Das folgende Dokument wurde an einer Sitzung der Führung der International Marxist Tendency (IMT) Anfangs Januar, für die Diskussion am Weltkongress der IMT im Sommer 2023 verabschiedet. Darin werden die wichtigsten Entwicklung in der Weltpolitik und des Klassenkampfes in der Periode des Todeskampfs des Kapitalismus erläutert.
Wir leben in einer dramatischen Periode der Weltgeschichte. In vielerlei Hinsicht ist sie wirklich einzigartig. Die Strategen des Kapitals sind sich dessen wohl bewusst. Wie üblich gelangen die Klügeren unter ihnen zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie die Marxisten, wenngleich etwas später und ohne die Probleme, die sie beschreiben, wirklich dem Wesen nach erfassen oder lösen zu können.
Larry Summers, ein US-amerikanischer Ökonom, der von 1999 bis 2000 das Amt des 71. Finanzministers der USA bekleidete, ist ein gutes Beispiel dafür. Er beschrieb den Zustand der Weltwirtschaft folgendermaßen.
„Ich kann mich an frühere Momente erinnern, die für die Weltwirtschaft ebenso schwerwiegend oder sogar noch schwerwiegender waren, aber ich kann mich nicht an Momente erinnern, in denen es so viele verschiedene Aspekte und so viele gegenläufige Tendenzen gab wie jetzt.“
„Schauen Sie sich an, was in der Welt vor sich geht: Ein sehr gravierendes Inflationsproblem in weiten Teilen der Welt und sicherlich im Großteil der Industrienationen ; eine bedeutende geldpolitische Straffung, die im Gange ist; ein enormer Energieschock, insbesondere in der europäischen Wirtschaft, der natürlich sowohl ein realer Schock als auch ein Inflationsschock ist; wachsende Besorgnis über die chinesische Politik und die chinesische Wirtschaftsleistung, und in der Tat auch Besorgnis über die Absichten des Landes gegenüber Taiwan; und dann natürlich der anhaltende Krieg in der Ukraine.“ (Financial Times, 6. Oktober 2022).
Diese Zeilen sind eine treffende Beschreibung der gegenwärtigen Lage, die sich seit ihrer Niederschrift nicht wesentlich verändert hat. Es ließen sich nach Belieben Beispiele anführen, die alle eine allgemeine Stimmung von Pessimismus und Verzweiflung ausdrücken, die die Strategen des Kapitals erfasst hat. Sie sehen die drohende Katastrophe und sind sich völlig unklar darüber, wie sie zu vermeiden ist.
Es wäre in der Tat eine sinnlose Übung, bei den bürgerlichen Ökonomen nach irgendeiner Art von Erklärung zu suchen. Sie konnten weder einen Wirtschaftseinbruch noch einen Boom vorhersagen. Sie haben die Vergangenheit nie verstanden, wie könnten sie also die Gegenwart oder gar die Zukunft verstehen?
In der gegenwärtigen Lage gelangt man nur mit der Methode des dialektischen Denkens, der Methode des Marxismus, zu einer vernünftigen Einsicht. Das verschafft uns einen gewaltigen Vorteil, der uns von jeder anderen politischen Strömung in der Gesellschaft unterscheidet. Das macht uns aus. Tatsächlich haben wir nur deswegen das Recht, als klar abgegrenzte und eigenständige Strömung in der Arbeiterbewegung zu existieren.
Die heutige Weltkrise stellt klarerweise einen Wendepunkt in der Gesamtlage dar. Aber man könnte ebenso 2008 als Wendepunkt bezeichnen. Das trifft voll und ganz zu so wie auch auf das Jahr 1973: Die erste weltweite Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg.
Es gibt wirklich viele Situationen, die man als Wendepunkte beschreiben kann, und es wäre gefährlich für uns, diesen Ausdruck bedeutungslos zu machen, indem wir ihn ständig stumpf wiederholen.
Und doch ist dieser Begriff alles andere als bedeutungslos. Im Gegenteil: Er enthält einen sehr tiefgründigen Gedanken. Es handelt sich dabei in Wirklichkeit um eine Ausdrucksweise für Hegels Begriff der Knotenlinie der Entwicklung, worin eine Reihe kleiner (quantitativer) Entwicklungen an einem kritischen Punkt in eine qualitative Veränderung umschlägt.
