Dieses Dokument wurde von den Delegierten auf dem Weltkongress 2021 der Internationalen Marxistischen Tendenz angenommen. Es enthält unsere allgemeine Analyse der wichtigsten Prozesse in der Weltpolitik in einer Zeit, die von beispiellosen Krisen und Turbulenzen geprägt ist. Angesichts des Dynamits im Fundament der Weltwirtschaft und der Corona-Pandemie, die immer noch einen Schatten auf die globale Situation wirft, führen alle Wege zu einer Verschärfung des Klassenkampfes (Originalversion auf Englisch hier).
„So hat die Krisis wie ein braver alter Maulwurf gewühlt.“ Marx an Engels, 22. Februar 1858
Das vorliegende Dokument sollte gemeinsam mit dem Dokument gelesen werden, das wir im September 2020 geschrieben haben. Es wird sich von den früheren Weltperspektivdokumenten etwas unterscheiden.
In früheren Perioden, als die Ereignisse sich gemächlicher entwickelten, konnten wir zumindest noch in groben Zügen auf viele verschiedene Länder eingehen. Jetzt hat sich das Tempo der Ereignisse jedoch so weit beschleunigt, dass man ein ganzes Buch bräuchte, um alles zu behandeln. Der Zweck von Perspektiven besteht nicht darin, einen Katalog revolutionärer Ereignisse zu erstellen, sondern die grundlegenden Prozesse aufzudecken.
Wie Hegel in der Einführung seiner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte erklärte, ist es „allerdings das Verlangen nach vernünftiger Einsicht, nach Erkenntnis, nicht bloss nach einer Sammlung von Kenntnissen, was als subjektives Bedürfnis bei dem Studium der Wissenschaften vorausgesetzt werden müsste.“
Wir haben es hier mit allgemeinen Prozessen zu tun und können nur einige Länder betrachten, anhand derer wir diese Prozesse in der gegenwärtigen Etappe am deutlichsten darstellen können. Andere Länder werden natürlich in separaten Artikeln behandelt.
Das Jahr 2021 begann mit dramatischen Ereignissen. Die Krise des Weltkapitalismus schlägt Wellen, die sich von einem Land und Kontinent zum anderen ausbreiten. Auf allen Seiten gibt es das gleiche Bild von Chaos, wirtschaftlicher Verwerfung und Klassenpolarisierung.
Das neue Jahr hatte kaum begonnen, als schon ein rechtsextremer Mob auf Drängen des damaligen US-Präsidenten Donald Trump das US-Kapitol in Washington stürmte und das Zentrum des westlichen Imperialismus wie ein gescheiterter Staat aussehen liess.
In Verbindung mit den weitaus grösseren Protesten der Black Lives Matter-Bewegung im vergangenen Sommer zeigen diese Ereignisse, wie tief die Polarisierung der US-Gesellschaft geworden ist.
Darüber hinaus zeigten grosse Proteste in Indien, Kolumbien, Chile, Belarus und Russland den gleichen Prozess: Die Verbitterung der Massen nimmt zu, und der herrschenden Klasse gelingt es nicht mehr, so zu regieren wie früher.
Diese Weltperspektiven sind anders als alle früheren. Die Pandemie, die wie eine schwarze Wolke über der ganzen Welt hängt und Millionen Menschen Elend, Leiden und Tod aussetzt, verkompliziert sie enorm.
Die Pandemie ist immer noch völlig ausser Kontrolle. Während wir diesen Entwurf verfassen, gibt es weltweit mehr als 100 Millionen Krankheitsfälle und fast drei Millionen Todesfälle. Der einzige Präzedenzfall für solche Zahlen ist ein Weltkrieg. Und sie steigen unaufhaltsam weiter an.
Diese schreckliche Geissel hat verheerende Auswirkungen in armen Ländern auf der ganzen Welt und hat auch einige der reichsten Länder ernsthaft betroffen.
In den USA gibt es 30 Millionen Fälle, und die Zahl der Todesfälle hat die Marke von einer halben Million überschritten. Mit über 4 Millionen Fällen und weit über 100.000 Todesfällen ist die Pro-Kopf-Inzidenz in Grossbritannien eine der höchsten der Welt.
Die gegenwärtige Krise ist daher keine gewöhnliche Wirtschaftskrise. Es handelt sich für Millionen von Menschen buchstäblich um Leben und Tod. Viele dieser Todesfälle hätten mit geeigneten Maßnahmen frühzeitig vermieden werden können.
Der Kapitalismus kann das Problem nicht lösen: Er ist selbst das Problem.
Diese Pandemie führt dazu, dass die unerhörte Kluft zwischen Arm und Reich blossgelegt wird. Sie hat die tiefen Bruchlinien enthüllt, die die Gesellschaft spalten. Die Kluft zwischen denen, die dazu verurteilt sind, krank zu werden und zu sterben, und denen, die es nicht sind.
Sie hat die Verschwendung des Kapitalismus, sein Chaos und seine Ineffizienz entlarvt und bereitet dem Klassenkampf in jedem Land der Welt den Boden.
Bürgerliche Politiker lieben es, die Situation mit militärischen Metaphern zu beschreiben. Sie sagen, wir führen Krieg gegen einen unsichtbaren Feind: dieses schreckliche Virus. Ihre Lösung ist, dass sich alle Klassen und Parteien vereinigen müssen – hinter der bestehenden Regierung. Doch Worte sind von Taten durch eine enorme Kluft getrennt.
Die Argumentation für Planwirtschaft, Internationalismus und internationale Planung ist nicht zu widerlegen. Die Krise ist global. Das Virus achtet keine Grenzen noch Grenzkontrollen. Die Situation erfordert ein internationales Vorgehen, die Bündelung aller wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Mobilisierung aller Ressourcen des Planeten im Dienst eines wirklich globalen Aktionsplans.
Stattdessen erleben wir ein abstossendes Schauspiel, worin Grossbritannien und die EU sich um knappe Impfstoffe balgen, während einigen der ärmsten Länder der Zugang zu Impfstoffen praktisch verweigert wird.
Aber warum gibt es überhaupt einen Mangel an Impfstoffen? Die Probleme der Impfstoffherstellung – um nur ein Beispiel zu nennen – spiegeln den Widerspruch zwischen den dringenden Bedürfnissen der Gesellschaft und den Mechanismen der Marktwirtschaft wider.
Wenn wir wirklich Krieg gegen das Virus führten, würden die Regierungen alle ihre Ressourcen für diese eine Aufgabe mobilisieren. Rein vom Standpunkt der Vernunft aus sollte man meinen, dass die beste Politik darin besteht, die Impfstoffproduktion anzukurbeln.
Die Produktionskapazität muss erweitert werden, was nur durch die Errichtung neuer Fabriken möglich ist. Die grossen privaten Impfstoffhersteller haben jedoch kein Interesse daran, die Produktion massiv auszubauen, weil ihnen das finanziell schaden würde.
Wenn sie die Produktionskapazität erhöhen würden, so dass die ganze Welt innerhalb von sechs Monaten versorgt würde, würden die neu gebauten Fabriken danach sofort leer stehen. Die Profite wären daher viel geringer als in der gegenwärtigen Situation, die es den bestehenden Werken erlaubt, über Jahre hinweg bei voller Auslastung zu produzieren.
Ein weiteres Hindernis für die Massenproduktion des Impfstoffs ist die Weigerung von Big Pharma, die Rechte an geistigem Eigentum an „eigenen“ Impfstoffen (in den meisten Fällen mit gewaltiger finanzieller Unterstützung von Seiten des Staates entwickelt) aufzugeben, damit andere Unternehmen sie kostengünstig herstellen können.
Die Pharmaunternehmen machen Gewinne in zweistelliger Milliardenhöhe, doch sowohl bei der Produktion als auch bei der Versorgung gibt es überall Engpässe. Indessen schweben Millionen Menschen in Lebensgefahr.
In ihrem Drängen, die Produktion (und damit die Profite) wieder in Gang zu bringen, nehmen Politiker und Kapitalisten keine Rücksicht auf Verluste. Arbeiter werden ohne angemessene Schutzausrüstung an überfüllte Arbeitsplätze zurückgedrängt, und dies ist ein Todesurteil für viele Arbeiter und ihre Familien.
Alle Hoffnungen der bürgerlichen Politiker stützten sich auf neue Impfstoffe. Die Verteilung der Impfstoffe ist allerdings ein Fiasko. Die Unfähigkeit, die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle zu halten, erhöht das Risiko, dass sich neue, impfstoffresistente Mutationen entwickeln. Das hat schwerwiegende Auswirkungen, nicht nur auf das Leben und die Gesundheit von Menschen, sondern auch auf die Wirtschaft.
Die aktuelle Wirtschaftskrise sei die schwerste seit 300 Jahren, sagt die Bank von England. 2020 wurden weltweit 225 Millionen Jobs vernichtet, viermal mehr als 2009.
Die sogenannten Schwellenländer werden mit dem Rest nach unten gezogen. Indien, Brasilien, Russland und die Türkei stecken alle in der Krise. Die Wirtschaft Südkoreas schrumpfte im vergangenen Jahr zum ersten Mal seit 22 Jahren, staatlichen Subventionen im Wert von rund 283 Mrd. USD zum Trotz. In Südafrika erreichte die Arbeitslosigkeit im Jahr 2020 32,5 Prozent und das BIP ging um 7,2 Prozent zurück. Dies ist ein grösserer Rückgang als 1931 während der Weltwirtschaftskrise, und das, obwohl 10 Prozent des BIP in ein Konjunkturpaket gesteckt wurden.
Die Krise stürzt Millionen von Menschen immer tiefer in die Armut. Im Januar 2021 schätzte die Weltbank, dass 90 Millionen Menschen in extreme Armut gedrängt werden. Der Economist schrieb am 26. September 2020: „Die Vereinten Nationen sind noch pessimistischer. Sie definieren Menschen als arm, wenn sie keinen Zugang zu sauberem Wasser, Strom, ausreichend Nahrung und Schulen für ihre Kinder haben.
In Zusammenarbeit mit Forschern der Universität Oxford schätzen sie ein, die Pandemie könnte 490 Millionen Menschen in 70 Ländern in die Armut stürzen und damit die Fortschritte von fast einem ganzen Jahrzehnt zunichte machen.“
Das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen drückte es so aus: „In 79 Ländern mit operativer Präsenz des WFP, aus denen Daten verfügbar sind, sind bis zu 270 Millionen Menschen im Jahr 2021 akut lebensmittelunsicher oder einem hohen Risiko ausgesetzt. Das bedeutet einen beispiellosen Anstieg um 82% seit Beginn der Pandemie.“
Allein das gibt einen Eindruck vom globalen Ausmass der Krise.
Zusätzlich zu den Auswirkungen der Pandemie wird die globale ökologische Krise diese Situation wahrscheinlich noch verschärfen und die Armut und Ernährungsunsicherheit weiter anheizen. Die kapitalistische Ausbeutung der Umwelt droht wichtige ökologische Systeme an den Rand des Zusammenbruchs zu bringen. Wir haben eine Zunahme von Konflikten um knappe Wasserressourcen und Umweltzerstörung erlebt, die unweigerlich zu sozialer Instabilität und massiver Klimamigration führen werden.
Die allgemeine Instabilität auf der ganzen Welt ist organisch mit wachsender Armut verbunden. Sie ist Ursache und Wirkung zugleich. Sie ist die grundlegendste Ursache für viele der stattfindenden Kriege und Bürgerkriege. Äthiopien ist nur ein Beispiel dafür.
Äthiopien wurde als Modell dargestellt. In der Zeit von 2004 bis 2014 wuchs die Wirtschaft um 11 Prozent pro Jahr und es galt als Land, in das man investieren konnte. Nun, mit dem Ausbruch der Unruhen in der Provinz Tigray, in der 3 Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe brauchen, wurde das Land ins Chaos gestürzt.
Das ist kein Einzelfall. Die Liste der Länder, die in der vergangenen Zeit von Kriegen betroffen waren, ist sehr lang, und der Katalog menschlichen Leides ist entsetzlich:
Afghanistan: zwei Millionen Todesfälle; Jemen: 100.000 Todesfälle; die mexikanischen Drogenkriege führten zu über 250.000 Toten; der Krieg gegen die Kurden in der Türkei, 45.000 Todesfälle; Somalia, 500.000 Todesfälle; Irak, mindestens eine Million Todesfälle; Südsudan rund 400.000 Todesfälle.
In Syrien schätzten die Vereinten Nationen die Zahl der Todesfälle auf 400.000, was jedoch zu gering erscheint. Die wirkliche Zahl wird möglicherweise nie bekannt werden, aber mit Sicherheit beträgt sie mindestens 600.000. In den schrecklichen Bürgerkriegen im Kongo kamen wahrscheinlich über vier Millionen Menschen ums Leben. Aber auch hier kennt niemand die wirkliche Anzahl. In jüngerer Zeit hatten wir den Konflikt in Berg-Karabach.
Und so geht die Liste weiter und weiter. Man hält solche Dinge nicht mehr für geeignet für die grossen Schlagzeilen. Aber sie drücken sehr deutlich aus, was Lenin einst gesagt hat: Der Kapitalismus ist Schrecken ohne Ende. Das Fortbestehen des Kapitalismus droht, in einem Land nach dem Anderen die Bedingungen für die Barbarei zu schaffen.
Aus marxistischer Sicht ist das Studium der Ökonomie keine abstrakte, keine akademische Frage, denn die Ökonomie beeinflusst tiefgreifend die Entwicklung des Bewusstseins aller Klassen.
Wo man gegenwärtig auch hinschaut, sieht man vor allen Dingen die Krise, nicht nur die Wirtschaftskrise, sondern eine Krise des Regimes. Es gibt klare Anzeichen dafür, dass die Krise so schwerwiegend und tiefgreifend ist, dass die herrschende Klasse die Kontrolle über die traditionellen Instrumente verliert, mit denen sie die Gesellschaft bislang regiert hat.
Das führt dazu, dass sie sich immer mehr ausserstande sieht, die Ereignisse zu kontrollieren. Das sieht man in den USA besonders deutlich, aber es gilt auch für viele weitere Länder. Es reicht, nur die Namen Johnson und Bolsonaro zu nennen, um diesen Punkt klar zu machen.
Die USA nehmen jetzt einen zentralen Platz in den Weltperspektiven ein. Sehr lange schien die Revolution in der reichsten und mächtigsten Nation der Erde eine sehr entfernte Perspektive zu sein. Aber die USA wurden sehr hart von der Weltwirtschaftskrise getroffen und jetzt hat sich das völlig ins Gegenteil verwandelt.
68 Millionen Amerikaner haben während der Pandemie Arbeitslosengeld beantragt. Wie immer sind es die Ärmsten und die Jugend, die am meisten leiden. Ein Viertel der unter 25-Jährigen hat seine Arbeit verloren. Man hat ihnen ihre Zukunft ganz plötzlich einfach weggenommen. Der American Dream ist zum amerikanischen Albtraum geworden.
Diese dramatische Veränderung hat viele Menschen, jung und alt, gezwungen, Ansichten zu überdenken, die sie zuvor für unabänderlich hielten, und das Wesen der Gesellschaft, in der sie leben, in Frage zu stellen. Der rasche Aufstieg von Bernie Sanders an einem Ende des politischen Spektrums und Donald Trump am anderen Ende ließ für die herrschende Klasse die Alarmglocken schrillen. So etwas sollte nicht passieren!
Nun ist die Lage so gefährlich, dass die herrschende Klasse vor Schreck gezwungen war, sofort zu handeln. Erinnern wir uns daran, dass der Staat nach dem offiziellen Dogma der bürgerlichen Ökonomen keine Rolle im Wirtschaftsleben spielen sollte.
Angesichts ihres drohenden Untergangs war die herrschende Klasse gezwungen, alle althergebrachten Theorien zu verwerfen. Derselbe Staat, der gemäss den Theorien über den freien Markt im Wirtschaftsleben keine oder nur eine geringe Rolle spielen darf, ist jetzt das einzige, was den Kapitalismus überhaupt noch am Leben hält.
In allen Ländern, angefangen bei den USA, hängt die sogenannt freie Marktwirtschaft an der Maschine zur Erhaltung ihres Lebens, als sei sie ein Coronapatient. Der Grossteil des Geldes, das der Staat zu verteilen begann, floss direkt in die Taschen der Reichen. Doch die herrschende Klasse fürchtet die politischen Folgen, wenn wieder einmal nur die Konzerne gerettet werden. Deshalb gab es in den USA finanzielle Unterstützung für die ganze Bevölkerung und eine deutliche Verbesserung der Arbeitslosenunterstützung. Früher oder später aber wird diese Unterstützung zurückgezogen werden.
Und so kommt es zum Paradox, dass es im reichsten Land der Welt die schrecklichste Armut gibt. Im Oktober 2020 hatten mehr als ein Fünftel der Haushalte in den USA nicht mehr genug Geld, um Essen auf den Tisch zu bringen. Tafeln schiessen wie Pilze aus dem Boden.
Die Ungleichheit sprengt alle Rekorde. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich in einen unüberbrückbaren Abgrund verwandelt. 2020 wuchs der Reichtum der Milliardäre weltweit um 3,9 Billionen Dollar. Der NASDAQ-100-Index ist seit Beginn der Pandemie um 40 Prozent gewachsen. Seit März 2020 ist das an der Börse gehandelte Gesamtkapital weltweit um 24 Mrd. Euro gewachsen.
Der durchschnittliche Vorstandsvorsitzende eines S&P 500-Unternehmens verdient 357mal so viel wie der durchschnittliche Arbeiter ohne Führungsrolle. Dieses Verhältnis betrug in den 60er Jahren noch etwa 1:20, am Ende der Amtszeit Ronald Reagans noch 1:28.
