Während einer kapitalistischen Krise treten die Klassenkonflikte zwischen Kapital und Arbeit deutlicher an die Oberfläche. Wir wollen hier diesen Zusammenhang genauer erläutern und der Frage nachgehen, wie sich das in einer Veränderung des politischen Bewusstseins der Menschen ausdrückt und was das wiederum für revolutionäre Kräfte bedeutet.
Die Auswirkungen der kapitalistischen Krise konnten in den letzten acht Jahren von der herrschenden Klasse nicht mehr mit den traditionellen Instrumenten bekämpft werden. Die Profitraten sinken, weil der Warenabsatz schrumpft und der Mehrwert teilweise nicht realisiert werden kann.
Um also die Höhe der Profitraten trotz des stagnierenden Warenabsatzes aufrecht zu erhalten, verfolgt das Kapital in der gegenwärtigen Krise zwei Strategien: Zum einen die Politik der Austerität, zum anderen die direkte Steigerung der Ausbeutungsrate der Arbeitskraft, d.h. die Senkung der Löhne oder die Verlängerung der Arbeitszeit bei gleichbleibendem Lohn.
Beispiele für Versuche des Kapitals, diese Ausbeutungsrate zu steigern, sind etwa die betrieblichen Massnahmen in der Schweiz nach Aufhebung des Franken-Euro-Mindestkurses, wobei es gleichzeitig zu Massenentlassungen und Arbeitszeiterhöhungen kam, aber auch die aktuelle Arbeitsgesetzreform in Frankreich. Bei letzterem Beispiel nimmt der Versuch der Ausdehnung der Ausbeutungsrate eine politische Form an, geht also über die unmittelbar betriebliche Ebene hinaus. Vergangene Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung wie rechtliche Regulierungen der Arbeitsbedingungen sollen von der Politik wieder gelockert werden.
Auf der politischen Ebene sehen wir aber auch andere Formen von Angriffen der Kapitalisten: Kürzungen der öffentlichen Dienste, im Sozialstaat, dem Gesundheits- oder dem Bildungswesen, und das in praktisch allen kapitalistischen Ländern. Grund dafür sind die immensen Staatsschulden, die sich während der Krise als Folge der nach dem Crash von 2008 erfolgten Bankenrettungen und vor allem der gigantischen Steuersenkungen für Unternehmen und KapitaleigentümerInnen der letzten 10 bis 20 Jahre angesammelt haben. Durch die Sparpolitik findet nun auch in diesem Bereich eine massive Rücknahme vergangener Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung statt. Es wird also quasi eine Kompensation der Mindereinnahmen durchgeführt, welche durch Steuergeschenke ans Kapital entstanden sind. Dadurch werden also auch in diesem Bereich die Folgen der sinkenden Profite in voller Wucht auf öffentliche Angestellte, RentnerInnen, SozialhilfebezügerInnen und die Jugend – also auf die ArbeiterInnenklasse – abgewälzt.
Natürlich bleibt die ArbeiterInnenklasse angesichts der zunehmenden Angriffe durch das Kapital auf ihren Lebensstandard aber nicht einfach passiv. In Griechenland fanden z.B. seit 2010 mittlerweile über 40 Generalstreiks und unzählige Grossdemonstrationen gegen die von EZB, IWF und EU verordnete Sparpolitik statt. In Spanien sahen wir die Massendemonstrationen der Indignados-Bewegung 2011/2012 und schliesslich müssen wir auch die aktuellen gewaltigen Streikbewegungen in Frankreich und Belgien als Ausdruck des direkten Widerstands der ArbeiterInnenklasse gegen die Angriffe der Kapitalisten betrachten.
Politische Radikalisierung
Der kontinuierliche Angriff des Kapitals auf den Lebensstandard der Menschen und auf vergangene Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung zerstört unweigerlich das Vertrauen in das herrschende System unter weiten Teilen der ArbeiterInnenklasse. Wir verwenden in diesem Zusammenhang immer wieder den Ausdruck, dass der Versuch der Bourgeoisie, das ökonomische Gleichgewicht wiederherzustellen, gleichzeitig das soziale und politische Gleichgewicht zerstört. Die Periode ab 2008 ist daher nicht nur eine Periode der ökonomischen Krise, sondern sie ist auch eine Periode der politischen Radikalisierung.
