenden Klasse. Das Verhandlungsteam von SYRIZA spielte mit Worten und bot halbgare Lösungsvorschläge an, die das Problem lösten. Doch die andere Seite hatte kein Interesse an einem Kompromiss.
Schlussendlich zwang die europäische Bourgeoisie die griechische Regierung, Farbe zu bekennen. Vor der klaren Entscheidung, Kampf oder Kapitulation, entschied sich Tsipras für die Kapitulation. Er akzeptierte Bedingungen, die noch bei weitem härter waren als die ursprünglichen Pläne, die die griechische Bevölkerung im Referendum abgelehnt hatte. Nach diesem Ausverkauf akzeptierten Tsipras und sein Team sklavisch das Diktat aus Brüssel und Berlin. Auf die Welle des Zorns folgten Enttäuschung und Verzweiflung.
Das ist die unvermeidliche Konsequenz linksreformistischer Konfusion.
In Spanien wurde Podemos ähnlich wie SYRIZA binnen kürzester Zeit zu einer Massenkraft, was den spürbaren Wunsch der Massen nach Veränderung und einem klaren Bruch mit der Vergangenheit widerspiegelt.
Die wichtigsten Führungsfiguren von Podemos wurden durch die Erfahrung der Bolivarischen Revolution in Venezuela geprägt. Doch sie waren völlig unfähig, die Lehren aus dieser revolutionären Bewegung zu ziehen und sich an ihren Stärken zu orientieren – nämlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung der Massen mit einer kühnen revolutionären Botschaft.
Stattdessen kopierten sie die schwachen Seiten der Bolivarischen Bewegung: ihre fehlende theoretische Klarheit, ihre unterschiedlich interpretierbaren Botschaften und die Weigerung, die Revolution bis zum Ende durchzuführen. Mit einem Wort, sie kopierten die negativen Elemente, die letztendlich auch zum Scheitern der Venezolanischen Revolution führten.
Dennoch weckte Podemos in Millionen Menschen die Hoffnung auf Veränderung. Dank der radikal klingenden Rhetorik von Pablo Iglesias schaffte Podemos den Aufstieg von einer unbekannten Gruppierung zur Nummer 1 in den Umfragen. Doch je näher Podemos den Schalthebeln der Macht kam, desto moderater traten Pablo Iglesias und die anderen aus der Spitze von Podemos auf.
Anstatt zu versuchen, die sozialdemokratische PSOE von links zu überholen, begnügten sie sich damit, als Juniorpartner in einer Koalition mit der PSOE Ministerposten zu übernehmen. Statt eines radikalen Bruchs mit dem Kapitalismus akzeptierten sie eine Regierungsbeteiligung mit dem Ziel, die Krise des spanischen Kapitalismus zu verwalten.
Für ein paar Ministerposten war Unidas Podemos (UP), wie die Partei jetzt heisst, bereit, mitverantwortlich für eine Regierung zu sein, die die Sonderpolizei gegen streikende Metallarbeiter in Cadiz einsetzte. Ausserdem verwaltet sie nun EU-Gelder, die an die Umsetzung einer harten Austeritätspolitik geknüpft sind.
Infolgedessen ist die Unterstützung für die UP stark zurückgegangen. Die Partei ist in einer ständigen Krise und hat viel von ihrer aktiven Basis verloren. Sie ist mittlerweile eine leere Hülle und nur ein Schatten ihrer selbst. Das revolutionäre Potential, das dieser Bewegung inhärent war, wurde vergeudet, was zu einer weit verbreiteten Demoralisierung unter den fortgeschrittensten ArbeiterInnen und Jugendlichen geführt hat. Das ist das logische Resultat linksreformistischer Politik.
Der bedeutsamste Erfolg des Linksreformismus war mit Sicherheit die Wahl von Jeremy Corbyn zum Parteivorsitzenden der britischen Labour Party. Entscheidend dafür war, dass Corbyn die Unzufriedenheit mit dem Establishment und dem Status quo zum Ausdruck brachte. Er fuhr einen entscheidenden Sieg ein und erhielt bei der Vorsitzwahl fast 60 Prozent der Stimmen. Plötzlich standen die Tore weit offen und Hunderttausende neue Mitglieder traten der Partei bei, um Corbyn zu unterstützen. Sie waren bereit und willens, einen Kampf gegen die Parteirechte auszutragen.