Um nur ein Beispiel anzuführen, verdient Jeff Bezos jetzt in einer Sekunde mehr Geld als ein typischer Arbeiter in den USA in einer Woche. Amerika findet sich so in die Zeit der kapitalistischen Räuberbarone zurückversetzt, die Theodore Roosevelt vor dem Ersten Weltkrieg anklagte.
Das hat Auswirkungen. All die Demagogie vom „nationalen Interesse“, darüber, wir müssten „vereint“ gegen das Virus kämpfen, wir befänden uns „im selben Boot“, entlarvt sich als übelste Heuchelei.
Die Massen sind unter gewissen Umständen bereit, Opfer zu bringen. In Kriegszeiten sind die Menschen bereit, vereint gegen einen gemeinsamen Feind zu kämpfen. Sie sind bereit, zumindest für einen bestimmten Zeitraum einen niedrigeren Lebensstandard hinzunehmen. Und teilweise, zeitweise auch Einschränkungen der demokratischen Rechte.
Die Kluft zwischen denen, die viel, und denen, die nichts haben, hat sich wie gesagt zu einem unüberbrückbaren Abgrund ausgedehnt. Der springende Punkt ist, dass das die soziale und politische Polarisierung vertieft. Es erzeugt eine explosive, wütende Stimmung in der Gesellschaft. Sie untergräbt alle Anstrengungen, ein Gefühl der nationalen Einheit und Solidarität herzustellen, was für die herrschende Klasse die erste Verteidigungslinie bilden würde.
Die Statistik der US-Notenbank zeigt, dass das reichste Zehntel der US-Bevölkerung Ende 2020 über ein Vermögen von 80,7 Billionen Dollar verfügte. Das sind 375 Prozent des BIP und weit mehr als in der Vergangenheit.
Dieses Vermögen mit 5% zu besteuern, brächte 4 Billionen, oder ein Fünftel des BIP ein. Das würde reichen, für alle Kosten der Pandemie aufzukommen. Doch die Räuberbarone denken nicht daran, ihre Beute zu teilen. Die meisten von ihnen, Donald J. Trump mit eingeschlossen, haben eine bemerkenswerte Abneigung dagegen, überhaupt irgendwelche Steuern zu bezahlen, von 5% ganz zu schweigen.
Die einzige Lösung wäre es, die Banker und Kapitalisten zu enteignen. Die Unterstützung für diese Idee wird zwangsläufig immer weiter anwachsen und die verbleibenden Vorurteile gegen den Kommunismus und Sozialismus hinwegfegen; auch unter den Arbeitern, die von Trumps Demagogie über den Tisch gezogen wurden.
Das macht den ernsthaften Strategen des Kapitals bereits ernsthafte Sorgen. Mary Callaghan Erdoes, Head of Assets and Wealth Management bei JP Morgan, zog den unausweichlichen Schluss: „Aus alldem ergibt sich ein sehr hohes Extremismusrisiko. Wir müssen uns irgendwie anpassen, sonst wird diese Situation sehr gefährlich für uns.“
Der Angriff auf das US-Kapitol am 6. Januar war ein deutliches Beispiel dafür, dass die USA jetzt nicht mit einer Regierungskrise, sondern mit einer Krise des Regimes an sich konfrontiert sind.
Diese Ereignisse waren weder ein Putsch noch ein Aufstand, doch sie enthüllten schlagend die rohe Wut, die in den Tiefen der Gesellschaft existiert und auch die tiefe Zerklüftung im Staatsapparat. Im Grunde sind sie Hinweise dafür, dass die Polarisierung der Gesellschaft einen kritischen Punkt erreicht hat. Die Institutionen der bürgerlichen Demokratie werden bis zu ihrem Bruch getestet.
Es herrscht brennender Hass gegen die Reichen und Mächtigen: die Banker, die Wall Street und das Establishment im Allgemeinen („the swamp“, der Sumpf). Dieser Hass wurde vom rechten Demagogen Donald Trump geschickt kanalisiert.
Natürlich ist Trump selbst nur der listigste und gefrässigste Alligator in diesem Sumpf. Er verfolgt nur seine eigenen Interessen. Dabei hat er aber dem Gesamtinteresse der herrschenden Klasse ernsthaft geschadet. Er hat mit Feuer gespielt und Kräfte heraufbeschworen, die weder er noch sonst jemand mehr unter Kontrolle bekommen kann.
In Wort und Tat hat Trump die Legitimität der bürgerlichen Institutionen zerstört und eine gewaltige Instabilität hervorgerufen. Deshalb sind die herrschende Klasse und ihre politischen Vertreter überall entsetzt von seinem Verhalten.
Die Demokraten versuchten, Trump seines Amtes zu entheben, indem sie ihm vorwarfen, einen Aufstand organisiert zu haben. Das hätte verhindert, dass er zukünftig noch einmal in ein öffentliches Amt gewählt werden kann. Doch wie vorherzusehen war, gelang es ihnen nicht, den Senat davon zu überzeugen.
Die meisten republikanischen Senatoren hätten gerne mitgemacht. Sie hassen und fürchten diesen politischen Emporkömmling. Und sie wussten sehr gut, wer hinter den Ereignissen des 6. Januar steckte. Der republikanische Oppositionsführer im Senat, Mitch McConnell, verurteilte Trump scharf, nachdem er dafür gestimmt hatte, ihn freizusprechen.
In Wirklichkeit waren er und die anderen republikanischen Senatoren verängstigt darüber, wie Trumps wütende Anhänger reagieren mochten, wenn sie diesen schicksalhaften Schritt gegangen wären. Sie beschlossen, dass Vorsicht besser sei als Nachsicht und sprachen ihn mit zugehaltener Nase frei.
Wenn das aber ein Aufstandsversuch gewesen wäre, dann ein sehr schlechter! Vielmehr könnte man es als grossen Krawall bezeichnen. Der Mob aus wütenden Trump-Anhängern stürmte mit der offensichtlichen Billigung wenigstens einiger Wachbeamter ins Kapitol. Nachdem sie aber das Allerheiligste der bürgerlichen Demokratie in den USA im Handstreich erobert hatten, hatten sie keinen blassen Schimmer, was anfangen damit.
Der desorganisierte und führerlose Mob schwappte ziellos umher, zerschlug alles, was ihm missfiel und brüllte blutrünstige Drohungen gegen die Demokratin Nancy Pelosi, den republikanischen Vizepräsidenten Mike Pence und Mitch McConnell, denen sie vorwarfen, Trump verraten zu haben. Der Oberbefehlshaber der Aufständischen hatte sich indessen aus dem Staub gemacht.
Wenn sich die Geschichte wiederholt, erst als Tragödie und dann als Farce, dann haben wir es hier mit einer Farce reinsten Wassers zu tun. Es wurde letztlich niemand gehängt oder guillotiniert. Nachdem sie vom vielen Brüllen müde geworden waren, gingen die „Aufständischen“ ruhig nach Hause oder zogen sich in die nächste Bar zurück, um sich zu betrinken oder von ihren mutigen Heldentaten zu prahlen. Dabei liessen sie nichts Bedrohlicheres zurück als einen Haufen Trümmer und einige verletzte Egos.
Aus dem Blickwinkel der herrschenden Klasse ist es dennoch ein gefährlicher Präzedenzfall. Ray Dalio, Gründer des weltgrössten Hedgefonds Bridgewater Associates, hatte folgendes zu sagen: „Wir stehen am Rande eines furchtbaren Bürgerkriegs. Die USA befinden sich an einem Scheidepunkt, an dem es von einer beherrschbaren inneren Spannung zu einer Revolution kippen kann.“ Die Erstürmung des Kapitols war eine ernsthafte Warnung für die herrschende Klasse. Das hat zweifellos Konsequenzen. Trotz einer Flut von Anfeindungen seitens der Medien hielten 45 Prozent der registrierten Republikaner den Sturm aufs Kapitol für gerechtfertigt.
Dem muss man allerdings die weit bedeutsamere Tatsache gegenüberstellen, dass 54 Prozent aller Amerikaner das Niederbrennen der Polizeiwache in Minneapolis für gerechtfertigt hielten. 10% der Gesamtbevölkerung beteiligten sich an den Black Lives Matter-Protesten –20.000 mal so viele, wie das Kapitol erstürmten. All das zeigt, dass die soziale und politische Polarisierung in den Vereinigten Staaten anwächst.
Die spontanen Aufstände, die die USA nach dem Mord an George Floyd überschwemmten, sowie die beispiellosen Ereignisse, die den Präsidentschaftswahlen vorangingen und auf sie folgten, symbolisierten einen Wendepunkt in der Gesamtsituation.
Die törichten Liberalen und Reformisten verstehen natürlich nichts von alldem. Sie sehen nur die Oberfläche der Ereignisse, ohne die tieferen Strömungen zu verstehen, die machtvoll unter der Oberfläche dahinziehen und die Wellen antreiben.
Sie machen ein ständiges Geschrei über den Faschismus, worunter sie alles verstehen, was sie fürchten oder was ihnen missfällt. Vom eigentlichen Wesen des Faschismus verstehen sie überhaupt nichts. Das ist selbstverständlich. Indem sie aber ständig auf der „Gefährdung der Demokratie“ herumreiten, worunter sie die bürgerliche, formale Demokratie verstehen, säen sie Verwirrung und bereiten den Boden für Klassenzusammenarbeit unter dem Banner des „geringeren Übels“. Die Unterstützung für Joe Biden in den USA ist ein sehr klares Beispiel dafür.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Trumps Basis einen sehr heterogenen und widersprüchlichen Charakter hat. Sie umfasst einen bürgerlichen Flügel, an dessen Spitze Trump selbst steht, aber auch eine grosse Anzahl reaktionärer Kleinbürger, religiöser Fanatiker und offen faschistischer Elemente.
Vergessen wir auch nicht, dass Trump in der letzten Wahl 74 Millionen Stimmen erhalten hat und dass viele davon von Menschen aus der Arbeiterklasse kamen, die davor Obama gewählt hatten, aber von den Demokraten enttäuscht sind. In Interviews sagen sie: „Washington interessiert sich nicht für uns! Wir sind das vergessene Volk!“
Es ereignen sich heftige Schwankungen nach links und auch nach rechts. Die Natur aber verabscheut das Vakuum, und wegen des völligen Bankrotts der Reformisten, die Linksreformisten mit eingeschlossen, wird diese Stimmung der Wut und Frustration von rechten Demagogen, sogenannten Populisten, ausgenutzt. In den USA haben wir das Phänomen des Trumpismus. In Brasilien den Aufstieg Bolsonaros.
Doch die Anziehungskraft der rechten Demagogen verblasst bald, wenn sie mit den Realitäten des Regierungsalltags in Berührung kommen, wie der Fall Bolsonaro deutlich macht. Es stimmt, dass Trump sich die Unterstützung von Millionen aufrechterhalten konnte, aber er ist dennoch abgesetzt worden.
Es war interessant, festzustellen, dass um das Datum der Erstürmung des Kapitols der Senator Josh Hawley aus Missouri sagte: „Die Republikaner in Washington werden sich sehr schwer tun, damit klarzukommen… doch es ist klar, worum es in Zukunft gehen wird. Wir müssen eine Arbeiterpartei sein, keine Wall-Street-Partei.“
Lenin sagte, die Geschichte kennt alle möglichen Arten von Metamorphosen. Marxisten müssen unterscheiden können, was progressiv und was reaktionär ist. Wir müssen verstehen, dass wir zukünftige revolutionäre Entwicklungen in Keimform vor uns haben.
Natürlich denkt dieser reaktionäre Republikanersenator nicht daran, in den USA eine wirkliche Arbeiterpartei aufzubauen und eine solche Partei wird auch nicht aus einer Spaltung der Republikaner hervorgehen. Doch die Erschütterungen im alten Zweiparteiensystem sind unzweifelhaft die Vorboten von etwas völlig Neuem: Eine dritte Partei wird Republikaner und Demokraten herausfordern.
Diese Partei wird zunächst einen ausserordentlich verwirrten und heterogenen Charakter haben. Doch früher oder später muss das antikapitalistische Element dominieren. Hier befindet sich die wirkliche Gefahr für das System. Wenn die Massen beginnen, direkt in die Politik zu intervenieren, wenn sie beschliessen, dass die Zeit gekommen ist, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, ist das selbst schon ein Symptom für aufziehende revolutionäre Entwicklungen.
Die ernsthaften Strategen des Kapitals verstehen die gefährlichen Implikationen der gegenwärtigen Turbulenz weit besser als die impressionistisch-schreckhaften Kleinbürger. Am 30. Dezember 2020 veröffentlichte die Financial Times einen sehr interessanten Artikel, der von der Redaktion unterschrieben war.
Sie gab darin eine ganz andere Einschätzung des Prozesses und seiner Richtung. Die Schlüsse, die daraus gezogen wurden, waren von einem bürgerlichen Klassenstandpunkt aus sehr alarmierend:
„Milieus, die von den Veränderungen in der Wirtschaft zurückgelassen wurden, kommen zunehmend zu dem Schluss, dass die Verantwortlichen ihre Lage nicht kümmert – oder schlimmer noch, dass sie die Wirtschaft zu ihrem eigenen Vorteil und zum Schaden der Abgehängten manipuliert haben.
So entsteht langsam aber sicher eine Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie. Seit der globalen Finanzkrise hat dieses Gefühl, verraten worden zu sein, eine politische Gegenreaktion gegen die Globalisierung und die Institutionen der liberalen Demokratie befeuert.
Der Rechtspopulismus kann zwar von dieser Gegenreaktion profitieren, ohne die kapitalistischen Märkte anzutasten.
Da er aber seine Versprechen an die wirtschaftlich Enttäuschten nicht erfüllen kann, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Mistgabeln sich gegen den Kapitalismus selbst richten … und gegen den Reichtum derer, die von ihm profitieren.”
In dem Artikel zeigt sich ein glänzendes Verständnis der Dynamik des Klassenkampfes. Schon die Sprache ist bedeutsam. Dass Leute sich mit Mistgabeln bewaffnen, impliziert einen Vergleich mit der Französischen Revolution oder mit dem Bauernaufstand von 1381, bei dem die Bauern London eroberten.
Die Verfasser jener Zeilen verstehen vollkommen, dass ein Aufschwung des sogenannten Rechtspopulismus sich herausstellen kann, nur die Vorstufe einer revolutionären Explosion gewesen zu sein. Heftige Schwankungen der öffentlichen Meinung nach rechts können sehr gut einfach die Vorbereitung noch heftigerer Schwankungen nach links sein, ein Prozess, in dem die unzufriedenen Massen einen Weg aus der Krise suchen.
Das ist eine sehr scharfsinnige Prognose für die weitere Entwicklung, und nicht nur in den USA. Diese enorme Volatilität ist in vielen Ländern zu beobachten. Unter der Oberfläche entwickelt sich eine Stimmung der Wut, Verbitterung und des Hasses auf die bestehende Ordnung.
Die Institutionen der bürgerlichen Demokratie beruhen auf der Annahme, dass die Kluft zwischen Arm und Reich verdeckt und in überschaubaren Grenzen gehalten werden könne. Doch das ist nicht mehr der Fall.
Das ständige Anwachsen der Ungleichheit zwischen den Klassen hat ein Level von sozialer Polarisierung erschaffen, wie es das seit Jahrzehnten nicht gegeben hat. Die traditionellen Mechanismen der bürgerlichen Demokratie werden dabei bis an ihre Belastungsgrenze und darüber hinaus gebracht.
Der Gegensatz zwischen Reich und Arm wird täglich stärker. Er gibt den Zentrifugalkräften, die die Klassen auseinandertreiben, einen unaufhaltsamen Antrieb. Genau das ist der Grund für den Zusammenbruch der sogenannten Mitte.
Das sorgt in der herrschenden Klasse, die spürt, dass ihr die Macht aus den Händen rutscht, für wachsende Unruhe. Die Parteien des Establishments werden von den Massen überall mit Austerität und Angriffen auf den Lebensstandard identifiziert.
Es gibt eine wütende Stimmung in der Gesellschaft. Diese Stimmung drückt sich als Zusammenbruch des Vertrauens in die offiziellen Institutionen, die Parteien, die Regierungen, die politischen Führer, Banker, Reichen, Polizisten, Richter, Gesetze, Traditionen, Religionen und Moralvorstellungen des bestehenden Systems aus. Die Leute glauben nicht mehr, was ihnen in den Zeitungen und im Fernsehen erzählt wird, sie erkennen den grossen Unterschied zwischen dem, was gesagt wird und dem, was passiert, und sie erkennen, dass man uns Märchen auftischt.
Das war nicht immer so. Früher haben die meisten Menschen, auch Arbeiter, der Politik nicht viel Beachtung geschenkt. Bei Gesprächen am Arbeitsplatz ging es normalerweise um Fussball, Filme und Fernsehsendungen. Die Politik kam selten zur Sprache, ausser vielleicht, wenn gerade Wahlen waren.
Jetzt ist das alles anders geworden. Die Massen beginnen, sich für Politik zu interessieren, weil sie allmählich erkennen, dass sie sich direkt auf ihr Leben und das Leben ihrer Familien auswirkt. Das allein spiegelt schon eine Stimmung der Revolution wider.
Früher haben die Leute, wenn sie überhaupt wählen gingen, dann meistens die Partei gewählt, die auch ihre Eltern und Grosseltern gewählt hatten. Jetzt aber sind Wahlergebnisse völlig unvorhersehbar geworden. Die Stimmung des Wahlvolkes ist wütend, misstrauisch und schwankend von links nach rechts und rechts nach links.