In Griechenland brach unter der Radikalisierung der Bevölkerung das traditionelle Zweiparteiensystem, bestehend aus der sozialdemokratischen PASOK und der konservativen Nea Dimokratia, zusammen. Gleichzeitig sahen wir einen rasanten Aufstieg der Linkspartei Syriza, welche mit einem relativ radikalen Anti-Austeritäts-Programm ihren Wähleranteil von 4,6 % in den Parlamentswahlen von 2009 auf 26,6 % bei den Europaratswahlen 2014 steigern konnte und schliesslich im Januar 2015 mit 36,3 % stärkste Kraft wurde. Die linke Formation PODEMOS in Spanien legte ebenfalls einen kometenhaften Aufstieg zurück. Sie erreichte kurz nach ihrer Gründung bei den Europaratswahlen 2014 aus dem Stand 8 % der Stimmen und wurde bei den wiederholten Parlamentswahlen im Juni 2016 mit 21,12 % zur drittstärksten politischen Kraft.
Doch der Aufstieg von neuen linken Kräften ist nicht bloss ein Phänomen der südeuropäischen Länder, wo sich die Auswirkungen der kapitalistischen Krise bisher am heftigsten bemerkbar machten, sondern ist mittlerweile auch in führenden kapitalistischen Zentren wie Grossbritannien und den USA bemerkbar, wo wir den überwältigenden Sieg des Parteilinken Jeremy Corbyn in den Leadership elections der Labour Party sahen, genauso wie die Massenmobilisierungen rund um den Wahlkampf von Bernie Sanders – der sich als Sozialist bezeichnet – in den USA.
Die radikale Rhetorik, welche ExponentInnen dieser Parteien und Bewegungen verwenden und damit auf offene Ohren der Bevölkerung stossen, zeigt, welche Wut sich gegen die herrschende Klasse und ihr System bereits angestaut hat. Abgelehnt werden nicht mehr einzelne PolitikerInnen oder einzelne Konterreformen der Regierungen, sondern das Establishment als ganzes. So etwa PODEMOS-Generalsekretär Pablo Iglesias, wenn er vom Kampf gegen die herrschende „Kaste“ spricht oder Bernie Sanders, wenn er zur „politischen Revolution gegen die Milliardärsklasse“ aufruft. Letztendlich drückt dies das wachsende Bewusstsein darüber aus, dass herrschende Politik und Wirtschaft eben nicht zum Zweck des „Gemeinwohls“ funktionieren, sondern im Interesse einer reichen und mächtigen Minderheit.
Diese politischen Ausdrücke des Klassenkampfs sind deswegen so zentral, weil sie die bislang zersplittert stattfindenden “Klassenscharmützel” wie Streiks, Demonstrationen und Proteste jetzt auf eine gesellschaftliche Ebene heben. Durch eine Organisation – sei dies eine Partei oder schon nur eine kämpferische Gewerkschaft – können diese verschiedenen Kämpfe erst zu einem Kampf der gesamten ArbeiterInnenklasse gebündelt werden.
Diese neuen linken Formationen sind eine immense Gefahr für die herrschende Klasse. Jahrelang sass diese fest im Sattel und konnte auf eine politische Durchsetzung ihrer Klasseninteressen durch ein traditionelles Parteiensystem aus systemkonformen bürgerlichen Parteien und einer angepassten Sozialdemokratie (bzw. auf zwei bürgerliche Parteien im Fall der USA) vertrauen. Diese jahrelange politische Stabilität ist nun gefährdet. Auch wenn weder Sanders, Corbyn noch Pablo Iglesias bewusste Revolutionäre sind, stützen sie sich dennoch auf eine Bewegung von radikalisierten Schichten der ArbeiterInnenklasse und der Jugend und stellen entsprechende Forderungen, welche die herrschende Klasse in Bedrängnis bringen.