Jeder Wendepunkt hat Gemeinsamkeiten mit der Vergangenheit sowie seine spezifischen Eigentümlichkeiten. Notwendig ist es, die Besonderheiten in der Situation herauszuarbeiten und die konkreten Veränderungen, die daraus hervorgehen, zu erklären.
Die Krise 2008 überraschte die verzweifelten, bürgerlichen Ökonomen. Um einen Crash nach dem Schema von 1929 zu verhindern, nahmen die Bürgerlichen gewaltige Summen öffentlichen Geldes in die Hand, um die Banken zu retten. Sie pumpten riesige Summen in die Wirtschaft. Die Maßnahmen, die sie damals in der Panik ergriffen, waren nötig, um das System zu retten. Doch hatten sie unvorhergesehene und desaströse Konsequenzen.
Die Politik des sogenannten Quantitative Easing („Lockerung der [Geld-]Quantität“) stellte sicher, dass die Zinsraten äußerst niedrig blieben. Diese massive Zufuhr von fiktivem Kapital in das System führte jedoch unweigerlich zu einer ganzen Reihe von Faktoren, die den Inflationsdruck erhöhten.
Das machte sich allerdings nicht unmittelbar bemerkbar, da gleichzeitig ein allgemeiner Zusammenbruch der Nachfrage stattfand. Das umfasste den Konsum der Privathaushalte, die Investitionen der Unternehmen und die Staatsausgaben. Fallende Löhne und steigende Arbeitslosigkeit gingen der Nachfrage an den Kragen. Kredite konnten die Situation nicht weiter ausgleichen, weil die Menschen bereits massiv verschuldet waren.
Doch der Inflationsdruck äußerte sich im Immobilienboom und vor allem in einer Explosion unkontrollierter Spekulation auf den Aktienmärkten. Damit einher gingen Phänomene wie Kryptowährungen, NFTs und andere spekulative Betrügereien.
Um die gegenwärtige Lage zu verstehen, müssen wir uns auf die grundlegenden Erkenntnisse des Marxismus stützen. Wir dürfen nie vergessen, was die Haupthindernisse für die volle Entfaltung der Produktivkräfte sind: Das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die erdrückenden Grenzen des nationalen Marktes.
Doch das kapitalistische System ist ein lebender Organismus, der gewisse Abwehrmechanismen entwickeln kann, um sein Dasein zu verlängern. Marx erklärt im dritten Band des Kapitals, über welche Mittel und Wege die Bourgeoisie verfügt, um dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegen zu wirken. Eines der wichtigsten dieser Mittel ist die Vertiefung und Ausweitung des Marktes durch eine Ausweitung des Weltmarktes.
Vor über 150 Jahren wies das Manifest der Kommunistischen Partei auf die vernichtende Übermacht des Weltmarktes hin. Das ist jetzt das wichtigste Element der modernen Epoche.
Der Beginn der Globalisierung war ein Ausdruck der Tatsache, dass das Wachstum der Produktivkräfte die engen Grenzen des Nationalstaates überschritten hat. Sie half den Kapitalisten, wenigstens teilweise die Grenzen des Nationalstaates für eine gewisse Zeit zu überwinden.
Diese Tendenz wurde durch den Zusammenbruch der UdSSR und den Eintritt Chinas in den kapitalistischen Weltmarkt gewaltig bestärkt. Andere Länder – nicht nur die früheren Satellitenstaaten der Sowjetunion in Osteuropa, sondern etwa auch Indien, das bislang zwischen der Sowjetunion und den USA herumlaviert hatte – unterwarfen sich ebenfalls dieser Entwicklung.
Auf einen Schlag wurden so hunderte Millionen Menschen in die kapitalistische Weltwirtschaft hineingezogen. Neue Märkte und Anlagemöglichkeiten eröffneten sich.
Zusammen mit einer beispiellosen Ausweitung des Kredits bildete der Welthandel eine der Haupttriebkräfte der Weltwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten. Das dramatische Wachstum des Welthandels wurde von einem entsprechenden Wachstum des globalen BIP ergänzt.
Doch die Globalisierung schaffte die Widersprüche des Kapitalismus nicht ab, sondern reproduzierte sie nur auf einer viel größeren Skala. Und das wird jetzt schlagend.
Die Bedingung für das rasche Wachstum der Produktion war das noch schnellere Wachstum des Welthandels. Jetzt stockt die Globalisierung und plötzlich kehrt sich die Entwicklung um. Wir sind jetzt mit den Konsequenzen dieser Entwicklung konfrontiert. Der Welthandel wird 2023 laut der WTO (Welthandelsorganisation) nur um 1% wachsen.