Die Strategen des Kapitals erkennen die gewaltige Gefahr, die von dieser Polarisierung ausgeht und bemühen sich verzweifelt, die „Mitte“ wieder aufzubauen. Objektiv gibt es aber keine Basis dafür. In Gestalt Joe Bidens klammern sie sich an einen Strohhalm, der sie nicht retten wird.
Die Wall Street stützt ihre ganzen Hoffnungen jetzt auf die Biden-Regierung und deren Impfkampagne. Doch Biden hat es mit einer tiefen ökonomischen und politischen Krise in einer gespaltenen und absteigenden Nation zu tun.
Das Establishment drängt ihn, die staatlichen Interventionen in die Wirtschaft zu verstärken. Ohne Zeit zu verlieren, hat er seine Pläne für Konjunkturpaket im Umfang von 1,9 Billionen Dollar vorgestellt. Gemeinsam mit den 900 Milliarden, die der Kongress kurz zuvor verabschiedet hatte, und den drei Billionen an Sofortmassnahmen, die am Beginn der Pandemie verabschiedet wurden, ergibt das einen Schuldenberg. Verzweifelt versucht die herrschende Klasse, die politische Stabilität wiederherzustellen.
Professor Kenneth Rogoff von der Harvard-Universität meint: „Ich finde gut, was Biden macht. Ja, es gibt das Risiko, dass eine wirtschaftliche Instabilität auf uns zukommt, aber jetzt haben wir politische Instabilität.“ All das wird zu einer gewaltigen Krise führen.
Indessen glauben Millionen verärgerter Bürger nicht einmal, dass Biden die Wahl gewonnen hat. In ihren Augen kann er nichts richtig machen. Andererseits werden sich die übertriebenen Hoffnungen vieler seiner Unterstützung wie ein Wassertropfen auf einer Herdplatte verflüchtigen, wenn einmal die anfängliche Erleichterung über die Entfernung Trumps verflogen ist. Und obwohl er unweigerliche eine gewisse Schonzeit geniessen wird, wird darauf eine enorme Enttäuschung folgen und neuen Umwälzungen, Turbulenzen und Instabilität den Weg bereiten.
Lateinamerika ist gesundheitlich wie wirtschaftlich weltweit eine der am schwersten von Covid-19 betroffenen Regionen.
Das BIP der Region fiel 2020 um etwa 7,7%– das ist der schwerste Zusammenbruch in den letzten 120 Jahren. Das kam gleich im Anschluss an ein Jahrzehnt der Stagnation. 2014-2019 betrug das jährliche Durchschnittswachstum 0,3%. Erst 2024 erwartet man, dass die Region wieder ihr Vorkrisen-BIP erreicht. Die extreme Armut befindet sich wieder auf dem Stand von 1990.
Schon vor der Pandemie führte das zu sozialer und politischer Unruhe. Die Aufstände in Lateinamerika 2019 (Ecuador, Chile), die Teil einer weltweiten Tendenz waren (Algerien, Sudan, Irak, Libanon), wurden von der Pandemie, die mit verheerenden Folgen über den Kontinent hereinbrach, vorübergehend unterbrochen.
Brasilien hat eine der höchsten Todesraten der Welt und auch Peru wurde schwer getroffen. In Ecuador stapelten sich die Särge vor den überfüllten Leichenhallen. Leichen, um die sich niemand kümmerte, lagen an manchen Orten auf der Strasse herum.
In der zweiten Jahreshälfte 2020 aber sahen wir eine Rückkehr zu aufständischen Massenbewegungen. September 2020 gab es eine Explosion der Empörung in Kolumbien gegen einen Polizeimord, wobei 40 Polizeiwachen niedergebrannt wurden. In Peru brachte die Bewegung der Massen zwei Regierungen zu Fall. Und die Proteste in Guatemala führten dazu, dass das Parlamentsgebäude in Brand gesteckt wurde. Dies hat sich bis ins Jahr 2021 fortgesetzt, und zwar mit erheblichen politischen Folgen. In Kolumbien ist die Bewegung mit einer starken nationalen Streikbewegung wieder aufgetaucht, die die soziale Basis der Unterstützung für die Regierung Duque auf ein Minimum reduziert hat. In Peru wurde bei den Präsidentschaftswahlen unerwartet der Lehrergewerkschafter Pedro Castillo gewählt. Auch in Chile gab es bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung, zu den Bürgermeistern und zu den regionalen Gouverneuren eine Wahlniederlage der Rechten und den Aufstieg von Kandidaten, die mit dem Aufstand von 2019 verbunden sind, sowie der KP und der Frente Amplio (Breite Front).
In Brasilien gab es viel Geschrei der Linken und Sektierer über den angeblichen Sieg des „Faschismus“, aber Bolsonaros Unterstützung bricht zusammen. Der Slogan der brasilianischen Genossen „Fora Bolsonaro“ (Bolsonaro raus!), den die Linken als utopisch kritisiert hatten, findet jetzt allgemeine Anerkennung.
Der „starke Mann“ Bolsonaro ist so schwach, dass er es nicht einmal geschafft hat, seine eigene Partei zu gründen. Obwohl er das verzweifelt versucht hat, hat er bis jetzt nicht einmal genug Unterschriften beisammen, um sie anzumelden.
Das Problem ist nicht die Stärke Bolsonaros, sondern die Schwäche der Linken. Die PT, die einst die überwältigende Unterstützung der Arbeiter genoss, hat in den letzten Wahlen massiv verloren. Auch hier geht es nicht um objektive Schwierigkeiten, sondern um die Schwäche des subjektiven Faktors.
Kuba ist indessen mit einer schweren Wirtschaftskrise konfrontiert, ausgelöst durch die Pandemie und verstärkt durch Trumps Sanktionen und wirtschaftliche Massnahmen, die von Biden nicht rückgängig gemacht wurden. Die Wirtschaft der Insel schrumpfte 2020 um 11%.
Das hat die Führung dazu gebracht, eine Reihe marktwirtschaftlicher, kapitalistischer Massnahmen zu ergreifen, die seit 10 Jahren in der Diskussion waren, aber nie ganz umgesetzt wurden. Das beinhaltet die Vereinheitlichung des Währungssystems, Marktbeziehungen zwischen Staatsunternehmen, die Schliessung von „unprofitablen“ Staatsunternehmen, Abschaffung von Nahrungsmittelsubventionen und dergleichen.
Diese Massnahmen haben bereits zu einer Verschärfung der Ungleichheit geführt und Unzufriedenheit erzeugt. Sie stellen in der Entwicklung hin zur Wiederherstellung des Kapitalismus einen Wendepunkt dar.
Die Proteste vom 11. Juli sind objektiv auf diese wirtschaftlichen Faktoren zurückzuführen. Es waren die grössten Proteste in Kuba seit dem „Maleconazo“ von 1994, und sie kamen in einer Zeit der tiefen Wirtschaftskrise und mit einer Regierung, die nicht die gleiche Autorität hat wie Fidel Castro damals.
Die Bewegung hatte eine echte Komponente des Protests gegen den Mangel und die Härte, unter denen die Menschen der Arbeiterklasse leiden. Es gab jedoch auch eine andere Komponente, die auf eine seit Monaten andauernde Propagandakampagne in den sozialen Medien und Provokationen auf der Strasse durch offen konterrevolutionäre Elemente reagierte.
Die rund 2.000 Demonstranten in Havanna setzten sich aus verschiedenen Schichten zusammen: arme Menschen aus Arbeitervierteln, die von der Wirtschaftskrise und den Massnahmen der Bürokratie stark betroffen sind; Lumpen und kriminelle Elemente; kleinbürgerliche, pro-kapitalistische Elemente, die in den letzten zehn Jahren der Marktreformen aufblühten; Künstler, Intellektuelle und Jugendliche, die sich über Zensur und demokratische Rechte im Abstrakten sorgen.
Es muss klargestellt werden, dass die Proteste unter den Slogans „Heimat und Leben“ („Patria y vida“), „Nieder mit der Diktatur“ und „Nieder mit dem Kommunismus“ stattfanden, die eindeutig konterrevolutionären Charakter haben. Die Probleme und Nöte sind real und echt; es gibt verwirrte Elemente, die daran teilnehmen; aber inmitten all des Durcheinanders sind es die konterrevolutionären Elemente, die diese Proteste dominieren. Sie sind organisiert, motiviert und haben klare Ziele. Es ist daher notwendig, sich ihnen entgegenzustellen und die Revolution zu verteidigen. Wenn diejenigen, die diese Proteste fördern, zusammen mit ihren Mentoren in Washington ihr Ziel – den Sturz der Regierung – erreichen, würde dies unweigerlich den Prozess der kapitalistischen Restauration beschleunigen und Kuba in seinen früheren Status als De-facto-Kolonie des US-Imperialismus zurückführen. Die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Probleme, unter denen die kubanische Arbeiterklasse leidet, würden nicht gelöst, sondern im Gegenteil noch verschlimmert werden. Man muss nur einen Blick auf Bolsonaros Brasilien oder das benachbarte Haiti werfen, um sich davon zu überzeugen. Die Niederlage der kubanischen Revolution würde sich negativ auf das Bewusstsein der Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem gesamten Kontinent und in der ganzen Welt auswirken.
In dem sich anbahnenden Kampf steht die Internationale Marxistische Tendenz bedingungslos für die Verteidigung der kubanischen Revolution ein. Der erste Punkt, den wir anführen müssen, ist, dass wir die Blockade durch den US-Imperialismus absolut ablehnen und dagegen kämpfen. Unsere bedingungslose Verteidigung der Revolution bedeutet jedoch nicht, dass wir unkritisch sind. Wir müssen deutlich machen, dass die Methoden der Bürokratie zu einem grossen Teil für die Schaffung der gegenwärtigen Situation verantwortlich sind. Die bürokratische Planung führt zu Missmanagement, Ineffizienz, Verschwendung und Trägheit. Bürokratischer Zwang und Willkür führen zur Entfremdung der Jugend. Pro-kapitalistische Massnahmen führen zu sozialer Ungleichheit und Armut.
Unter vielen Arbeiterinnen, Arbeitern und Jugendlichen, die sich als Revolutionäre verstehen, ist eine weit verbreitete Infragestellung der Führung aufgekommen. Wir müssen erklären, dass der einzige wirksame Weg zur Verteidigung der Revolution darin besteht, die Arbeiterklasse an die Spitze zu stellen. Unser Vorbild sollte die Arbeiterinnen und Arbeiter-Demokratie der Pariser Kommune und Lenins Staat und Revolution sein. Wir treten für die breiteste und freieste politische Diskussion unter Revolutionären ein. Die staatlichen Medien sollten für alle Schattierungen revolutionärer Meinungen offen sein. In allen Betrieben sollen die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst die volle Macht haben, die Produktion umzuorganisieren, um sie effizienter zu machen. Ausserdem müssen die Privilegien der Bürokratie (Sonderläden, bevorzugter Zugang zu Grundprodukten) abgeschafft werden. Alle Staatsbeamten sollten gewählt und jederzeit abwählbar sein.
Das Schicksal der kubanischen Revolution wird sich letztlich im Bereich des internationalen Klassenkampfes entscheiden. Kubanische Revolutionäre sollten eine sozialistische, revolutionäre und internationalistische Position einnehmen, im Gegensatz zu jener, die auf Geopolitik und Diplomatie basiert. Wir stehen für die Demokratie der Arbeiterinnen und Arbeiter und den internationalen Sozialismus.
Die revolutionären und aufständischen Ereignisse in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern und die Machtübernahme „fortschrittlicher“ Führer, die von Arbeiterinnen und Bauern unterstützt werden (AMLO in Mexiko, Arce in Bolivien, Castillo in Peru usw.), widerlegen all jene (einschliesslich Sektierer), die behaupteten, es gäbe eine „konservative Welle“ in Lateinamerika. Der Kapitalismus ist hier viel schwächer als in den entwickelten kapitalistischen Ländern, die Auswirkungen der Pandemie waren in gesundheitlicher und wirtschaftlicher Hinsicht verheerend, und die Massen gewinnen in den beeindruckenden Kämpfen, die wir in letzter Zeit erlebt haben, an Kraft. Aus all diesen Gründen ist es sehr wahrscheinlich, dass Lateinamerika einer der Schauplätze der bevorstehenden revolutionären Ereignisse sein wird.
Das reale BIP sank in den EU-Mitgliedsstaaten 2020 um 7 Prozent. Das war der tiefste Fall seit dem Zweiten Weltkrieg. Offiziellen Zahlen zufolge sind 13,2 Millionen arbeitslos, doch ohne Kurzarbeitsmassnahmen liegt die Zahl eher bei 12,6%, also etwa 20 Millionen. Weitere 30 Millionen „verdeckte Arbeitslose“ tauchen in den offiziellen Zahlen nicht auf.
Die EU-Kommission hat die Versorgung der Mitgliedsstaaten mit Covid-19-Impfstoffen verpfuscht und in Europa eine grosse Knappheit herbeigeführt. Dänemark erhielt zunächst nur 40.000 Impfdosen, obwohl es mit 300.000 rechnete. Die Niederlande erhielten anfangs überhaupt keine.
Das Versagen der Impfkampagne folgt auf die desaströse Krise des Mangels an Schutzausrüstungen letztes Jahr. Als Italien in der schlimmsten Phase seiner Krise durchlebte war die europäische Solidarität gänzlich vergessen. Da hiess es: jeder kämpft für sich selbst. Die Impfkampagne war der Versuch, die Solidarität innerhalb der Europäischen Union wiederherzustellen, doch das schlug fehl.
Noch schlimmer: Die Eskalation der einschränkenden Massnahmen zur Bewältigung der Pandemie (Lockdowns usw.) durch 21 Länder der Eurozone verlangsamte die wirtschaftliche Aktivität enorm, so dass dem Wirtschaftsblock eine erneute Rezession bevorstand.
Im letzten Frühling, als die Pandemie einschlug, erlitt die Wirtschaft der Eurozone einen plötzlichen, tiefen Schock. Demgegenüber zieht sich die neue Welle an Infektionen länger hin und verursacht einen langsameren, aber noch schmerzhafteren Rückgang der Wirtschaft.
Tourismus, Handel, Gastronomie, Konjunkturoptimismus und Konsumausgaben gingen in den ersten Wochen des Jahres 2021 alle zurück. Das droht, eine verzögerte Welle von Unternehmensbankrotten auszulösen, wenn die Regierungen und Zentralbanken nicht weiterhin Massnahmen ergreifen, um die Wirtschaft zu stützen.
Ökonomen gehen davon aus, dass auf den geschätzten Rückgang der Produktion in der Eurozone von zwischen 1,8% und 2,3% in den letzten drei Monaten des Jahres 2020 ein weiterer Rückgang im ersten Quartal 2021 in vielen der wichtigsten Volkswirtschaften des Euroraums folgen wird, darunter Deutschland und Italien. Das könnte die Eurozone in die nächste Rezession stürzen, definiert als zwei aufeinanderfolgende Quartale negativen Wachstums in weniger als zwei Jahren.
Nach den Erfahrungen von Brexit und Trump, der seine Verachtung für alles Europäische nie verheimlicht hat, fühlt die europäische Bourgeoisie, dass sie sich nicht mehr auf ihre traditionellen Verbündeten verlassen kann. Emmanuel Macrons närrischer Versuch, sich bei Trump beliebt zu machen, war ein spektakulärer Schuss in den Ofen.
Trump machte sehr deutlich, dass er in Europa einen Hauptgegner sah, in Russland aber nur einen „Konkurrenten“. Er liess den Worten Taten folgen. Seine protektionistische Politik richtete sich ebenso gegen Europa wie gegen China. Bis zu den letzten Tagen seiner Regierung behielt er diese feindselige Haltung bei. Am Silvesterabend verkündeten die USA eine weitere Erhöhung der Zölle auf Importe von Flugzeugteilen und Weinen aus Frankreich und Deutschland.
Biden will sich mit Europa vertragen. Er hat das Bekenntnis der USA zum Multilateralismus erneuert und ist der Weltgesundheitsorganisation WHO und den Pariser Klimaverträgen wieder beigetreten. Er hat auch einen neuen Generaldirektor für die Welthandelsorganisation WTO unterstützt. Die Haltung zum Atomdeal mit dem Iran hat sich auch verändert. Das alles freut die Europäer, die sich verzweifelt einen Richtungswechsel des Weissen Hauses erhofft hatten. Trump nennt diese neue Strategie „America Last“.
Doch es gibt Konflikte zwischen beiden Seiten, die viel schwieriger zu lösen sind. Die Europäer sind nicht überzeugt von der amerikanischen China-Strategie. Sie möchten ausserdem den US-Handelskrieg mit China für ihre eigenen Zwecke nutzen. Das neue Investitionsabkommen zwischen China und der EU, das in den letzten Wochen der Trump-Präsidentschaft fertiggestellt wurde, wurde als Provokation für Joe Biden empfunden, gegen die der neue Präsident sich nicht wehren konnte.
Es gibt noch weitere, seit langem bestehende Konflikte, die einer Lösung harren: Der Konflikt um Staatshilfen für Airbus und Boeing schwelt seit Jahrzehnten vor sich hin, ohne dass eine Lösung in Sicht wäre; die Nord Stream 2-Pipeline sorgt ebenfalls für massive Verwerfungen zwischen den USA und Deutschland, denn die USA bestehen darauf, dass die Pipeline Russlands Einfluss in Europa stärken würde. Die neugewonnene Zuneigung zwischen Biden und den Europäern wird in den kommenden Monaten auf die Probe gestellt werden, wenn beide Blöcke versuchen, in der Krise nach der Pandemie ihre Exporte wiederzubeleben.