Die herrschende Klasse war darüber sehr erschrocken. Die Voraussetzungen für eine grundlegende Transformation der Labour Party waren nun gegeben. Es gab Erwägungen, eine verpflichtende Wahl aller LP-KandidatInnen vor den Parlamentswahlen („mandatory reselection“), sowie die Möglichkeit der Abwahl, sollten sie gegen die Parteilinie verstossen, einzuführen. Zudem sollten die Rechte der Parteimitglieder gestärkt werden. Der rechte Flügel war verzweifelt. Mehrere „Blairites“ im Parlamentsklub verliessen daraufhin die Partei.
Der Rechtsreformismus hatte aber die Unterstützung der herrschenden Klasse und der Massenmedien, die eine regelrechte Hetzkampagne gegen Corbyn organisierten, um ihn zum Rücktritt zu zwingen. In der Folge wurde der Konflikt in der Labour Party offen ausgetragen und von der Parteirechten ständig befeuert.
Unter diesen Bedingungen schien eine Spaltung der Labour Party unvermeidlich. Die Blairites bereiteten eine solche Spaltung auch vor. Die Strategen des Kapitals waren ebenfalls zu dem Schluss gekommen, dass daran kein Weg vorbeiführen würde. Doch schlussendlich kam es anders, und die Anhänger Corbyns wurden von den Rechten einfach überrollt. Warum? Wie war das möglich, wenn Corbyn doch eine derart grosse Unterstützung seitens der Basis in der Labour Party genoss? Die Antwort liegt im Wesen des Linksreformismus.
Eine besonders üble Rolle in all dem spielte „Momentum“, eine linke Initiative in der Labour Party, die Corbyn unterstützte. Diese Gruppierung hätte für tausende AktivistInnen ein Kristallisationspunkt werden können. In verschiedensten Städten hielt „Momentum“ grosse Versammlungen ab, und überall fand die wütende und radikale Stimmung einen Ausdruck.
Doch die Parteirechte legte genau die Entschlossenheit an den Tag, die den Linken so offensichtlich fehlte. Die Führung von „Momentum“ fürchtete sich mehr vor der Basis als vor den Rechten. Bei jedem Schritt legten sie der Bewegung Zügel an und sabotierten die Kampagne zur Abwahl rechter Labour-Abgeordneter, die von den MarxistInnen von Anfang an und konsequent gefordert wurde. Dabei war diese Forderung bei der Parteibasis äusserst populär. Aufgrund der Rolle von „Momentum“ kann man sagen, dass der Basis in diesem Kampf beide Hände gebunden waren.
Doch verheerend wirkte sich auch die Rolle von Corbyn selbst aus. Die Linken, allen voran Corbyn, waren nicht bereit, einen ernsthaften Kampf gegen den rechten Flügel im Parlamentsklub der Labour Party zu führen. Die Führung von „Momentum“ verteidigte ihren Verrat mit den Worten: „Wir haben auf eine Abwahl der rechten Abgeordneten verzichtet, weil Jeremy die Mitglieder darum bat.“
Entschuldigt wurde diese Haltung stets mit der Aussage „Wir stehen für die Einheit der Partei.“ Sie fürchteten eine Spaltung des Parlamentsklubs. Dabei wäre dieser Schritt absolut notwendig gewesen, wenn die Linke dafür sorgen hätte wollen, dass sie nicht wieder alles verliert, was sie zuvor gewonnen hat. Doch genau das passierte letztendlich.
Die Rechten wussten, wofür sie stehen, und gingen aggressiv gegen die Linke und speziell gegen die marxistische Strömung vor. Sie waren bereit, den Kampf zu Ende zu führen, und zwar unabhängig davon, welche Kosten dieser Kampf erfordern würde.
Man muss nicht extra erwähnen, dass die Parteirechten im Kampf gegen die Linke keinerlei Zurückhaltung zeigten, sobald sie sich in der Offensive befanden. Gestützt auf die bürgerlichen Massenmedien liessen sie nichts unversucht, um Corbyn zu diskreditieren. Im Endeffekt verhängten sie gegen Corbyn wie auch gegen eine Reihe von linken Parteimitgliedern den Ausschluss.
Es erklärt sich von selbst, dass sich diese Angriffe allen voran gegen die marxistische Strömung richteten. Socialist Appeal wurde verboten, doch unsere Strömung organisierte einen sehr wirksamen Gegenangriff, der sehr viel Unterstützung bekam. Im Gegensatz dazu verhielt sich die Linke äusserst feige und weigerte sich, gegen Starmers Hexenjagd Widerstand zu leisten. Somit hatte die rechte Parteiführung unter Starmer freie Hand.