Krise und Rechtspopulismus
Doch die Bildung eines Klassenbewusstseins oder gar eines revolutionären Bewusstseins ist bei Weitem kein Automatismus, der aus der Verschärfung der Krise linear hervorgeht. Die Angst und die Verunsicherung über einen sinkenden Lebensstandard und die wachsende Perspektivlosigkeit müssen nicht zwingend einen progressiven politischen Ausdruck finden. Der Aufstieg der ganzen rechtspopulistischen Parteien wie des Front National, der AfD oder der UKIP sind ebenso Ausdrücke der zunehmenden Ablehung der vorherrschenden Verhältnisse. Der Prozess der Radikalisierung nimmt in diesem Sinne die Form einer zunehmenden Polarisierung der politischen Landschaft an; das Bewusstsein der Menschen ähnelt also in der momentanen Periode ein wenig einem Pendel, welches jeweils nach rechts oder links ausschlägt. Auf welche Seite es aber ausschlägt, geschieht nicht rein zufällig, sondern ist abhängig davon, welche politischen Kräfte den Menschen Antworten auf die Krise sowie Perspektiven und Lösungen anbieten. Ein Pessimismus à la Yannis Varoufakis, der meint, dass kapitalistische Krisen quasi automatisch zum Faschismus führten, ist deshalb absolut verkehrt.
Die Stärke der Rechten ist nichts weiter als die Schwäche der Linken. Ein zentraler Grund, warum die Radikalisierung der Bevölkerung derweil widersprüchliche Formen annimmt, ist die historische Schwäche der organisierten ArbeiterInnenbewegung. Die völlige Entfremdung der Führung der sozialdemokratischen und der (ex-)kommunistischen Parteien von der arbeitenden Klasse ist mitverantwortlich für den wachsenden Einfluss des Rechtspopulismus, der quasi das Vakuum ausfüllen kann, welches eine fehlende linke Alternative hinterlässt.
In Frankreich wurde beispielsweise nach den Regionalwahlen 2015 häufig von einem Rechtsrutsch gesprochen, da der Front National aus diesen als stärkste Kraft hervorging. Gleichzeitig war aber auch die Wahlbeteiligung historisch tief – ein offensichtlicher Ausdruck einer Desillusionierung über den gesamten herrschenden Politikbetrieb. Genau diese Stimmung erwies sich letztendlich auch als Nährboden für die momentane Streikbewegung gegen die neue Arbeitsgesetzreform. Ein Kampf, der laut Umfragen auch von 67 % der Front National-WählerInnen unterstützt wird. Die gleiche Radikalisierung, welche die Rechtspopulisten als Scheinopposition stärkt, würde also zweifellos auch das Potential für eine radikale linke Alternative bieten.
Durch ein klassenkämpferisches Programm könnte eine revolutionäre Partei so die Spaltung der ArbeiterInnenklasse anhand der Hautfarbe, Religion oder Nationalität überwinden, weil die gemeinsamen Klasseninteressen in den Vordergrund gestellt würden. Im Unterschied zu den RechtspopulistInnen (welche letztlich genau wie die klassisch bürgerlichen Parteien die kapitalistischen Verhältnisse verteidigen) kann eine ArbeiterInnenpartei ausserdem eine authentische Strategie formulieren, wie für den Erhalt des Lebensstandards zu kämpfen ist.
Im Unterschied zu den ReformistInnen (zu denen auch Tsipras, Iglesias, Sanders und Corbyn gehören) gehen wir aber klar davon aus, dass dies den Rahmen des Kapitalismus sprengt. Jede substantielle Verbesserung des Lebensstandards der Lohnabhängigen trifft heute auf den erbittertsten Widerstand des Kapitals, wie das Beispiel Griechenland eindrücklich bewiesen hat; Tsipras war nicht bereit, mit dem Kapitalismus an sich zu brechen und musste folglich dessen Spielregeln akzeptieren. Anstatt Reformen führt die Syriza-Regierung nun deswegen Konterreformen durch. Die Überwindung des Kapitalismus bleibt daher die einzige Möglichkeit, die Krise zu überwinden und den Lebensstandard der ArbeiterInnenklasse zu sichern. Um aber die lohnabhängige Bevölkerung für dieses Ziel zu gewinnen, brauchen wir Massenorganisationen mit einem klaren revolutionären Programm. Solange die Führungen dieser neuen linken Formationen nicht bereit sind, mit dem Kapitalismus als solchem zu brechen, werden sie nicht fähig sein, bedeutende Reformen durchzusetzen. Deswegen bleibt unsere Aufgabe weiterhin vorerst der Aufbau von starken marxistischen Strömungen in der ArbeiterInnenbewegung und der Kampf für einen revolutionären Kurs.
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