Deutschland war immer Europas Anker, eine Insel der Stabilität in oft rauen Gewässern. Bei Angela Merkel, glaubte man, befand sich Europas wichtigstes Land in guten Händen. Doch mit der Pandemie kamen neue Probleme.
Bereits nach der Krise von 2008 kam es in Europa zu wachsenden Spannungen zwischen den Mitgliedsstaaten. Der Brexit war ein Wendepunkt in dieser Dynamik, ebenso wie die Pandemiekrise und der Nationalismus, der bei der Bewältigung der Gesundheitskrise vorherrschte. Die tiefe globale Krise wird einen enormen Druck in diese Richtung ausüben: Die EU muss mit den anderen imperialistischen Blöcken konkurrieren, während gleichzeitig die verschiedenen Nationen, aus denen die EU besteht, miteinander konkurrieren werden, um ihre eigenen Krisen zu exportieren.
Die deutschen Kapitalisten haben erkannt, dass sie ihre Methoden ändern müssen, um das zunehmende Auseinanderdriften der EU aufzuhalten. Dieses Auseinanderdriften wurde mit dem Beginn der Pandemie noch verstärkt. Letzten Herbst sah sich Deutschland gezwungen, ein 750 Milliarden Euro Hilfspaket für den europäischen Wiederaufbaufonds zu unterschreiben, um die EU zusammenzuhalten. Dieses gewichtige Paket wird der EU eine kurze Atempause verschaffen, doch es ist lediglich ein einmaliger Zuschuss. Rufe nach mehr Massnahmen in diese Richtung wurden von Deutschland entschieden abgelehnt. Letztlich sind keine der Probleme gelöst.
Merkel war gezwungen, Deutschlands Lockdown zu verlängern. Ihre Koalition streitet sich über die langsame Impfkampagne und Mangelversorgung. Die Stimmung im Land ist von Selbstzufriedenheit in Trübsinn übergegangen. Die Financial Times bemerkte, dass „die politische Landschaft im Vorfeld der Wahlen im September zerrissen und unbeständig aussieht.“
In Frankreich ist die Macron-Regierung jetzt völlig diskreditiert und wird von 60% in Umfragen abgelehnt: seit der Gelbwestenbewegung ist das der höchste Wert. Die offizielle Arbeitslosenquote beträgt 9%, ist aber in Wirklichkeit viel höher.
Die „grosse nationale Debatte“ hatte nicht den Effekt, die Unterstützung der Öffentlichkeit für die Regierung zu verstärken, ebensowenig der Rauswurf des Premierministers Edouard Philippe. Macrons wiederholte Versuche, sich als „grosser Staatsmann“ auf der internationalen Bühne zu geben, rufen nichts als sarkastisches Lachen auf allen Ebenen hervor.
Vor nicht langer Zeit war Grossbritannien wohl das stabilste Land in Europa. Jetzt ist es wohl das instabilste.
Die gegenwärtige Krise hat die Schwäche des britischen Kapitalismus brutal enthüllt. Das Vereinigte Königreich erlebte 2020 einen Wirtschaftseinbruch um 9,9%, doppelt so viel wie Deutschland und dreimal so viel wie die Vereinigten Staaten. Mit den Auswirkungen der Pandemie und den Gefahren des Brexit konfrontiert, wird es einer weiteren Rezession nicht entkommen.
Der Brexit war ein Akt des schieren Wahnsinns seitens der Konservativen Partei, die der Kontrolle der herrschenden Klasse nun völlig entglitten ist. An der Spitze der Regierung steht ein Zirkusclown, der seinerseits von dementen, reaktionären Chauvinisten kontrolliert wird.
Obwohl die Tory-Partei die Wahlen im Dezember 2019 deutlich gewonnen hat, ist sie zunehmend diskreditiert, insbesondere durch ihre verpfuschte Coronapolitik, die zu mehr Toten als die irgendeines anderen Landes in Europa geführt hat. Die Anzahl der Todesfälle (die in den offiziellen Zahlen offensichtlich untertrieben wird), ist im Verhältnis zur Bevölkerungszahl eine der höchsten weltweit. Doch die Tories weigerten sich kontinuierlich, die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, bis die Härte der Situation ihnen keinen anderen Ausweg mehr liess.
Diese Leute interessieren sich nicht für das Leben oder die Gesundheit der Bevölkerung. Sie interessieren sich auch nicht für den beklagenswerten Zustand, in den sie den NHS (National Health Service) mit Jahrzehnten der Sparpolitik gestürzt haben. Sie werden nur von einer Sache motiviert: Profite.
Die Tories möchten die Produktion um jeden Preis aufrechterhalten. Deshalb waren sie entschlossen, die Schulen wieder zu öffnen. In den ersten Januartagen führte das zu einem Massenprotest und einer Lehrer-Onlinekonferenz mit 400.000 Teilnehmern. Ihre Streikdrohung zwang die Regierung, die Schulen zu schliessen.
Doch trotz der Unbeliebtheit der Regierung sehen die Umfrageergebnisse der Labour Party und ihrer rechten Führung noch schlechter aus. Von der Labour Party kommt keine richtige Opposition.
Der Rücktritt Corbyns und McDonnells nach Labours Niederlage im Dezember 2019 war ein schwerer Schlag für die Linke und ein Geschenk für die Rechte. Die Linke hatte alle Möglichkeiten, die Partei zu transformieren. Die Basis stand völlig hinter ihnen. Das hätte bedeutet, die Partei gründlich zu säubern vom rechten Flügel der Labour-Parlamentsfraktion und -Bürokratie. Doch davor schreckten sie zurück. Sie weigerten sich, die Losung der Abwahl der Abgeordneten zu unterstützen, die von den Marxisten verteidigt wurde und in der Basis breite Unterstützung fand.
Im Grunde fürchten sich die Linken davor, den Kampf bis zum Ende zu führen, was bedeuten würde, mit den Rechten komplett zu brechen. Doch die Rechten sind den Linken gegenüber bei weitem nicht so nett. Von deren Schwäche motiviert, haben sie eine Säuberung der Linken durchgeführt und selbst Corbyns Mitgliedschaft ausgesetzt. Diese Schwäche ist nicht nur eine Frage der Moral, sondern der Politik. Sie ist ein wesentliches Merkmal des Linksreformismus.
Die Grosskonzerne geben jetzt in Labour den Ton an. Keir Starmer redet nicht wie ein Oppositionsführer, sondern wie ein untertäniges Mitglied von Johnsons Regierung. Er wartet, bis Johnson handelt und sagt dann: „Ich auch!“
Jetzt aber sind die Rechten zu weit gegangen. Durch seine Taten hat der rechte Flügel es geschafft, die Linken zum Kämpfen zu zwingen. Die Weichen für einen Kampf in der Labour Partei sind gestellt.
Italien bleibt das schwächste Glied in der Kette des europäischen Kapitalismus. Seine chronische Schwäche wurde von der gegenwärtigen Krise enthüllt. Mit stärkeren Volkswirtschaften wie Deutschland kann es nicht mithalten und so fällt es immer weiter zurück und versinkt immer tiefer in seinen Schulden.
Sein Bankensystem steht permanent am Rande eines Abgrunds, in den es das restliche Europa mitreissen kann. Deshalb muss die EU es stützen, doch sie tut es unter leisem Fluchen.
Die deutschen Banker im Besonderen verlieren zunehmend die Geduld und verlangten noch bis vor Kurzem ernsthafte Massnahmen zur Senkung der Staatsausgaben und des Lebensstandards. Sie drückten also Italien weiter in Richtung des Abgrunds. Seit die Pandemie sie alle gezwungen hat, beim Staat Hilfe zu suchen, geben sie sich etwas grosszügiger, doch wenn sie vorüber ist, werden sie sofort zu den Positionen der Austerität zurückkehren.
Um es durch die gegenwärtige Krise zu schaffen, braucht die italienische herrschende Klasse eine starke Regierung. Doch eine starke Regierung ist in Italien unmöglich. Das politische Regime ist ganz und gar verfault. Das mangelnde Vertrauen zu den Politikerndrückt sich als permanente Regierungskrise aus. Es folgt eine instabile Koalition nach der anderen und nichts verändert sich. Die Massen sind verzweifelt und ihre Suche nach einem Ausweg drückt sich in gewaltigen Schwankungen nach links und rechts aus.
Die Krise ist durch die Pandemie enorm verschärft worden. Sie traf Italien früher und heftiger als irgendein anderes Land. Während wir dies schreiben, nähert sich die Anzahl der Toten durch Covid-19 der Hunderttausendermarke.
Die herrschende Klasse hoffte, die Mitte-Links-Koalition zu erhalten, solang es möglich war, um eine soziale Explosion zu verhindern. Doch in dem Mass, wie die politischen Optionen eine nach der anderen ausgereizt wurden, wurde dieses Unternehmen immer unhaltbarer. Das Feuer unter dem Allerwertesten spürend entfernte Renzis Partei, Italia Viva, ihre drei Minister aus der Koalition Contes wegen deren Scheitern an der Covid-19-Pandemie. Das führte zum Zusammenbruch der Regierung und machte den Weg für die Bildung der Draghi-Regierung frei.
Der Präsident der Republik schritt ein. Anstatt Wahlen auszurufen, lud er Draghi, den ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, ein, eine Regierung zu bilden. Hier haben wir das nächste Beispiel für einen „Technokraten“, der einem Land als Regierungschef vorgesetzt wird, ohne dass ihn jemand gewählt hätte.
Der Bankrott der „linken Mitte“ war eine Gelegenheit für rechtsextreme Formationen wie die „Brüder Italiens“. Sie sind nicht in die Koalition eingetreten, die Draghi stützt, weil sie dafür erstens nicht notwendig sind und zweitens, weil sie der Lega, die sich in der Regierung befindet, rechte Wählerstimmen abziehen wollen.
Früher oder später werden die parlamentarischen Spielchen jedoch vom offenen Klassenkampf abgelöst werden. Auf Grundlage des herrschenden Systems ist keine Stabilität möglich. In Italien gibt es keine Massenpartei der Arbeiterklasse. Doch die Stimmung der Massen wird täglich wütender und ungeduldiger. Die militanten Aktionen der Arbeiter in den ersten Monaten der Pandemie waren Vorboten dessen, was kommen wird.
Das wiederholte Scheitern der Regierungen führt zwangsläufig zu einer Explosion des Klassenkampfs. Die Frage wird letztlich nicht im Parlament entschieden werden und der Tag naht rasch heran, an dem der Schwerpunkt sich von einem diskreditierten Parlament in die Fabriken und Strassen verlagern wird.
Dieselbe Turbulenz und Volatilität sieht man überall. In Russland war die Rückkehr Alexei Navalnys das Signal für eine Protestwelle im ganzen Land. Es gab Demonstrationen mit 40.000 Menschen in Moskau, 10.000 in Petersburg und tausende mehr in 110 weiteren Städten, darunter Wladiwostok und Chabarowsk.
Diese Proteste bewegten sich noch nicht auf demselben massiven Level, das wir zuvor in Belarus gesehen hatten, wo Millionen auf die Strasse gingen, um Lukaschenko zu stürzen. Doch für Russland waren das grosse Demonstrationen. Ihre Zusammensetzung war sehr heterogen: viele aus der Mittelschicht, Intellektuelle, Liberale – aber auch immer mehr Arbeiter, insbesondere junge.
Die Polizei reagierte repressiv. In vielen Städten gab es Strassenkämpfe. Barrikaden wurden durchbrochen, die auf ihrer Seite 40 Verletzte zu verzeichnen hatte. Mehrere tausend Menschen wurden festgenommen.
Was drückt das aus? Die Proteste waren teilweise Ausdruck der Empörung über die Festnahme Nawalnys. Doch die Frage Nawalny ist nur ein Element in der Situation, und nicht notwendigerweise das wichtigste.
In den westlichen Medien stellt man Alexei Nawalny als heldenhaften Verteidiger der Demokratie dar. In Wahrheit ist er ein ehrgeiziger Opportunist mit einer zweifelhaften politischen Vergangenheit. Rückblickend wird er als zufällige Figur erscheinen.
Doch zufällige Figuren spielen an gewissen Zeitpunkten auch eine Rolle in der Geschichte. Ebenso wie wenn in der Chemie ein Katalysator benötigt wird, um eine bestimmte Reaktion zu provozieren, ist im revolutionären Prozess ein Referenzpunkt notwendig, um die angestaute Unzufriedenheit der Massen zum Entflammen zu bringen. Was genau der Charakter dieses Katalysators ist, ist nicht von Bedeutung. In diesem Fall war es die Festnahme Nawalnys. Es hätte alles Mögliche sein können.
Das Wesentliche ist nicht der Zufall, durch den die Notwendigkeit sich ausdrückt, sondern die Notwendigkeit selbst. Die wirkliche Ursache dieses Aufstandes war die angestaute Wut der Bevölkerung über sinkende Lebensstandards, die Wirtschaftskrise und die Verbrechen eines korrupten und repressiven Regimes.
Alles deutet darauf hin, dass Putins Unterstützung zurückgeht. Früher gaben ihm die Umfragen regelmässig über 70 Prozent Unterstützung. Als die Krim annektiert wurde, stieg der Wert auf über 80 Prozent. Jetzt schwebt er um die 63 Prozent und an seinem Tiefpunkt war er bei 50%. Diese Zahlen müssen dem Kreml einen heftigen Schrecken eingejagt haben.
Früher konnte Putin auf einigen Erfolg im wirtschaftlichen Bereich verweisen, jetzt nicht mehr. Zwischen 2013 und 2018, vor der Pandemie, betrug das jährliche Wachstum 0,7 Prozent, es stagnierte also im Wesentlichen. Und Ende 2020 gab es ein Negativwachstum von etwa 5 Prozent. Die Arbeitslosigkeit nimmt rasch zu und viele Familien verlieren ihre Wohnungen.
Insbesondere nach der Annexion der Krim, die mehrheitlich von Russen bewohnt wird, spielte Putin die nationale Karte. Das gab seiner Beliebtheit einen Schub, doch der betörende Duft des Nationalismus ist nun weitestgehend verweht und Putins Glaubwürdigkeit wurde durch seine Rentenreform schwer beschädigt.
Es gibt eine wachsende Empörung über die monströse Korruption und den luxuriösen Lebensstil der herrschenden Elite. Zwei Tage nach seiner Festnahme gab Nawalny ein Video heraus, das von Millionen gesehen wurde, in dem er die persönliche Korruption Putins enthüllte. Das Video zeigte einen grossen Palast, den er sich am Schwarzen Meer erbauen liess. All das befeuert eine explosive Stimmung.
Die Basis, auf die das Regime sich stützt, verengt sich immer weiter. Außerhalb der Kreml-Oligarchenclique, berüchtigt für ihre Korruption, besteht diese Basis hauptsächlich aus Beamten, deren Jobs und Karriere vom Boss abhängen, aus einer grossen Anzahl von Komplizen, die von Staatsaufträgen und Geschäftsbeziehungen zum Kreml abhängig sind und aus anderen, denen es dank dem Kreml gut ergangen ist.
Und schliesslich stützt er sich, das ist bedeutsam, auf den Sicherheitsapparat und die Armee. Das Putinregime ist ein bürgerlich-bonapartistisches Regime. In letzter Instanz ist der Bonapartismus die Herrschaft des Schwerts. Putin ist der „starke Mann“ an der Spitze des Staates, von wo aus er zwischen den Klassen balanciert und sich als Verkörperung der russischen Nation darstellt.
Doch dieser starke Mann steht auf tönernen Füssen. In dem Mass, wie er seine Unterstützerbasis verschleisst, ist er genötigt, sich durch Schwindel, schamlose Wahlfälschung und nackte Repression an der Macht zu halten.
Talleyrand soll einst zu Napoleon gesagt haben, dass man mit Bayonetten vieles tun könne, aber nicht sich draufsetzen. Putin wäre gut beraten, über diesen weisen Ratschlag nachzudenken. Die Festnahme, Verhaftung und Vergiftung politischer Gegner sind keine Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche.
Der Terror ist ausserdem eine Waffe, deren Nützlichkeit nach einer Weile abnimmt. Früher oder später verlieren die Menschen ihre Angst. Das ist der gefährlichste Moment für ein autoritäres Regime. Die jüngsten Demonstrationen sind der Beweis dafür, dass dieser Prozess bereits begonnen hat.
In Wirklichkeit wird das Regime nur von der vorübergehenden Trägheit der Massen getragen. Man kann nicht mit Sicherheit sagen, wie lang das gegenwärtige, instabile Gleichgewicht halten wird. Gegenwärtig ist es der massiven Repression gelungen, die Proteste abzubremsen, doch von den zugrundeliegenden Problemen ist keines gelöst.
Die jüngsten Proteste alarmierten das Regime. Es kombiniert Repression mit Zugeständnissen. So haben sie einen Plan angekündigt, den ärmsten Familien zu helfen. Mag sein, dass sie sich so etwas Zeit erkaufen. Doch der relativ niedrige Ölpreis wird der russischen Wirtschaft weiter schaden und die Sanktionen der USA werden bleiben und sogar verschärft werden.
In Russland ist die Rolle des subjektiven Faktors schreiend offensichtlich. Wenn die KPRF eine richtige kommunistische Partei wäre, würde sie jetzt ihre Machtübernahme vorbereiten. Doch die Sjuganow-Clique hat kein Interesse daran, die Macht zu übernehmen. Sie hat es sich mit Putin sehr gemütlich eingerichtet. Er garantiert ihre Privilegien unter der Bedingung, dass sie nichts tun, um seine Machtposition zu gefährden.