Corbyn repräsentierte also nur ein Zwischenspiel, das zwar sehr vielversprechend begonnen hatte, aber letztlich mit einer gewaltigen Schlappe endete. Tausende Menschen haben seither angewidert die Partei verlassen, und die Linke wurde vollständig unterdrückt. Die Hoffnungen, die Corbyn geweckt hatte, waren zerstört und wichen einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber der Labour Party.
Nach der Niederlage der Labour-Linken entwickelt sich die Situation nun in eine völlig andere Richtung. Das ist aber nicht das Ende der Geschichte. Sowohl aus objektiven wie auch aus subjektiven Gründen ergibt sich, dass Grossbritannien in der Krise des europäischen Kapitalismus eine besondere – wenn nicht die – zentrale Rolle einnehmen wird. War es vor ein paar Jahren noch das stabilste Land in Europa, so ist es nun das wahrscheinlich instabilste. Es ist nun eines der schwächsten Glieder in der Kette des europäischen Kapitalismus.
Nach dieser Niederlage auf der politischen Ebene wenden sich die ArbeiterInnen nun dem ökonomischen Klassenkampf zu. Wir sehen bereits jetzt den Beginn einer Radikalisierung in den Gewerkschaften. Früher oder später wird die Regierung von Boris Johnson stürzen.
Das Pendel wird zweifelsohne in der Zukunft wieder nach links schwingen, vor allem wenn die Labour Party unter der Führung von Keir Starmer und den Blairites unter den Bedingungen einer tiefen sozialen und wirtschaftlichen Krise an die Macht kommt. Dann werden alle inneren Widersprüche in der Labour Party, die vorübergehend unterdrückt wurden, wieder an die Oberfläche kommen.
Das wird für die marxistische Strömung grosse Möglichkeiten eröffnen. Alles hängt nun davon ab, ob wir bis dahin stark genug werden. Wir repräsentieren zwar noch immer einen sehr kleinen Faktor, doch die britische Sektion der IMT verfügt mittlerweile über einen erfahrenen Stock an Kadern, eine starke Basis in der Jugend, ist landesweit vertreten, und unsere Zeitung ist in der Arbeiterbewegung weithin bekannt.
Auf jeden Fall sind wir heute bei weitem stärker als die Kräfte, auf die sich Trotzki in Grossbritannien in den 1930ern stützen konnte, und unser politisches Niveau ist bei weitem höher. Mit der richtigen Taktik sind die Möglichkeiten für den Aufbau und das Wachstum der Organisation aussergewöhnlich gut.
Die gegenwärtige Krise, die wir weltweit sehen können, unterscheidet sich qualitativ von den Krisen der Vergangenheit. In den letzten beiden Jahren haben Millionen ganz gewöhnlicher Menschen langsam aber sicher begonnen, politische Schlüsse aus dieser Krise zu ziehen. Überall herrscht unter der scheinbar ruhigen Oberfläche eine enorme Unzufriedenheit. Die Stimmung der Massen ist gekennzeichnet von Wut, Ärger, einem brennenden Ungerechtigkeitsempfinden und vor allem Frustration – nicht zu ertragender Frustration.
Sie reden wenig darüber, aber sie murren, weil die herrschenden Zustände nicht länger toleriert werden können. Die Idee, dass in der jetzigen Gesellschaft etwas grundlegend falsch läuft, findet immer mehr Verbreitung. Unmittelbar sind die meisten noch nicht bereit, selbst gegen die etablierte Ordnung aktiv zu werden.
Früher oder später werden sie aber aktiv werden und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, und zwar unabhängig davon, ob es die notwendige politische Führung gibt oder nicht. Wir haben in den letzten Jahren schon etliche Beispiele einer derartigen Entwicklung gesehen. Denken wir nur an die revolutionären oder vorrevolutionären Massenproteste in Chile, im Sudan, in Myanmar, im Libanon, in Hong Kong und weiteren Ländern.
Zu Beginn dieses Jahres kam zu dieser Liste noch der Volksaufstand in Kasachstan hinzu, der durch Proteste von Ölarbeitern gegen steigende Treibstoffpreise losgetreten wurde. Das war ein Warnschuss, denn die Faktoren, die zu diesem Aufstand führten, sind auch in vielen anderen Ländern vorhanden.
Die herrschende Klasse ist sich dieser Gefahr bewusst, und die Kapitalstrategen machen düstere Vorhersagen für das kommende Jahr. Die Pandemie hat die Arbeiterbewegung eine Zeit lang stark eingeschränkt. Doch nun gibt es Anzeichen des Wiedererwachens des Klassenkampfs. Die steigenden Preise und sinkenden Lebensstandards führen wieder zu mehr Streiks und Arbeitskämpfen.