Anstelle des freien Handels von Waren und Dienstleistungen sehen wir einen raschen Abstieg in den Wirtschaftsnationalismus. Das ist eine alarmierende Parallele zu den 1930er Jahren. Damals waren es gerade das Aufkommen protektionistischer Tendenzen, erhöhter Zölle, wettbewerbsbedingter Abwertungen und weitere „beggar thy neighbour“-Maßnahmen1, die die Große Depression verursachten. Es ist überhaupt nicht ausgeschlossen, dass sich eine ähnliche Situation wiederholt.
In einer kapitalistischen Marktwirtschaft entscheiden letztendlich die Kräfte des Marktes. Maßnahmen der Regierungen können diese Kräfte verzerren oder verzögern, aber sie können sie nicht beseitigen. In Wahrheit haben sich die entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften niemals von der weltweiten Finanzkrise 2007-09 erholt.
Die Investitionen privater Unternehmen blieben schwach, das Wirtschaftswachstum blieb langsam. Auch die Inflation blieb niedrig und die Zentralbanken hielten die Zinssätze auf beispiellos niedrigem Niveau, was den Einfluss des Finanzkapitals auf das Wirtschaftslebens noch verstärkte. Das ist der Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Krise.
Am Vorabend der Pandemie hielten die US-amerikanische Fed, die EZB und die Bank of Japan gemeinsam die gewaltige Summe von 15 Billionen US-Dollar in Wertpapieren, gegenüber 3,5 Billionen, die 2008 in ihrem Besitz waren. Während der Pandemie legten sie nochmals 6 Bio. USD nach, um die Wirtschaft über Wasser zu halten.
Großteils handelte es sich dabei um Staatsschulden, die die Zentralbanken aufgekauft hatten, um den Regierungen die Finanzierungskosten zu erleichtern. Das Ausmaß der Verschuldung war bislang schon untragbar gewesen und steigerte sich erneut massiv, als die Regierungen sich gewaltige Summen liehen, um Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu bezahlen.
Diese beispiellosen staatlichen Konjunkturmaßnahmen (Bailouts) und die Lockdowns verzerrten vorübergehend die Verbrauchernachfrage, chaotisierten die Lieferketten und befeuerten die Inflation. Die inflationären Auswirkungen all dessen hätte jeder Blinde sehen müssen. Sie aber sahen darüber hinweg, denn:
„Wenn Unwissenheit ein Segen ist, ist es töricht, klug zu sein.“
So wie ein Drogenabhängigen immer mehr von der Substanz verlangt, die in ihm ein unmittelbares Gefühl der Euphorie erzeugt, so sind auch Regierungen, Unternehmen und Familien auf der Aussicht auf nie enden wollende Zinssätze von nahezu Null „hängengeblieben“.
Die Verzerrungen, die durch das Eingreifen der Regierungen hervorgerufen wurden, führten nur dazu, dass sich die Widersprüche verschärfen und sich schließlich mit umso schrecklicherer Gewalt entladen werden.
Das erleben wir jetzt. Das Verschleudern gewaltiger Geldsummen, die sie nicht besaßen, war eine Verzweiflungstat der Regierungen, um zunächst die Krise 2008, dann die Covid-Pandemie und nun die Energiekrise zu lösen. Jetzt befeuert sie das Chaos in der Weltwirtschaft.
Das bedeutet den Untergang eines Finanzsystems, das sich an niedrige Inflation und Zinsraten gewöhnt hatte. Die Auswirkungen sind dramatisch und schmerzhaft. Wie ein Drogenabhängiger, dem man die Drogen, die er brauchte, vorenthält, so schockiert sind auch die Regierungen angesichts der explodierenden Zinsen, die sie jetzt für Kredite bezahlen müssen.
Weil sie tatsächliche Wirtschaftstheorie überhaupt nicht begreifen, suchen die Bürgerlichen verzweifelt nach jemandem, den sie für ihre Lage verantwortlich machen können. Den Sündenbock entdecken sie in Wladimir Putin. Doch der Krieg in der Ukraine war nicht die Ursache der inflationären Katastrophe. Sie hat sie nur weiter befeuert.
Dialektisch gesehen wird die Ursache zur Wirkung und diese wiederum zur Ursache. Obwohl der Krieg die Krise nicht verursachte, ist es absolut wahr, dass er das Problem der Inflation gewaltig zugespitzt und den Welthandel noch stärker stört.