Die Haltung der KPRF-Führer sorgt in der Parteibasis für wachsende Unruhe. Es hat mehrere örtliche oder regionale Aufstände gegeben, die mit Säuberungen und Ausschlüssen niedergeschlagen wurden. Ganze regionale Organisationen sind auf diese Weise ausgelöscht worden. Sjuganow fürchtet einen möglichen Anstieg der radikalen Oppositionsstimmung innerhalb der Partei. Und eine solche Zunahme der Opposition und die Verschärfung der Krise in der Kommunistischen Partei eröffnet die Möglichkeit, einen echten marxistischen Einfluss unter der breiten Masse der Kommunistinnen und Kommunisten zu stärken.
Der gegenwärtige unruhige Waffenstillstand wird vielleicht noch einige Monate oder gar Jahre anhalten. Doch die Verzögerung wird nur bedeuten, dass sich die Widersprüche weiter zuspitzen und eine noch grössere Explosion in der Zukunft vorbereiten. Das entscheidende Element in der Gleichung ist die russische Arbeiterklasse, die ihr letztes Wort noch nicht gesprochen hat.
Es ist unmöglich, einen präzisen Zeitplan der Ereignisse zu erstellen. Russland ist noch nicht in einer vorrevolutionären Situation, doch die Ereignisse bewegen sich sehr schnell. Wir müssen die Ereignisse in diesem Land und den Fortschritt der russischen Marxisten mit grosser Aufmerksamkeit verfolgen.
In Indien gibt es eine Aufstandsbewegung der Bauern, die mit einem Traktorenzug die grosse Militärparade zum Tag der Republik am 26. Januar unterbrochen haben.
Diese Ereignisse muss man in Verbindung zur weltweiten Krise des Kapitalismus sehen. In der halsabschneiderischen Konkurrenz im Landwirtschaftssektor versuchen die grossen multinationalen Nahrungsmittelkonzerne, die Produktionspreise herabzudrücken, die kleine und mittlere Bauern für ihre Produkte erhalten.
Die Vermarktwirtschaftlichung der indischen Landwirtschaft ist kein neues Phänomen. Sie vollzieht sich seit Jahren, wie wir unter der vorherigen Regierung unter Manmohan Singh gesehen haben. Das Finanzkapital ist grossflächig in die indische Landwirtschaft eingedrungen und zwingt die Bauern, sich mehr und mehr, in unerträglichem Ausmass, zu verschulden, um notwendige landwirtschaftliche Güter zu erwerben, deren Kosten explodieren.
Als die neuen Gesetze eingeführt wurden, wurden die Preise, die die Bauern erhielten, um bis zu 50 Prozent reduziert, während die Preise für Nahrungsmittel im Einzelhandel stiegen. Diese unerträgliche Situation hat die grosse Bewegung der indischen Bauern hervorgebracht. Sie fordern, dass die neuen Gesetze zurückgenommen werden. Doch keine ihrer Forderungen ist erfüllt worden und keine dieser Fragen wurde in den Verhandlungen geklärt.
Was im August 2020 als lokale Protestbewegung in Punjab begann, als Modis Landwirtschaftsgesetze öffentlich gemacht wurden, eskalierte und wurde zu einer viel grösseren Bewegung und breitete sich auf andere Staaten aus. Im September 2020 riefen Bauernorganisationen in ganz Indien zu einem Bharat Bandh auf, also einer Stilllegung ganz Indiens. Die Bewegung eskalierte immer weiter, weil endlose Verhandlungen mit der Regierung zu nichts führten. Fünf Millionen beteiligten sich an Demonstrationen an über 20.000 Orten im Dezember 2020.
Ein wichtiger Wendepunkt in dieser Bewegung kam mit den dramatischen Ereignissen des 26. Januar, als hunderttausende Bauern in Delhi für ihre Forderungen Demonstrierten. Sie kämpften sich vom Stadtrand bis in das historische Rote Fort der Stadt vor. Diese armen Menschen zeigten gewaltigen Mut, indem sie die schwerbewaffnete Polizei bekämpften, die sie mit Peitschen angriff, trat und zu Boden schlug.
Trotz der heftigen Polizeirepression stürmten die Bauern das Rote Fort und besetzten die Schutzwälle. Die Polizei musste sich sehr bemühen, um sie zu entfernen. Ein Demonstrant starb und mehr als 300 Polizeibeamte wurden verletzt. Das erzürnte die Bauern nur noch mehr. Die Solidarität führte zu einer weiteren Vergrösserung der Bewegung.
Das Ausmass dieses Kampfes drückt auch eine Gärung in der gesamten Gesellschaft aus. Was man für relativ konservative Schichten in ländlichen Gebieten gehalten hatte, bewegte und radikalisierte sich durch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise.
Vor nicht allzu langer Zeit, als Modi die Wahlen zum ersten Mal gewann, beklagten die müden Linken und Exlinken den Aufstieg des „Faschismus“ in Indien. Unsere Strömung aber verstand, dass Modi als Präsident nur die Bedingungen für einen gewaltigen Gegenschlag schaffen würde. Unsere Perspektive wurde von den Ereignissen auf einer gewaltigen Ebene bestätigt. Weit entfernt vom Faschismus gibt es stattdessen Klassenpolarisierung und harten Klassenkampf.
Modi ist vom Bauernaufstand offensichtlich zum Zittern gebracht worden, weil er einen Eindruck von der aufgestauten Wut der Massen gegeben hat. Aber die Schwäche der Bewegung in Indien ist die Führung der Gewerkschaften, die es nicht geschafft haben, eine ernsthafte Antwort der mächtigen indischen Arbeiterklasse zur Unterstützung der Bauern zu liefern.
All das kommt nach Jahren, in denen wir massive Mobilisierungen des indischen Proletariats gesehen haben, mit einer Reihe riesiger 24-stündiger Generalstreiks mit bis zu 200 Millionen Arbeitern – die grössten Generalstreiks in der Geschichte der internationalen Arbeiterklasse.
Im September 2016 beteiligten sich zwischen 150 und 180 Millionen öffentlich Bedienstete an einem 24-stündigen Generalstreik. 2019 beteiligten sich 220 Millionen, im Januar 2020 250 Millionen Arbeiter an einem 24-stündigen Generalstreik.
Diese Tatsachen stellen das kolossale revolutionäre Potential des indischen Proletariats unter Beweis. Die Arbeiter sind bereit, zu kämpfen. Doch die Linie der Stalinisten war nicht, die Massen zu einem entscheidenden Kampf gegen das Modi-Regime zu mobilisieren, sondern nur, sich auf die Massenbewegung zu stützen, um Zugeständnisse und Deals mit Modi zu erreichen.
In der Praxis verwendeten sie die Taktik eintägiger Generalstreiks, um den Arbeitern zu ermöglichen, Dampf abzulassen, während sie die Massenbewegung in eine harmlose Richtung ablenkten. Das war auch die Taktik der Gewerkschaftsführer in Griechenland, die ebenso zu einer Reihe eintägiger Generalstreiks aufriefen. Das ist ein Trick, um die Arbeiter zu ermüden und den Generalstreik in eine bedeutungslose Geste zu verwandeln. Sie erzeugen die Illusion, dass jetzt eine entscheidende Aktion stattfindet, während sie gleichzeitig diese Aktion untergraben.
Objektiv existieren in Indien alle Bedingungen für einen flächendeckenden Generalstreik. Die kommunistischen Parteien und Gewerkschaftsführer hätten hier eine wichtige Rolle zu spielen gehabt, aber sie trödeln herum. Sie hätten die Modi-Regierung stürzen und seine reaktionäre Politik beenden können. Stattdessen machen sie symbolische Aussagen, rufen aber nicht zu ernsthafter Aktion auf.
Das unterstreicht die dringende Notwendigkeit, die Kräfte des Marxismus in Indien aufzubauen. Wir müssen aber einen Sinn für Proportionen wahren. Unsere Organisation in Indien befindet sich noch in einer Frühphase. Es wäre ein fataler Fehler, eine übertriebene Vorstellung davon zu haben, was wir erreichen können.
Unsere Aufgabe ist nicht, die Bewegung anzuführen oder die Massen zu gewinnen, sondern geduldig zu arbeiten, um die besten und revolutionärsten Elemente zu gewinnen, die mit dem endlosen Zögern und Schwanken der Führung die Geduld verlieren.
Wir müssen zeitgerechte Übergangsforderungen vorbringen, die den dringenden Bedürfnissen der Situation entsprechen und die Bewegung vorantreiben, während wir das feige Verhalten der Führung entlarven.
Der Bauernkampf findet ein Echo in den Fabriken. Unter diesem Druck haben die Gewerkschaftsführer begonnen, von einem viertägigen Generalstreik zu reden. Wir würden diese Forderung unterstützen; was notwendig ist, sind aber nicht Worte, sondern Taten!
Wir sollten sagen: Also gut, dann machen wir einen viertägigen Generalstreik, aber mit weniger Gerede und mehr Taten! Nennt den Tag! Beginnt die Kampagne in den Fabriken! Beruft Massenversammlungen ein, bildet Streikkomitees! Mobilisiert die Bauern, die Frauen, die Jugend, die Arbeitslosen und alle Unterdrückten der Gesellschaft! Und verbindet diese Kampforgane der Basis auf städtischer, regionaler und nationaler Ebene! Mit anderen Worten, bildet Sowjets zum Zweck der Übertragung der Macht auf die Arbeiter und Bauern!
Wenn die Massen Indiens einmal zur Machtübernahme organisiert sind, kann keine Macht der Welt sie aufhalten. Ein viertägiger Streik würde sich bald in einen unbegrenzten Generalstreik verwandeln. Damit aber stellt sich die Machtfrage.
Das ist die Perspektive, die wir den indischen Arbeitern und Bauern geduldig erklären müssen. Obwohl wir sehr klein sind, wird unsere Nachricht dann bei den fortgeschrittensten Arbeitern und Jugendlichen ankommen, die nach dem revolutionären Weg suchen.
Unsere Aufgabe besteht darin, eine ausreichende Anzahl revolutionärer Kader zu gewinnen und auszubilden, um effektiv in die dramatischen Ereignisse zu intervenieren, die sich in der kommenden Periode ereignen werden.
Der Militärputsch in Myanmar bestätigt, dass wir in einer Periode der scharfen Wendungen und plötzlichen Veränderungen leben. Der Putsch war für viele eine Überraschung. Das Militär hatte eine Verfassung entworfen, die ihm 25% der Parlamentsmitglieder und die Kontrolle über Schlüsselministerien garantiert. Ausserdem hatte es eine Klausel eingeführt, die es dem Militär erlaubt, im „Notfall“ einzuschreiten.
Was war aber der Notfall? Das Militär rechtfertigte seine Intervention mit dem Vorwurf grossflächigen Wahlbetrugs während des Erdrutschsiegs von Aung San Suu Kyi und der Nationalen Liga für Demokratie im November 2020.
In Wahrheit steht hinter dem Putsch der schwelende Konflikt darüber, wer von der seit 1988 betriebenen Privatisierungspolitik profitieren soll. Die Militärs waren seither damit beschäftigt, sich zu bereichern, in dem sie Staatseigentum zu Schleuderpreisen an sich reissen.
Die Imperialisten sind mit dem Problem konfrontiert, dass die dominante Macht von aussen in Myanmar China ist. Der grösste Anteil an Myanmars Import- und Exporthandel findet mit China statt. Folglich haben wir es hier im Wesentlichen mit einem Kampf zwischen China und den USA um die Einflussnahme im Land zu tun, wobei Aung San Suu Kyi eine Agentin der letzteren ist.
Die Militärchefs machten sich selbst zu kapitalistischen Oligarchen und betrachteten den massiven Erdrutschsieg der NLD als potenzielle Bedrohung für die Durchsetzung ihrer Interessen. Das Militär ist unter den Massen verhasst und die Offizierskaste fürchtet, dass mit derartig grosser Unterstützung die neue Regierung ihre Privilegien und Macht eindämmen könnte.
Das Militär fürchtet ausserdem das wachsende Selbstvertrauen der Massen nach den Wahlen. Aus der Vergangenheit daran gewöhnt, mit Befehlsgewalt zu regieren, dachten sie, sie könnten intervenieren und vorgeben, in welche Richtung das Land gehen soll. Was sie nicht bedacht hatten, war, wie stark die Opposition gegenüber der Militärherrschaft ist. Die Massen haben nicht vergessen, wie es war, unter der Militärherrschaft zu leben, und betrachten die Militärskaste als korrupt und geldgierig.
Was wir hier sehen ist ein Beispiel dafür, was Marx als die „Peitsche der Konterrevolution” bezeichnete. Anstatt die Massen zu terrorisieren und zu paralysieren, hat der Putsch sie sogar angetrieben. Die Perspektive für Myanmar ist dementsprechend nicht Demoralisierung, sondern intensivierter Klassenkampf.
China, das vormals für den Weltkapitalismus ein grosser Teil der Lösung war, stellt sich jetzt als ein grosser Teil des Problems dar.
China ist die einzige wirtschaftliche Grossmacht, die im Jahr 2020 Wachstum erlebt hat. Der chinesische Staat reagierte mit extrem entschiedenen Massnahmen, um sowohl die Pandemie, als auch die Wirtschaftskrise zu bekämpfen. Aus kapitalistischer Sicht war das erfolgreich, wenn auch zu einem hohen Preis. Chinas Schulden schiessen seit 2008 in die Höhe; während der Pandemie stiegen sie um 30% und erreichten 2020 285% des BIP. Das Land hat viele fortgeschrittene kapitalistische Länder in seinem Schuldenstand mittlerweile überholt.
Die Weltbank prognostiziert für dieses Jahr ein Wachstum von 8%. Seit dem Frühjahr letzten Jahres hat China den Rest der Welt übertroffen. Doch genau dieser Erfolg wird dem Land zum Verhängnis, denn der Aufschwung ist exportorientiert. Die Behörden in Peking versuchen seit einiger Zeit, die Struktur der chinesischen Wirtschaft von ihrer starken Abhängigkeit von Investitionen und Exporten auf die Stärkung der Binnennachfrage umzustellen. Sie haben auch versucht, Industrien in neuen Technologien zu entwickeln, wie z. B. künstliche Intelligenz, 5G und Solarenergie, die eine höhere Arbeitsproduktivität aufweist. Sie versuchen auch, alternative Handelsabkommen zu entwickeln, um den Versuchen der USA entgegenzuwirken, China zu isolieren.
Keine dieser Massnahmen wird die sich entwickelnden Widersprüche in der chinesischen Wirtschaft auflösen. Vielmehr ist die Wirtschaft seit Beginn der Pandemie noch stärker von den Exporten abhängig geworden. Darüber hinaus wächst die Verschuldung weiterhin explosionsartig, die Konflikte mit den Nachbarn und anderen imperialen Mächten verschärfen sich, und die Ungleichmässigkeit des Wachstums setzt sich fort, wobei die Küstenregionen dem Landesinneren weit voraus sind. All dies wird die bereits bestehenden sozialen Widersprüche noch verschärfen.
Das ist ein fertiges Rezept für neue Widersprüche, die die Stabilität, nicht nur Chinas, sondern der ganzen Welt, bedrohen. China geht am Weltmarkt aggressiv vor und wird noch aggressiver vorgehen und die Krise in der restlichen Welt zum eigenen Vorteil nützen müssen. Das wird unweigerlich zu wachsenden Spannungen zwischen China und den Vereinigten Staaten, die China als hauptsächliche Bedrohung für ihre Wirtschaft und Vormachtstellung sehen, führen.
Es ist kein Zufall, dass die scheidende Trump-Regierung gegenüber China eine Politik der „verbrannten Erde“ praktizierte, doch auch unter Biden wird sich die Politik gegenüber China nicht fundamental verändern. Sowohl die Demokraten als auch die Republikaner betrachten China als Hauptbedrohung der USA im Weltmassstab.
Der Konflikt zwischen den USA und China droht eine weitere Intensivierung der Handelskriege mit sich zu bringen. Das ist die grösste Bedrohung für den Kapitalismus weltweit, denn es war das Wachstum des Welthandels (die sogenannte Globalisierung), das den Kapitalismus in der vergangenen Periode mit dem nötigen Sauerstoff versorgte.
Das wird sich wiederum auf China auswirken. Eine Wirtschaftskrise würde eine ernsthafte Bedrohung für die soziale Stabilität darstellen. Es gab und gibt bereits Betriebsschliessungen und Arbeitslosigkeit, auch wenn der Staat dies zu verschleiern versucht. Private Unternehmen wälzen ihre Probleme mit Kündigungen und Lohnkürzungen auf die Arbeiter ab. Lohnzahlungen werden über Monate hinausgezögert, während sich in den Belegschaften grosse Wut und Feindseligkeit anstauen.
Die herrschenden Kreise fürchten die Möglichkeit sozialer Explosionen als Folge der Krise und ein Anwachsen der Arbeitslosigkeit. Das ist der Hauptgrund, weshalb Xi Jinping so brutal und resolut in Hongkong vorgehen musste. Das war kein Ausdruck der Stärke, sondern der Angst und Schwäche. Die chinesische herrschende Klasse fürchtete, dass diese Bewegung sich auf das Festland ausbreiten könnte und in der Zukunft wird sie das schlussendlich auch, so sicher wie die Nacht auf den Tag folgt.
Bislang konnte das Regime die schwelende Unzufriedenheit erfolgreich unter Kontrolle halten. Doch es kann jederzeit zu Explosionen kommen und wenn das geschieht, wird es nicht möglich sein, diese so zu unterdrücken, wie es in Hongkong der Fall war. Sogar dort hat das Regime zeitweise die Kontrolle über die Ereignisse verloren. Wäre die Regierung mit hunderten oder tausenden Hongkongs inmitten Festlandchinas konfrontiert, würde ihr das den Boden unter den Füssen wegziehen.