Die demagogischen Aufrufe zum nationalen Schulterschluss stossen auf Skepsis. Dazu kommt, dass in der Pandemie der Zynismus, die Gier und der Egoismus der herrschenden Klasse offen zu Tage traten, und das stösst vielen sauer auf. Die Stimmung in der Bevölkerung ist geprägt von Desillusionierung und Wut. Dies hat sich schon über Jahre aufgebaut, mittlerweile ist diese Stimmung aber nicht mehr zu übersehen. Die Zustimmung zum Status quo und zu den Regierungen nimmt rapide ab. Aber all das führt nicht automatisch zu einer erfolgreichen sozialistischen Revolution.
Trotzki schrieb einmal über die Spanische Revolution, dass die spanische Arbeiterklasse nicht nur einmal, sondern zehnmal die Macht erobern hätte können. Doch er erklärte auch, dass selbst die grösste Massenbewegung nichts lösen kann, wenn sie nicht über eine Führung verfügt, die den Aufgaben der Zeit gewachsen ist.
Es gibt viele Parallelen zwischen der heutigen Situation und den 1920ern und 1930ern. Doch es gibt auch grosse Unterschiede zu damals. Vor dem Zweiten Weltkrieg konnte eine vorrevolutionäre Situation nicht allzu lange andauern und musste relativ schnell in die eine oder andere Richtung aufgelöst werden. Entweder siegte die Revolution oder die Konterrevolution (der Faschismus) zerschlug die revolutionäre Bewegung.
Aber das ist nicht länger der Fall. Auf der einen Seite verfügt die herrschende Klasse, anders als in der Vergangenheit, über keine soziale Massenbasis zum Aufbau der reaktionären Kräfte. Auf der anderen Seite wirkt die beispiellose Degeneration der Arbeiterorganisationen wie ein gewaltiger Bremsklotz, der es dem Proletariat unmöglich macht, die Macht zu erobern. Die gegenwärtige Krise wird sich daher noch sehr lange ziehen. Sie kann Jahre andauern, mit Auf- und Abschwüngen im Klassenkampf. Wie lange dieser Prozess genau andauern wird, kann unmöglich vorhergesagt werden.
Wenn wir sagen, dass sich diese Krise lange ziehen wird, heisst das nicht, dass es sich um einen friedlichen und ruhigen Prozess handeln wird. Ganz im Gegenteil! Wir sind längst in die turbulenteste und unruhigste Periode der jüngeren Geschichte eingetreten. Diese Krise wird ein Land nach dem anderen erfassen, und die Arbeiterklasse wird viele Gelegenheiten vorfinden, um die Macht zu erobern.
Überraschende und scharfe Wendungen sind in dieser Situation angelegt. Binnen 24 Stunden kann alles auf dem Kopf stehen. Und wir müssen ehrlich zugeben, dass die Gefahr besteht, dass wir zu sehr in Routinen verfallen, immer an denselben alten Methoden festhalten und deshalb nicht alle neuen Möglichkeiten zum Aufbau einer starken revolutionären Bewegung am Schopf ergreifen.
In Zeiten wie diesen müssen MarxistInnen ein hohes Mass an Energie, Entschlossenheit und taktischer Flexibilität an den Tag legen. Sie müssen alles unternehmen, um die Schichten, die eine revolutionäre Antwort auf die Krise suchen, zu organisieren.
Die gegenwärtige Situation kann einige Jahre so weitergehen, ohne dass es zu einer entscheidenden Lösung kommt. Aber das ist aus unserer Perspektive nicht unbedingt schlecht. Im Gegenteil, es spielt uns in die Hände, weil es uns Zeit gibt – wenn auch nicht alle Zeit der Welt! – unsere Organisation aufzubauen und zu festigen, die besten ArbeiterInnen und Jugendlichen für den Marxismus zu gewinnen, sie auszubilden und zu schulen.
Überall sehen wir Regierungskrisen und eine zunehmend kritische Stimmung in der Bevölkerung, die sich gegen das Establishment und all seine Institutionen richtet. In ganz besonderem Masse trifft dies auf die Jugend zu, die besonders offen ist für revolutionäre Ideen.
Wir stehen am Beginn eines grossen Lernprozesses. Dieser mag uns sehr langsam erscheinen. Doch die Geschichte hat ihre eigenen Bewegungsgesetze, und der Verlauf der Prozesse hat seine eigene Geschwindigkeit, die von vielen Faktoren bestimmt wird und im Vorhinein nur schwer zu bestimmen ist.