In China bereiten sich grosse Ereignisse vor. Gerade weil China ein totalitäres Regime ist, in dem das meiste, was geschieht, im Verborgenen liegt, werden sie dann stattfinden, wenn es niemand erwartet.
Es war nicht Roosevelts New Deal, der die USA in den 1930er Jahren aus der Depression geholt hat, sondern der Zweite Weltkrieg. Doch dieser Weg ist nun versperrt. Die Macht des amerikanischen Imperialismus hat sich im Vergleich zu anderen Mächten deutlich verringert und damit auch seine Fähigkeit, militärisch zu intervenieren.
Die Notwendigkeit, neue Märkte und Rohstoffquellen zu erobern, zwingt China, am Weltmarkt aggressiver vorzugehen. Es reisst den Zugang zu Ressourcen auf der ganzen Welt an sich. Zum Beispiel hat China einen Hafen und einen Flughafen in Sri Lanka unter seine Kontrolle gebracht; es wurde eine Militärbasis in Dschibouti eingerichtet, es werden Eisenbahnstrecken in Äthiopien gebaut, um sich Zugang zu Kupfer und Kobalt im Kongo, Kupfer in Sambia, Öl in Angola usw. zu verschaffen. China deklariert auch seine Souveränität über das südchinesische Meer, die wichtigste Route des Welthandels.
All das bedroht direkt die Interessen des amerikanischen Imperialismus und bedeutet unweigerlich eine Intensivierung der Spannungen zwischen China und den Vereinigten Staaten. In den vergangenen Perioden hätte das zweifellos zu Krieg geführt. Aber die Machtverhältnisse haben sich komplett verändert.
Trump war nicht in der Lage, Nordkorea dazu zu bewegen, seine Atomwaffen aufzugeben. Der „Little Rocket Man“ (Anm.: Kim Jong-Un) führte ihn an der Nase herum. Weshalb also erklären die USA Nordkorea nicht den Krieg? Schliesslich ist es ein sehr kleines asiatisches Land.
In der Vergangenheit führten die USA bereits einen Krieg in Korea, der in einem Unentschieden endete. Doch in Vietnam wurden sie, nach enormen Verlusten an Geld und Menschenleben, zum ersten Mal besiegt. Danach erlitten sie Niederlagen im Irak, Afghanistan und in Syrien.
Trump schien einen Luftangriff auf den Iran vorzubereiten, machte aber im letzten Moment einen Rückzieher aus Angst vor den Konsequenzen. All dies unterstreicht die Tatsache, dass Krieg keine abstrakte, sondern eine sehr konkrete Frage ist.
Die USA konnten die Ukraine oder Georgien nicht gegen Russland verteidigen, das eine sehr mächtige Armee hat, die ihre Stärke in Syrien bewiesen hat. Die USA waren gezwungen, sich zurückzuziehen, und liessen Russland und den Iran de facto als Herrscher über das Land zurück. Die Amerikaner schickten eine Handvoll Truppen in die baltischen Staaten, um diese vor Russland zu “beschützen”. Doch Putin hat keinerlei Absicht in diese kleinen Länder einzumarschieren und wird deshalb keine schlaflosen Nächte erleiden.
Der Fall ist in Hinblick auf China noch klarer. China ist heute kein armes, unterentwickeltes Land mehr, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Es ist ein wirtschaftlich entwickelter Staat mit einer mächtigen Armee. Es besitzt Nuklearwaffen und genügend interkontinentale Sprengköpfe, um jede beliebige Stadt in den USA anzugreifen, wenn es das möchte.
Die Tatsache, dass China kürzlich einen Satelliten in den Orbit um den Mond stationiert und eine Marsmission gestartet hat, unterstreicht diese Stärke Chinas deutlich, was auch Washington zur Kenntnis genommen hat. Dementsprechend steht die Frage von Krieg zwischen den USA und China, oder auch zwischen den USA und Russland, in der vorhersehbaren Zukunft nicht zur Debatte.
Ein Flächenbrand wie 1914-18 oder 1939-45 kann wegen der verschobenen Machtverhältnisse ausgeschlossen werden. Unter modernen Bedingungen würde das einen nuklearen Krieg bedeuten, der für die ganze Welt katastrophale Folgen hätte.
Dennoch heisst das nicht, dass die kommende Periode eine der friedlichen Gelassenheit sein wird. Ganz im Gegenteil. Es wird andauernd Kriege geben – kleine aber verheerende Kriege – besonders in Afrika und im Mittleren Osten. Die US-Imperialisten sind, gemeinsam mit anderen imperialistischen Mächten, seit jeher in lokalen Kriegen involviert und unterstützen Stellvertreterarmeen, um Krieg gegen ihre Konkurrenten zu führen. China wird in der Zukunft genauso vorgehen. Die USA hingegen sind immer weniger bereit, das Leben von US-Soldaten in ausländischen Kriegen zu riskieren, die öffentliche Mehrheit ist heute völlig dagegen.
Diese Situation kann sich nur ändern, sollte ein bonapartistisches Militär-Polizei-Regime in den USA die Macht erlangen. Das wäre aber nur im Fall einer Reihe entscheidender Niederlagen der amerikanischen Arbeiterklasse möglich, was ganz und gar nicht unsere Perspektive ist. Lange bevor eine solche Situation eintreten würde, wird die Arbeiterklasse viele Gelegenheiten haben, die Macht zu ergreifen. Das andauernde Gejammer der sogenannten Linken und der Sekten über den angeblichen Faschismus von Trump ist nichts anderes als kindisch und wir sollten dem überhaupt keine Bedeutung beimessen.
Gegenwärtig nutzt der US-Imperialismus seine wirtschaftliche Stärke, um seine globale Vorherrschaft zu behaupten. Die Trump-Regierung drohte wiederholt mit wirtschaftlichen Sanktionen, um den Rest der Welt zu nötigen sich Washingtons Aussenpolitik zu beugen. Der US-Imperialismus nutzt den Handel als Waffe.
Nachdem Trump den Iran-Deal, der von der vorhergehenden US-Regierung und ihren europäischen Verbündeten mühsam erarbeitet wurde, einseitig beendet hatte, verschärfte er die Sanktionen, um die iranische Wirtschaft zu erdrosseln und zwang dann europäische Unternehmen und Banken nachzufolgen, um nicht aus den US-Märkten ausgeschlossen zu werden.
Hatten die britischen Imperialisten in der Vergangenheit ein Problem mit einem halb-kolonialen Land wie Persien, schickten sie einfach ein Kanonenboot, um sich darum zu kümmern. Heute schickt der US-Imperialismus einen Brief von der Handelskammer. Tatsächlich sind die Auswirkungen des letzteren bei Weitem verheerender als ein paar Granaten, die von einem Kriegsschiff abgefeuert werden.
Clausewitz sagte, der Krieg sei eine blosse Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Heute sollten wir hinzufügen, dass Handel der Krieg mit anderen Mitteln ist.
Wenn die herrschende Klasse sich in Gefahr sieht, alles zu verlieren, greift sie zu verzweifelten Massnahmen, um das System zu retten. Das ist es was wir jetzt sehen. In ihrer verzweifelten Suche nach Lösungen für die Krise, taumelt die Bourgeoisie wie ein Betrunkener von einer Strassenlaterne zur anderen.
Sie kramen im Abfalleimer der Geschichte und fischen die alten Ideen des Keynesianismus heraus. Die Bourgeoisie ist wie betrunken von neu entdeckten Illusionen, die nichts anderes sind als alte, diskreditierte Theorien, die sie in der Vergangenheit bereits verächtlich verworfen hatten.
Ted Grant beschrieb den Keynesianismus als Voodoo-Ökonomie. Das ist eine angemessene Beschreibung. Die Idee, dass die Bourgeoisie der Krise entkommen kann, indem sie grosse Summen öffentlichen Geldes investiert, klingt attraktiv – besonders für linke Reformisten, die damit von der Notwendigkeit, für eine Veränderung in der Gesellschaft zu kämpfen, befreit werden. Doch es gibt ein kleines Problem.
Der Staat ist kein magischer Geldbaum. Die Idee, dass es eine unbegrenzte Geldquelle gibt, ist völliger Unsinn. Dennoch hat so gut wie jede Regierung diesen Unsinn aufgegriffen. Es ist eine aus der Verzweiflung geborene Politik, die zu einer Anhäufung astronomischer Schuldenberge führt, die, ausser zu Kriegszeiten, beispiellos bleiben.
Im Augenblick geben die Regierungen überall Geld aus, als wäre es Wasser. Sie sprechen darüber, Milliarden von Dollar, Euro oder Pfund auszugeben, als würden sie Taschengeld für eine Schachtel Streichhölzer ausgeben.
Das Ergebnis davon ist eine tickende Zeitbombe an Schulden, die in die Grundpfeiler der Wirtschaft verbaut ist. Auf lange Sicht werden die Auswirkungen bei weitem fataler sein, als jeder terroristische Bombenanschlag. Alan Greenspan bezeichnete dies einst als “die Übermütigkeit des Marktes”.
Eine treffendere Beschreibung dafür wäre “Irrsinn”. Dieser Irrsinn muss zum Fall führen, was euphemistisch als “Marktkorrektur” bezeichnet wird.
Am 8. Mai 2020 veröffentlichte die Redaktionsleitung der Financial Times eine Stellungnahme, in der zu lesen ist:
“Abgesehen von einer kommunistischen Revolution ist es schwer vorstellbar, wie die Regierungen noch schneller und tiefer in die privaten Märkte – Arbeit, Kredit, den Austausch von Waren und Dienstleistungen – hätten eingreifen können, als sie es in den letzten beiden Monaten des Lockdowns getan haben.
Über Nacht erhielten Millionen von Angestellten im privaten Sektor ihre Gehaltszahlungen aus öffentlichen Budgets und die Zentralbanken fluteten die Finanzmärkte mit elektronischem Geld. ”
Doch wie können diese Stellungnahmen mit dem oft wiederholten Mantra, dass der Staat keinerlei Rolle in der freien Marktwirtschaft zu spielen hat, vereinbart werden? Auf diese Frage gibt uns die Financial Times eine ausserordentlich interessante Antwort.
“Doch der liberale demokratische Kapitalismus ist nicht eigenständig, er muss beschützt und gepflegt werden, um widerstandsfähig zu sein.”
Mit anderen Worten, der “freie Markt” ist gar nicht frei. Unter den herrschenden Bedingungen muss er sich auf den Staat wie auf Krücken stützen. Er kann nur dank gewaltiger und beispielloser Almosen des Staates weiter existieren. Der IWF berechnet die weltweite Gesamtsumme an finanziellen Unterstützungen mit atemberaubenden 14 Billionen USD. Die weltweiten Staatsschulden haben damit erstmals in der Geschichte 99% des weltweiten Bruttoinlandsprodukts erreicht.
Das ist ein Eingeständnis des Bankrotts – im wahrsten Sinne des Wortes. Das zentrale Problem in der Gleichung kann mit einem Wort zusammengefasst werden: Schulden. Die weltweite Schuldenquote (inkl. Staaten, Haushalte und Unternehmen) erreichten Ende 2020 356% des weltweiten BIP, das sind 35% mehr als noch 2019 und damit ein Rekord von 281 Billionen USD. Jetzt ist dieser Schuldenstand noch höher und steigt immer noch. Das ist die grösste Gefahr, mit der das kapitalistische System konfrontiert ist.
Japan gab etwa 3 Billionen USD aus, um den wirtschaftlichen Schlag der COVID-19-Krise abzufedern, das allein ist schon das Zweieinhalbfache seiner Wirtschaftsleistung. Besonders schwer wiegt das Problem in China, dessen Schuldenquote bereits 280% des BIP übersteigt. Das stellt China auf eine Ebene mit den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern und die Schuldenquote steigt in allen Sektoren der Wirtschaft weiterhin rasant an.
Diesen Januar warnte die Weltbank vor einer “vierten Schuldenwelle”, die ausserhalb der fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten besonders schwerwiegend ist. Sie sorgen sich ernsthaft über einen Finanzcrash mit langfristigen Folgen.
Die Bourgeoisie verhält sich wie ein verantwortungsloser Glücksspieler, der gewaltige Unsummen ausgibt, die er gar nicht besitzt. Sie leiden an denselben Wahnvorstellungen und haben dieselbe überschwängliche Ekstase im festen Glauben daran, dass ihnen das Glück niemals ausgehen wird… bis der Moment der Wahrheit kommt – und das wird er –, wenn die Schulden zurückgezahlt werden müssen.
Früher oder später werden die Schulden sie einholen. Aber kurzfristig führen sie diesen Wahnsinn enthusiastisch fort, drucken enorme Mengen an Geld, das keinerlei Deckung in der Realwirtschaft hat, und überschwemmen die Wirtschaft mit horrenden Summen an fiktivem Kapital.
Es handelt sich jedoch nicht einfach um eine „Schuldenkrise“, wie einige der Liberalen und Reformisten behaupten. Das eigentliche Problem ist die Krise des Kapitalismus – eine Krise der Überproduktion, für die diese enormen Schulden ein Symptom sind. Hohe Schulden sind nicht unbedingt ein Problem an sich. Wenn es langfristig ein starkes Wirtschaftswachstum gäbe, wie in der Nachkriegszeit, dann könnten solche Schulden verwaltet und schrittweise abgebaut werden. Aber eine solche Perspektive ist ausgeschlossen. Das kapitalistische System befindet sich nicht in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, sondern in einer Zeit der Stagnation und des Niedergangs. Infolgedessen wird die Schuldenlast zu einer immer grösseren Belastung für die Weltwirtschaft. Die einzige Möglichkeit, dieses Problem zu verringern, besteht entweder in Sparmassnahmen, einer Inflation, die wiederum in einem Zusammenbruch und einer neuen Sparperiode endet, oder in einem direkten Zahlungsausfall. Aber jede dieser Varianten würde zu grösserer Instabilität und einer Verschärfung des Klassenkampfes führen.
Mitgerissen von dieser Euphorie, werden sogar Artikel veröffentlicht, die mit Zuversicht eine Erholung prognostizieren – nicht nur eine Erholung, sondern einen massiven Aufschwung. In den Kolumnen der bürgerlichen Presse können diese selbstsicheren Prognosen einer Erholung nachgelesen werden. Solche Vorhersagen stützen sich vor allem auf Optimismus, weniger aber auf Fakten.
Die gegenwärtige Krise unterscheidet sich in mehreren Punkten von Krisen in der Vergangenheit. In erster Linie ist sie untrennbar mit der Corona-Pandemie verwoben und niemand kann mit Sicherheit vorhersagen, wie lange diese noch andauern wird.
Aus all diesen Gründen können die Vorhersagen des IWF und der Weltbank als nichts anderes als Spekulation betrachtet werden.
Aber bedeutet das, dass eine Erholung gänzlich ausgeschlossen ist? Nein, es wäre ein Fehler, diese Schlussfolgerung zu ziehen. Tatsächlich ist die eine oder andere Art der Erholung an einem bestimmten Punkt unvermeidbar. Das kapitalistische System hat sich immer schon in Wellen der Aufschwünge und Einbrüche bewegt. Die Pandemie hat diesen Wirtschaftskreislauf zwar verzerrt, aber nicht abgeschafft.
Lenin erklärte, dass das kapitalistische System immer auch aus den tiefsten Krisen herauskommen kann. Es wird existieren, bis es von der Arbeiterklasse gestürzt wird. Früher oder später wird es auch einen Weg aus dieser Krise finden. Doch diese Feststellung sagt gleichzeitig zu viel und zu wenig.
Die Frage muss konkret, auf Basis dessen, was wir bereits wissen, gestellt werden. Die genaue Beschaffenheit dieser Aufschwünge und Einbrüche kann erheblich schwanken. Und die Frage, die gestellt werden muss, lautet: Mit welcher Art der Erholung haben wir es zu tun?
Markiert sie den Beginn einer längeren Periode des Wachstums und Wohlstands? Oder wird sie lediglich ein zeitweiliges Intermezzo zwischen einer Krise und der nächsten? Die optimistischsten Behauptungen stützen sich auf die Annahme eines “Nachholbedarfs” (zumindest in den forgeschrittensten kapitalistischen Ländern).
Während der Krise konnten die Leute kaum Geld für Waren, in Restaurants, Cafés, Bars oder für Auslandsreisen ausgeben. Am Ende der Krise – so die Theorie – sollen all diese Finanzmittel auf einmal freigegeben werden, was zu einem scharfen Aufwärtstrend in der Wirtschaft und einer Wiederherstellung des Vertrauens führen soll. Das, gemeinsam mit weiteren enormen Finanzspritzen, könnte zu einer schnellen Erholung führen.
Geben wir einmal zu, dass ein solches Szenario nicht von vornherein auszuschliessen ist. Was wären die Folgen? Aus unserer Sicht wäre eine solche Entwicklung ganz und gar nicht schlecht. Die Pandemie und der darauffolgende Anstieg der Arbeitslosigkeit erschütterte die Arbeiterklasse und versetzte sie bis zu einem gewissen Grad in eine Schockstarre.
Sie diente als Abschreckung gegen Streiks und andere Formen der Massenaktion und erlaubte den Regierungen, undemokratische Massnahmen unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung einzuführen.
Doch selbst eine kleine wirtschaftliche Erholung, mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit verbunden mit den Auswirkungen des Endes der Pandemie, , würde den ökonomischen Kampf wiederbeleben. Denn die Arbeiter werden danach streben, alles zurückzugewinnen, was sie in der vergangenen Periode verloren haben.
Doch eine solche Erholung wäre nur temporär und extrem instabil, weil sie auf einer künstlichen und ungesunden Grundlage stehen würde. Sie würde in sich schon den Keim ihrer eigenen Zerstörung tragen. Je höher der Anstieg, desto tiefer wird der Fall schliesslich sein.
Weiters würde es sich um eine ungleiche Erholung handeln, in der China sehr wahrscheinlich auf Kosten der USA vorpreschen würde, während Europa hinterherhinkt. Das würde die Spannungen zwischen China und den USA, aber auch zwischen China und Europa, weiter verschärfen und zu einer Intensivierung der Handelskriege, mit einem Gerangel um knappe Märkte, führen. Das würde den Welthandel weiter untergraben und die Wirtschaft weiter belasten.
Das ist die grösste Bedrohung von allen für den Weltkapitalismus. Erinnern wir uns, dass die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre nicht durch den Börsencrash 1929, sondern durch die nachfolgende protektionistische Politik verursacht wurde.
Wenn die Ökonomen einen drastischen Aufschwung nach der Pandemie prognostizieren, ziehen sie oft eine Parallele zu den “Goldenen Zwanziger Jahren”. Diese Parallele jedoch ist äusserst wackelig und die Schlussfolgerungen, die wir daraus ziehen können, sind für die Kapitalisten kaum besonders ermutigend.
Es gab zwar nach 1924 eine Erholung mit einem recht fieberhaften Charakter. Massive Spekulation an der Börse erschuf Unsummen an fiktivem Kapital. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass das mit dem Crash 1929 geendet hat.
Es ist durchaus möglich, dass wir eine ähnliche Situation erleben. Mit einem wichtigen Unterschied jedoch. Die beispiellosen Summen fiktiven Kapitals, die jetzt produziert werden, sind erheblich grösser als in den “Goldenen Zwanzigern” – tatsächlich, erheblich grösser als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte zu Friedenszeiten. Der Einbruch wird, wenn er kommt – und er muss kommen – dementsprechend schwerer.
Die Bürgerlichen haben ein kleines Detail vergessen. Geld muss durch reale Werte gedeckt sein, sonst handelt es sich nur um Papierfetzen – Schuldscheine, die niemals zurückgezahlt werden können. Traditionell wurde Geld durch Gold gedeckt. Jede Nation hatte eine Goldreserve in ihren Tresoren und in der Theorie konnte jeder den Wert der Banknoten in Gold verlangen.
In der Praxis jedoch war das nicht möglich. Mit der Zeit lernten es die Leute zu akzeptieren, dass ein Dollar, ein Pfund, ein Euro “so gut wie Gold” war. Selbstverständlich hätte es auch etwas anderes sein können. Vor dem Gold war es Silber. Noch vorher konnte es so gut wie alles sein. Es hätte Produktion sein können. Der springende Punkt aber ist, wenn Geld nicht durch irgendeine Form realen Werts gedeckt ist, ist es nichts anderes als ein wertloses Stück Papier.
Als diese Verbindung zum Gold durch die Abschaffung des Goldstandards gebrochen wurde, konnten die Regierungen und Zentralbanken so viel Geld drucken, wie sie wollten. Doch indem grosse Mengen in Wahrheit fiktiven Kapitals in die Wirtschaft gepumpt werden, wird das Verhältnis zwischen dem Geld, das sich in Umlauf befindet, und den Waren und Dienstleistungen, die damit erworben werden können, verzerrt. Die Geldmenge in der US-Wirtschaft, gemessen nach M2, stieg im Jahr 2020 um atemberaubende 4 Billionen USD an. Das ist ein Anstieg von 26% innerhalb eines Jahres – der höchste jährliche Anstieg seit 1943. Schlussendlich muss sich das in einer Explosion der Inflation ausdrücken.
Diese Tatsache wird von Politikern, Ökonomen und den Zentralbanken derzeit bequem ignoriert. Sie berufen sich darauf, dass sich diese Ängste vor der Inflation bislang nicht materialisiert haben. Das stimmt und es reflektiert einen starken Rückgang in der Nachfrage – ein Symptom der Tiefe dieser Krise. Ohne ein Ventil am Verbrauchermarkt, bläht der Inflationsdruck die Spekulationsblasen am Aktienmarkt, bei Kryptowährungen etc. auf. Doch diese Situation kann nicht andauern. Die initiale Euphorie der Investoren wird sich dann in ihr Gegenteil verwandeln.
In der Zeit vor der Krise von 2008 wurde die Inflation durch andere Faktoren eingedämmt, unter anderem durch das Wachstum des Welthandels, neue Technologien und die Suche nach kostengünstigen Arbeitskräften in der sogenannten Dritten Welt. Diese Elemente, die fast 30 Jahre lang eine wichtige Rolle gespielt haben, haben sich in der jüngsten Zeit weitgehend erschöpft. Das Wachstum des Welthandels ist seit einigen Jahren deutlich rückläufig, und die neuen Technologien, die eine erhebliche Senkung der Produktionskosten ermöglichten, haben einen Sättigungspunkt erreicht.
Es ist kein Zufall, dass alle Statistiken über den Welthandel eine Tendenz zum Insourcing, d. h. zur Rückkehr der Produktion in die kapitalistischen Ursprungsländer, zu zeigen scheinen. Diese Tendenz hat sich spontan durch die strategischen Entscheidungen der multinationalen Konzerne bestätigt, wurde aber auch objektiv durch die protektionistische Politik von Trump und anderen imperialistischen Regierungen verstärkt.
Nach der Krise von 2007 kam es zu einer kreditbasierten Expansion innerhalb eines Regimes der Austerität, das einen ganz anderen Charakter hatte als heute: In der Vergangenheit floss das Geld in die Rekapitalisierung von Banken, Versicherungen und Unternehmen, die am Rande des Zusammenbruchs standen, oder es floss in die Börse oder in Immobilienspekulationen, ohne jedoch die Basis des Massenkonsums zu verbreitern.
Heute hat sich die Situation geändert: Die kombinierte Wirkung dieser neuen Tendenzen ist ein Rezept für Inflation und wirft eine Reihe von äusserst interessanten Fragen auf, die auch in den höchsten Rängen der herrschenden Klasse diskutiert werden. Am wichtigsten ist die Frage, was passiert, wenn die Zentralbanken die Zinssätze anheben und keine Ramschanleihen mehr auf dem Markt kaufen müssen, um die steigende Inflation einzudämmen.
Paradoxerweise ist die Inflation eine Art kapitalistische „Lösung“ für die Schuldenkrise, da ein Anstieg der Inflation und der Preise die Schulden entwerten würde. Aber sie ist mit enormen wirtschaftlichen und sozialen Kosten verbunden. Und wenn sie einmal in Gang gekommen ist, lässt sie sich nur sehr schwer wieder unter Kontrolle bringen. In den 1970er Jahren erklärte Ted Grant, dass die durch die steigende Inflation aufgeschreckte Bourgeoisie auf dem Rücken eines Tigers reite und das Problem darin bestehe, wie man absteigen könne, ohne gefressen zu werden.
Heute sind solche Versuche, die schwerste Überproduktionskrise, die es je gab, mit dem zu umgehen, was Marx „die Tricks der Zirkulation“ nannte, ein sehr gefährliches Spiel. Hier haben wir Keynes bei weitem übertroffen: Der Keynesianismus forderte den Staat auf, sich zu verschulden, indem er Anleihen emittiert; was heute vorgeschlagen wird, ist qualitativ anders, nämlich den verrückten Vorschlägen der Modern Monetary Theory (MMT) zu folgen und damit Geld in unbegrenzter Weise zu drucken.
Was eine wirkliche qualitative Veränderung im kapitalistischen System darstellt, ist die Tatsache, dass eine völlig irrationale Theorie wie MMT sich in der privilegierten Position befindet, die wirtschaftlichen Entscheidungen der führenden imperialistischen Macht der Welt zu beeinflussen, wenn nicht sogar zu bestimmen!
Diese Frage betrifft nicht nur die Vereinigten Staaten. Diese Tendenz ist inzwischen weltweit zu beobachten. Kürzlich behauptete der ehemalige Vizegouverneur der Bank of Japan (BoJ), Kikuo Iwata, dass Japan die Steuerausgaben erhöhen müsse, indem es die Schulden des öffentlichen Sektors erhöht, die von der Zentralbank finanziert werden. Dieser Vorschlag des „Helikoptergeldes“ wird als Lösung für das niedrige Wachstum bezeichnet und basiert auf der Idee, dass die Nachfrage einfach durch das Drucken von mehr Geld angekurbelt werden soll. Dies sind genau die Forderungen der MMT, die auch Draghi 2016 als Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) vertrat, auch wenn die EU aufgrund ihrer internen Widersprüche nicht über den gleichen Handlungsspielraum verfügt wie die USA und Japan.
Obwohl wir nicht genau vorhersagen können, wie sich die Krise genau entfalten wird, werden die Spannungen, herbeigeführt durch die gigantischen aufgetürmten Schuldenberge ab einem gewissen Punkt zu Panik führen. Zinsraten werden in die Höhe schnellen, um die Inflation zu bekämpfen. Die billigen Kredite, die das System über Wasser halten, werden über Nacht versiegen. Die Banken werden keine Darlehen mehr an kleine und mittlere Unternehmen vergeben, und diese werden bankrott gehen.
Wie 1929 wird die wirtschaftliche Realität eiskaltes Wasser auf den Übermut der Investoren schütten. So wie die Nacht auf den Tag folgt, wird es eine Panik an den Börsen der Welt geben. Investoren werden ihre Anteile zu Verlusten verkaufen und einen steilen und unaufhaltsamen Fall auslösen.
Bereits jetzt sehen die Investoren die kolossalen Schuldenberge, die sich in den USA auftürmen. Sie beginnen daran zu zweifeln, dass der Dollar wirklich wert ist, was er verspricht. Wenn hier nicht ernsthafte Schadensbegrenzung eingeleitet wird, wird an einem späteren Punkt ein Ausverkauf des Dollars stattfinden. Ein steiler Fall im Dollar-Kurs wird einen Dominoeffekt auslösen und andere Währungen mit sich reissen. Der internationale Währungsmarkt wird in Folge im Chaos versinken.
Die Kapitalisten werden Zuflucht in Gold, Silber und Platin suchen. Das wird das Vorspiel eines tiefen Einbruchs in der Realwirtschaft, mit einem Kollaps der Investitionen, dem Austrocknen von Krediten und einer daraus resultierenden Welle an Pleiten, Betriebsschliessungen und Arbeitslosigkeit.
Schlussendlich wird die Krise die Banken selber treffen. Der Konkurs nur einer einzigen grossen Bank kann eine allgemeine Bankenkrise auslösen. Genau das geschah am 11. Mai 1931, als die österreichische Creditanstalt verkündete, dass sie mehr als die Hälfte ihres Kapitals verloren hatte. Nach dem österreichischen Gesetz galt sie damit als bankrott.
All das kann wieder passieren. Die bürgerlichen Ökonomen versuchen, die Nerven zu beruhigen. Sie sagen, so etwas könne nicht wieder passieren, man hätte die Lehren aus der Geschichte gelernt. Aber wie Hegel aufzeigte: „Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.“
Die Warnsignale jedoch blinken bereits und einigen der vernünftigeren Ökonomen ist das auch klar. Doch trotz aller Warnungen, haben die Bürgerlichen keine Alternative als den Weg weiterzugehen, den sie bereits eingeschlagen haben.
Der Kapitalismus heute zeigt alle Symptome des senilen Zerfalls. Wir können mit Sicherheit sagen, dass jede Erholung kein Anzeichen für eine Verbesserung des Gesamtzustands des Systems ist, sondern lediglich ein zyklischer Aufschwung, der eine noch tiefere Krise vorbereitet. Eine Depression, weitaus heftiger als die der 1930er-Jahre, ist in Vorbereitung. Das wird das unweigerliche Resultat der jetzt verfolgten Politik sein. Das ist die reale Perspektive und die sozialen und politischen Folgen werden unvorhersehbar sein.
Für Marxisten ist das Studium der Ökonomie deshalb wichtig, weil es sich im Bewusstsein der Massen ausdrückt. Das Szenario, das wir hier dargelegt haben, hat deutliche Ähnlichkeiten mit den 1930ern, aber auch wichtige Unterschiede.
Damals wurden die Widersprüche in der Gesellschaft innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne aufgelöst, und konnten nur entweder mit dem Sieg der proletarischen Revolution oder der Reaktion in Form von Faschismus oder Bonapartismus enden. Heute ist eine solch schnelle Lösung durch die veränderten Machtverhältnisse ausgeschlossen.
Die Arbeiterklasse heute ist viel zahlreicher als noch in den 1930er-Jahren. Ihr Gewicht in der Gesellschaft ist bei weitem grösser, während die sozialen Reserven der Reaktion (das Kleinbürgertum, die Bauernschaft, kleine Grundeigentümer etc.) sich stark reduziert haben.
Die Bourgeoisie sieht sich mit der schwersten Krise ihrer Geschichte konfrontiert, ist aber unfähig, sich schnell in Richtung der Reaktion zu bewegen. Die Arbeiterklasse auf der anderen Seite wird trotz ihrer objektiven Stärke konstant von ihrer Führung, die noch degenerierter ist, als es in den 1930er-Jahren der Fall war, zurückgehalten.
Aus all diesen Gründen wird sich diese Krise über einen längeren Zeitraum hinweg ziehen. Sie kann Jahre oder auch Jahrzehnte dauern, mit Auf- und Abschwüngen, wegen des Fehlens des subjektiven Faktors. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Die Tatsache, dass der Prozess langgezogen ist, heisst nicht, dass er weniger turbulent sein wird. Ganz im Gegenteil: Die Perspektive ist eine der scharfen und plötzlichen Wendungen.
Die Entwicklung des Bewusstseins der Arbeiterklasse kann man nicht mechanisch auf die Anzahl der Streiks und Massendemonstrationen reduzieren. Das ist die falsche Vorstellung der Sektierer und Ultralinken, die sich völlig auf kopflosen Aktivismus stützen und denen der tiefere Radikalisierungsprozess entgeht, der sich stetig unter der Oberfläche abspielt. Trotzki bezeichnete das als Molekularprozess der sozialistischen Revolution.
Oberflächliche Empiriker sind nur imstande, die Oberfläche der Ereignisse zu sehen, aber die wahren Prozesse entgehen ihrer Aufmerksamkeit gänzlich. Folglich werden sie von vorübergehenden Flauten im Klassenkampf unmittelbar aus dem Gleichgewicht geworfen. Sie werden mutlos und pessimistisch und werden dann wieder völlig unvorbereitet erwischt, wenn die Bewegung plötzlich hervorbricht.
Die Verbindung von Pandemie und Massenarbeitslosigkeit hat einen hemmenden Einfluss auf den ökonomischen Kampf ausgeübt. Es hat einen scharfen Rückgang in der Anzahl der Streiks gegeben, als die Bedingungen für Masssendemonstrationen schlecht waren, obwohl es manchmal welche gegeben hat. Doch das Fehlen von Massenkämpfen bedeutet überhaupt nicht, dass die Entwicklung des Bewusstseins stehengeblieben wäre. Ganz im Gegenteil.
Die Tiefe der Krise transformiert die Psychologie von Millionen Männern und Frauen. Die Jugend im Speziellen ist für revolutionäre Ideen weit offen. Die schreienden Widersprüche in der Gesellschaft, das erbärmliche Leiden der Massen – all das schafft eine gewaltige Ansammlung von Wut und Verbitterung, die sich still in der Tiefe der Gesellschaft aufbaut.
Die Arbeiterklasse war zu Beginn der Pandemie vorübergehend desorientiert, obwohl es in Italien im März und April 2020 eine grosse Streikwelle gab.
Unter dem Vorwand der Pandemie übt die herrschende Klasse seit über einem Jahr enormen Druck auf die Arbeiterinnen und Arbeiter aus. Dies hat jedoch eine Stimmung der Verbitterung und des Grolls geschaffen, die die Grundlage für eine Explosion des Klassenkampfes bildet.
Mit dem Rückgang der Krankheitsfälle werden die Voraussetzungen für eine ernsthafte Mobilisierung der Arbeiterklasse zu wirtschaftlichen und politischen Fragen geschaffen.
Wir befinden uns nicht mehr in den Jahren 2008-2009, als die Arbeiterinnen und Arbeiter von der Krise und von meist unerwarteten Umstrukturierungen überrascht wurden, die dazu beitrugen, die Initiative der Arbeiterbewegung vorübergehend zu lähmen.
Nachdem sich die Arbeiterinnen und Arbeiter von den anfänglichen Auswirkungen der Krise erholt haben, gewinnen sie nun wieder an Zuversicht und glauben, dass der Kampf zu greifbaren Ergebnissen führen kann, was zu einer grösseren Bereitschaft führt, sich für Aktionen zu mobilisieren.
Dieser Prozess wird durch die Wiederbelebung der Wirtschaft sowie durch die jüngsten Erfahrungen während der Pandemie verstärkt, die die wesentliche Rolle der Arbeiterklasse in der Gesellschaft deutlich gemacht haben, insbesondere in den Sektoren, die nicht stillgelegt wurden (Gesundheitswesen, Verkehr, Handel, Industrie), aber dennoch einem unerträglichen Druck und einer gnadenlosen Erhöhung des Arbeitstempos ausgesetzt waren.
Die Arbeiterinnen und Arbeiter haben im Kampf gegen den Covid einen extrem hohen Preis in Form von Toten und Entbehrungen gezahlt und sind sich daher heute nicht nur der Rolle, die sie in der Gesellschaft einnehmen, bewusster, sondern sie wollen auch, dass dies durch eine Erhöhung ihrer Löhne und eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen ausgeglichen wird. Dies ist ein entscheidender Faktor für die Entwicklung des Klassenbewusstseins.