Wir haben aus der ganzen Welt Berichte, die darauf hindeuten, dass in der Jugend eine Bewegung im Entstehen begriffen ist, die ein kommunistisches Ziel verfolgt. Selbst in den konservativsten Gebieten des Südens der USA gibt es eine beachtliche Schicht von radikalisierten Jugendlichen, die sich selbst als KommunistInnen sehen.
Das ist kein isoliertes Phänomen. Das sind ganz wichtige Symptome, die erkennen lassen, dass sich in der Gesellschaft etwas Grundlegendes verändert, und MarxistInnen müssen versuchen, diese Entwicklung zu nutzen.
Wir müssen den Tatsachen ins Auge schauen: Der subjektive Faktor wurde aus einer Reihe von objektiven Gründen, die wir an dieser Stelle nicht näher ausführen müssen, weit zurückgeworfen. In organisierter Form existiert der subjektive Faktor aber zumindest in einer embryonalen Form in Gestalt der International Marxist Tendency (IMT).
Doch ein Embryo ist noch immer nur ein abstraktes Potential. Damit wir unsere Aufgabe erledigen und eine reale Kraft im Klassenkampf werden können, müssen wir uns über dieses Stadium hinaus entwickeln.
Die IMT hat in der vergangenen Periode beeindruckende Fortschritte gemacht. In allen Ländern wachsen wir, während andere sogenannte linke Gruppen, die dem Marxismus schon vor langem den Rücken zugewandt haben, überall in der Krise sind, sich spalten und zusammenbrechen.
Unsere positive Entwicklung wurde durch zwei Schwerpunkte in unserer Arbeit möglich gemacht: eine unnachgiebige Fokussierung auf Theoriearbeit und eine Orientierung auf die Jugend. Wie schon Lenin sagte: Wer die Jugend hat, dem gehört die Zukunft. Dennoch müssen wir uns eingestehen, dass wir für die gewaltigen Herausforderungen, denen wir dann ausgesetzt sein werden, wenn wir am wenigsten damit rechnen, noch lange nicht bereit sind.
Um von einer revolutionären oder vorrevolutionären Situation voll profitieren zu können, muss eine revolutionäre Organisation zumindest über ein Mindestmass an erfahrenen Kadern und eine schlagkräftige Organisation verfügen.
Eine revolutionäre Organisation, die in der Bewegung eine führende Rolle einnehmen will, braucht eine gewisse Grösse, um von der Arbeiterklasse überhaupt wahrgenommen zu werden. So etwas kann nicht improvisiert oder in der Hitze des Gefechts aufgebaut werden.
In letzter Instanz hängt alles von unserem Wachstum ab. Und das braucht seine Zeit. Trotzki schrieb im November 1931: “In der gegenwärtigen Weltsituation ist Zeit das wertvollste Gut.” Und diese Worte sind heute treffender als jemals zuvor in der Geschichte.
Wenn wir an die Arbeit gehen, dann muss uns diese Dringlichkeit bewusst sein. Denn wenn unsere Kräfte für die bevorstehenden Herausforderungen der kommenden Jahre nicht ausreichen, dann werden wichtige Möglichkeiten für uns ungenutzt bleiben. Wir müssen auf grosse Ereignisse vorbereitet sein! Unsere Losung muss jene des grossen französischen Revolutionärs Danton sein:
“De l’audace, encore de l’audace, et toujours de l’audace!”
Kühnheit, Kühnheit, und abermals Kühnheit!
geschrieben von Alan Woods im Januar 2022
[1] Der Calvinismus ist eine religiöse Strömung, die in der Reformation entstand und die von dem aufsteigenden Bürgertum, insbesondere jenem im anglosächsischen Raum, aufgegriffen wurde.
[2] Der extrem linke Flügel der Englischen Revolution, der auch das Privateigentum in Frage stellte und für eine Weiterführung der Revolution war.
[3] Eine religiös motivierte Bewegung, die calvinistische Grundsätze vertrat und in der Englischen Revolution vom vorwärtstreibenden Teil rund um Oliver Cromwell verkörpert wurde.
[4] W. I. Lenin (1902/1978): Was tun, in: LW Bd. 5. Dietz Verlag, Berlin, S. 379f.
[5] W. I. Lenin (1917/1967): Rede in der Versammlung bolschewistischer Delegierter am 4. (17.) April 1917, in: LW Bd. 36. Dietz Verlag, Berlin, S. 425.
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