Die Gewerkschaftsbürokratien sind nach wie vor ein Hindernis und bremsen die Bewegung, wo sie nur können. Aber sie verfügen nicht mehr über die gleiche Autorität, die es ihnen ermöglichte, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu kontrollieren, wie sie es in der Vergangenheit taten. Sie stützen sich auf die Stärke des bürokratischen Apparats und des bürgerlichen Staates, aber diese Autorität war noch nie so gering wie jetzt.
Die Bourgeoisie wird versuchen, den Klassenkampf mit Zwangs- und Repressionsmassnahmen einzuschränken, indem sie überall neue Antistreikgesetze und Einschränkungen des Demonstrationsrechts einführt, aber die Geschichte lehrt uns, dass die Massen, wenn sie erst einmal in Bewegung geraten sind, von keinem Gesetz aufgehalten werden können. Diese Methoden können den Prozess verzögern, aber sie werden ihn im weiteren Verlauf nur noch explosiver machen.
Zunächst werden die Mobilisierungen der Arbeiterinnen und Arbeiter einen vorwiegend wirtschaftlichen Charakter haben. Aber im Laufe der Zeit werden sie sich aufgrund der Tiefe der Krise und der enormen Frustrationen, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben, radikalisieren und schließlich einen politischen Charakter annehmen. Ein neuer „Mai ’68“ oder „heisser Herbst“ wird in einem Land nach dem anderen an der Tagesordnung sein.
In einem solchen Kontext wird die Inflation die Bewegung keineswegs bremsen, sondern sie vielmehr beflügeln, wie wir es in der Geschichte schon oft erlebt haben. Der allgemeine Druck auf die Löhne der grossen Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter in Verbindung mit dem skandalösen Transfer von Reichtum aus der Lohnarbeit an das Kapital bedeutet, dass der Anstieg der Inflation die Arbeiterinnen und Arbeiter dazu bringen wird, ihre Kaufkraft zu verteidigen.
Auf diesem viel fruchtbareren Boden werden die Ideen der Marxisten gedeihen. Die Gewerkschaften werden in eine Krise geraten und die alte, bankrotte Führung wird in Frage gestellt werden. Natürlich müssen wir das Augenmass wahren. Noch sind wir nicht in der Lage, die Vorherrschaft der Reformisten in der Arbeiterbewegung anzufechten. Aber durch geschickte Anwendung der Einheitsfronttaktik können wir in den Gewerkschaften Fortschritte erzielen. Es ist notwendig, gegen den Opportunismus zu kämpfen, aber auch gegen sektiererische und anarchosyndikalistische Abweichungen (wie in der italienischen Gewerkschaft Cobas), die sich in dieser Krise als bankrott erwiesen haben.
Sektierertum und Abenteurertum spielen in den Gewerkschaften die negativste Rolle und führen die Vorhut der Klasse in eine Sackgasse, die sie von der Massenbewegung trennt. Indem wir Prinzipienfestigkeit mit flexibler Taktik verbinden, können wir die Überlegenheit des Marxismus demonstrieren, unser Profil schrittweise schärfen und beginnen, als ernstzunehmende Kraft innerhalb der Arbeiterbewegung aufzutreten.
Je länger es so geht, desto brutaler, wie eine Naturgewalt wird die Explosion ausbrechen, wenn sie dann kommt. Und sie kommt bestimmt, wie die Nacht auf den Tag folgt. Wie Marx an Engels schrieb:
„So hat die Krisis wie ein braver alter Maulwurf gewühlt.“
Trotzki schrieb einst, dass die Theorie der Vorzug der Voraussicht gegenüber dem Erstaunen sei. Die Reformisten und Sektierer sind immer erstaunt, wenn die Arbeiter sich nach einer Periode der scheinbaren Trägheit zu bewegen beginnen.
Anfang 1968 hatten die Mandelisten und anderen Sektierer die französische Arbeiterklasse völlig abgeschrieben. Sie sagten, die Arbeiter seien verbürgerlicht und amerikanisiert. Einer dieser Herren schrieb, dass es zum damaligen Zeitpunkt in keinem europäischen Land die Möglichkeit eines Generalstreiks gebe. Einige Wochen später begann die französische Arbeiterklasse den grössten revolutionären Generalstreik der Geschichte.
Sie wurden vom Fehlen grosser Bewegungen der Klasse in der vorangegangenen Periode in die Irre geführt. Auch heute sind viele Aktivisten in der Arbeiterbewegung von vergangenen Ereignissen desorientiert. Sie haben das Vertrauen in die Fähigkeit der Arbeiter, zu kämpfen, verloren und sind pessimistisch, skeptisch und zynisch geworden. Sie sind selbst zu einem Hindernis geworden, das den Weg zum Kampf blockiert. Es wäre fatal, würden wir uns von ihren kränklich-defätistischen Ansichten leiten lassen.
Wie wir erklärt haben, wird selbst eine relativ schwache wirtschaftliche Erholung das Signal für eine Explosion des Klassenkampfs sein, die die Gewerkschaften von Grund auf erschüttern wird. Die reformistischen Gewerkschaftsführer sind schon jetzt völlig überfordert. Sie sind Relikte der Vergangenheit, der Tage, als es leicht war, mit den Bossen klarzukommen, als diese den Arbeitern Zugeständnisse machen konnten, ohne auf Profite zu verzichten.
Jetzt sieht es ganz anders aus. Die Bosse versuchen, die ganze Krisenlast auf die Schultern der Arbeiter abzuwälzen, die sich in einer unerträglichen Position befinden, in der selbst ihr Leben und das ihrer Familie in Gefahr ist.
Die Tiefe der Krise macht jegliches bedeutende oder langfristige Zugeständnis unmöglich. Die Arbeiter werden für jede Forderung kämpfen müssen – nicht einmal, um neue Zugeständnisse zu erhalten, sondern um die bisherigen erhalten zu können.
Doch selbst wo sie Erfolg haben, wird die Inflation ihre Errungenschaften auslöschen. Das ist eine notwendige Folge des vielen fiktiven Kapitals, das in Zirkulation gebracht worden ist. Was die Bosse mit der rechten Hand geben, werden sie sich mit der linken zurückholen.
Das heisst, dass die Gewerkschaften unter den Druck der Arbeiter kommen werden, die Taten verlangen werden, um ihre Rechte, Arbeitsbedingungen und Lebensstandards zu verteidigen. Die Gewerkschaftsführer werden sich diesem Druck entweder beugen oder entfernt und durch andere ersetzt werden, die bereit sind zu kämpfen. Im Kampf werden die Gewerkschaften transformiert werden.
Wenn sie in den offiziellen Gewerkschaften blockiert werden und keine unmittelbare Perspektive haben, die Führung abzulösen, werden einige Arbeiter auch eigene Basisinitiativen entwickeln. Die Entstehung solcher Basisorganisationen im Zuge des Kampfes, wie es die Mareas in Spanien, Santé en Lutte, das Kollektiv von 1000 Busfahrern in Belgien, Kollektive in französischen Krankenhäusern etc. sind, ist das Resultat von angestauter Wut der Arbeiter, der Notwendigkeit für unmittelbares Handeln und der Passivität der offiziellen Gewerkschaftsführungen.
Die Dialektik sagt, dass Dinge sich in ihr Gegenteil verwandeln können und darauf müssen wir vorbereitet sein. Selbst die reaktionärsten und scheinbar trägsten Gewerkschaften werden in den Kampf gezogen werden. In Ländern wie Grossbritannien hat dieser Prozess bereits begonnen. Die alten rechten Führer sterben einer nach dem anderen oder gehen in den Ruhestand, oder sie werden ersetzt.
Eine neue Generation jüngerer Klassenkämpfer beginnt, die Führung herauszufordern. Der Boden ist bereitet, um die Gewerkschaften in Kampforganisationen zu verwandeln. Und wir Marxisten müssen in diesem Kampf an vorderster Front stehen. Von ihm hängt letztlich der Erfolg der sozialistischen Revolution ab.
Das Jahr 2021 wird wie kein anderes sein. Die Arbeiterklasse ist in eine sehr harte Schule eingetreten, es wird viele Niederlagen und Rückschläge geben, doch die Arbeiter werden die notwendigen Lektionen daraus ziehen.
Die Zunahme der Spannung über viele Jahre hinweg kann zu plötzlichen Veränderungen über Nacht führen, die uns vor sehr ernsthafte Fragen stellen werden. Darauf müssen wir vorbereitet sein! In der kommenden Periode werden neue Schichten in den Kampf hineingezogen werden, wie wir in Frankreich an den Gelbwesten gesehen haben und jetzt in Indien an der Bauernbewegung sehen. In den USA sahen wir die massenhaften Demonstrationen nach George Floyds Ermordung, an denen schätzungsweise 26 Millionen Menschen in 2.000 Städten und in allen 50 Bundesstaaten, einschliesslich Washington D.C. und Puerto Rico, teilnahmen. Sie brachten Trump dazu, sich in seinem Sicherheitsbunker zu verschanzen.
Das Hauptproblem ist das der Führung. Die Wut der Massen ist vorhanden, findet aber in den offiziellen Organisationen keinen Ausdruck. Die Gewerkschaftsführer versuchen, die Bewegung zurückzuhalten. Doch mit oder ohne sie, die Bewegung wird eine Möglichkeit finden, sich auszudrücken.
Die Massen lernen nur auf eine Weise: Aus der Erfahrung. Lenin sagte: Das Leben lehrt. Die Arbeiter lernen aus ihrer Erfahrung der Krise, aber dieser Lernprozess ist langsam und schmerzhaft und es braucht Zeit, damit die Massen dieselben Schlüsse ziehen, die wir auf theoretischer Basis vor Jahren gezogen haben.
Dieser Lernprozess würde gewaltig beschleunigt, gäbe es eine revolutionäre Massenorganisation, die gross genug ist und über genug Autorität verfügt, um von den Arbeitern angehört zu werden. Die IMT kann zu dieser Partei werden, ist aber derzeit nur ein Embryo. Wie Hegel schrieb: „Wo wir eine Eiche in der Kraft ihres Stammes und in der Ausbreitung ihrer Äste und den Massen ihrer Belaubung zu sehen wünschen, sind wir nicht zufrieden, wenn uns an Stelle dieser eine Eichel gezeigt wird“.
Wir haben grosse Fortschritte gemacht und erwarten, noch weitere zu machen. Doch wir müssen ehrlich zugeben, dass wir derzeit zu wenige sind. Wir haben nicht die notwendige Verwurzelung in der Arbeiterklasse und ihren Organisationen, um einen bedeutenden Unterschied zu machen.
Doch mit den richtigen Ideen und angemessenen Slogans können wir die fortgeschrittensten Arbeiter und Jugendlichen erreichen, und über sie dann breitere Schichten. Hier oder da mögen wir so positioniert sein, dass wir einzelne Kämpfe anführen können. Doch im Allgemeinen müssen wir kleine Erfolge anstreben. Bescheidener Erfolg und kleine Siege werden uns die Trittsteine liefern, über die wir in der Zukunft grössere Erfolge erreichen werden.
Unsere Internationale hat gewaltige Belastbarkeit und Unerschrockenheit an den Tag gelegt, sich den Schwierigkeiten gestellt und neue Methoden der Arbeit entwickelt. Deshalb sind wir in den letzten 12 Monaten gewaltig vorangekommen, während andere Gruppierungen Spaltungen und Krisen erleben mussten und rasch der wohlverdienten Vergessenheit anheimfallen.
Wir haben weit weniger Konkurrenz als in der Vergangenheit. Die Sekten fallen in Stücke und die Stalinisten, die früher ein ernsthaftes Hindernis waren, sind nur mehr Schatten ihrer selbst. Sie klammern sich in den Gewerkschaften noch an einige Posten, die sie von der Vergangenheit geerbt haben, aber unabänderlich agieren sie als „linkes“ Feigenblatt für die Bürokratie. Wenn die Arbeiter sich in Bewegung setzen, werden sie mit ihr gemeinsam beiseite gefegt werden.
Unsere Hauptwettbewerber werden die Linksreformisten sein, die keine klare politische Perspektive haben. Viele von ihnen stehen nicht einmal mehr in Worten für den sozialistischen Umbau der Gesellschaft und schwanken deshalb andauernd zwischen dem Druck der Bourgeoisie und der Rechtsreformisten sowie dem Druck ihrer Arbeiterbasis. Das ist eine internationale Erscheinung.
Doch trotz ihres Mangels an klaren Ideen – teilweise auch gerade deshalb – werden sie auf Basis einer Massenradikalisierung zwangsläufig nach vorne gespült werden. Ihre politische Instabilität und ihre ideologische Mangelhaftigkeit wird sie dazu bringen, gelegentlich sehr radikale, gar „revolutionäre“ Slogans von sich zu geben. Doch das werden nur Worte sein. Sie können ebenso schnell nach rechts schwanken wie nach links. Wir werden die Linken kritisch unterstützen, ihnen im Kampf gegen die Rechten helfen, doch jede Tendenz zum Nachgeben, zu Zugeständnissen oder Kapitulation kritisieren.
Eine gemeinsame Eigenschaft all unserer politischen Rivalen – die Linksreformisten mit eingeschlossen – ist ihre Unfähigkeit, die Jugend zu gewinnen. Unser offensichtlicher Erfolg darin, die besten Jugendlichen zu rekrutieren, füllt die Skeptiker mit Wut und Empörung und vor allem überrascht er sie. Wie kann die IMT in der derzeitigen Lage, wo doch alles so dunkel und hoffnungslos ist, so viele junge Menschen gewinnen? Sie schütteln ungläubig den Kopf und beklagen weiter den traurigen Zustand der Welt.
Wie Lenin klarstellte: Wer die Jugend hat, der hat die Zukunft. Der Grund für unseren Erfolg ist nicht schwer zu sehen. Die Jugend ist von Natur aus revolutionär. Sie verlangt einen ernsthaften Kampf gegen den Kapitalismus und hat keine Geduld für Zögern und theoretische Verwirrung.
Unsere Stärke stützt sich auf zwei Dinge. Die marxistische Theorie und eine feste Orientierung auf die Jugend. Wir haben in der Praxis bewiesen, dass diese Kombination zum Sieg führt. Diese Erfolge geben uns Zuversicht und Optimismus für die Zukunft. Doch wir müssen zu jedem Zeitpunkt einen Sinn für Proportionen wahren. Wir stehen erst am Anfang des Anfangs.
Vor uns liegen noch viel grössere Herausforderungen, die uns auf die Probe stellen werden. Es gibt keinen Anlass zur Selbstzufriedenheit. Wenn wir uns fragen, ob wir bereit sind, die grossen Möglichkeiten zu nutzen, die es gibt, was ist die Antwort? Wenn wir absolut ehrlich sind, müssen wir nein sagen. Nein, wir sind nicht bereit – jedenfalls noch nicht. Wir müssen uns aber bereit machen, und das so schnell wie möglich. Im Grunde läuft alles auf Wachstum hinaus.
Wir müssen immer mit der Qualität beginnen, die Ones and Twos gewinnen und Kader ausbilden. Doch dann müssen wir die Qualität in Quantität verwandeln und eine grössere und schlagkräftigere Organisation aufbauen. Die Quantität wird wieder zur Qualität. Mit hundert Kadern können wir Dinge tun, die einem Dutzend unmöglich sind. Was könnten wir wohl in Grossbritannien oder Pakistan oder Russland mit tausend Kadern tun? Es macht einen qualitativen Unterschied!
Die Kaderbildung und das Wachstum müssen Hand in Hand gehen, hier gibt es keinen Widerspruch. Die Organisation muss sich mit der sich verändernden Situation weiterentwickeln und verändern, sich professionalisieren, disziplinieren und heranreifen.
Wir haben die richtigen Ideen, Methoden und Perspektiven. Doch wir brauchen weit mehr als das. Unsere Aufgabe ist jetzt, das in Wachstum zu verwandeln und eine mächtige revolutionäre Armee zu schaffen, die fähig ist, Arbeiter in den Kampf zu führen. Wir machen bereits beeindruckende Schritte in diese Richtung.
Am Anfang schien es, als würde die Pandemie für die Marxisten unüberwindbare Schwierigkeiten bringen. Die ganzen pseudomarxistischen Sekten, die sich auf kopflosen Aktivismus stützten, haben dann auch tatsächlich Schiffbruch erlitten. Doch die IMT hat den Wind in den Segeln und hat über 1000 neue Genossen gewonnen. Das ist erst der Anfang.
Genossen der Internationalen! Wir befinden uns in einem Wettlauf gegen die Zeit. Unsere Aufgabe ist einfach zu formulieren. Wir müssen den unbewussten (oder halbbewussten) Willen der Arbeiterklasse, die Gesellschaft zu verändern, bewusst machen.
Grosse Ereignisse werden vorbereitet. Um den gewaltigen Aufgaben gerecht zu werden, brauchen wir eine Revolution in unserer Organisation, beginnend bei unserer persönlichen Herangehensweise. Wir können nicht weiter so denken wie früher. Jede Spur der Zirkelmentalität und des Routinismus muss beseitigt werden. Wir brauchen eine professionelle Herangehensweise an den Parteiaufbau. Es gibt nichts Wichtigeres in unserem Leben. Wenn wir weiterhin die korrekten Ideen, Taktik und Methoden anwenden, wird es uns auf jeden Fall gelingen.
Einstimmig angenommen, Juli 2021
Kunst & Kultur — von Sylvain Bertrand, Genf — 14. 10. 2024
Arbeiterbewegung — von Martin Kohler, Bern — 10. 10. 2024
Nah-Ost — von Revolutionäre Kommunistische Internationale (RKI) — 09. 10. 2024