Von Clausewitz stammt der berühmte Spruch, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Doch der US-Imperialismus hat dieser zutiefst richtige Definition eine Fußnote angehängt. Er hat den Handel zu einer Waffe gemacht und bestraft jedes Land, das sich ihm nicht unterwirft.
In jenen längst vergangenen Tagen, als Britannien die Weltmeere beherrschte, pflegte der britische Imperialismus seine Probleme zu lösen, indem er ein Kanonenboot vorbeischickte. Heute schickt Washington einen Brief vom Handelsministerium. Unter modernen Bedingungen ist folglich der Handel nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.
Russland, einer der größten Mineralölexporteure, wurde aus seinen Absatzmärkten im Westen ausgesperrt, indem der US-Imperialismus Sanktionen verhängte, die von der EU unterstützt werden. Das führte unmittelbar zu einer Energiekrise, was die Preissteigerungen weiter beflügelte.
Wie wir im Folgenden darlegen werden, haben die Sanktionen des US-Imperialismus ihr Ziel, die russische Wirtschaft zu lähmen und ihre militärischen Operationen in der Ukraine zu untergraben, eindeutig verfehlt. Doch sie haben die Inflationsspirale auf der ganzen Welt weitergedreht. Es ist ironisch, wie die Sanktionen wie ein unkontrollierbarer Bumerang auch die Vereinigten Staaten schwer getroffen haben, während Putin still und leise die Profite einsteckte, die ihm die steigenden Öl- und Gaspreise einbrachten.
Die Zentralbanken stehen vor einem akuten Dilemma. Sie erhöhten die Zinsen, um die Nachfrage zu dämpfen und (so hoffen sie) die Inflation zu senken. Diese Theorie brachte die US-Notenbank dazu, die Zinsen anzuheben, und damit die Währungsbehörden der meisten übrigen Länder, es ihr nachzutun.
Solche Maßnahmen können an und für sich die Seuche der Inflation nicht nachhaltig kurieren. Mit Sicherheit aber werden sie eine Rezession herbeiführen. Das bedeutet Unternehmensbankrotte, Betriebsschließungen, Kündigungen und gewaltige Einschnitte in den Lebensstandard.
Das ist ein fertiges Rezept für eine Verschärfung des Klassenkampfes und eine heftige politische Gegenreaktion. Es bedeutet, aus der Bratpfanne ins Feuer zu hüpfen.
Wenn dann also die Wirtschaft in die Rezession eintritt, wird es schwer sein, die Abwärtsspirale von Ursache und Wirkung aufzuhalten. Sie führt direkt in einen Wirtschaftseinbruch, dem sich die Bürgerlichen kaum entziehen werden können.
Die ganze Welt wird folglich mit einer ausgedehnten Periode wirtschaftlicher Stagnation und fallender Lebensstandards konfrontiert sein. Mit anderen Worten: Im kapitalistischen System führen alle Wege in den Ruin.
Es ist unmöglich, den Takt der Ereignisse genau vorherzusagen. Zu viele zufällige Elemente befinden sich in der Gleichung. Einiges können wir aber doch mit Gewissheit sagen, insbesondere, dass sich all das unvermeidlich auf das Bewusstsein auswirken wird.
Das gilt vor allem für die Krise der Lebenshaltungskosten, und zwar wiederum vor allem für Afrika, Asien und Lateinamerika. Diese Auswirkungen werden aber keineswegs auf arme, unterentwickelte Länder beschränkt sein. Sie werden auch in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern in Europa und Nordamerika zunehmend spürbar.
Plötzlich erleben die Massen insbesondere in Europa einen Albtraum von zusammenbrechenden Lebensstandards: Die Löhne, die ohnehin schon unten gehalten wurden, werden von der Inflation in beispielloser Weise gedrückt. Pensionen und Ersparnisse werden rasch wertlos. Familien stehen vor der schmerzhaften Frage, ob sie ihre Wohnungen heizen oder ihre Kinder ernähren sollen.
Die Alten, die Kranken und die schwächsten Menschen in der Gesellschaft sind jetzt in tödlicher Gefahr, da die Regierungen die Ausgaben für Sozialleistungen kürzen. Und zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten steht die Mittelschicht vor dem Ruin.
Kleine Unternehmen werden durch eine tödliche Kombination aus Inflation, steigenden Zinssätzen, Mieten und Hypothekenzahlungen in den Bankrott getrieben. Und wenn sich die Rezession durchsetzt, werden Betriebsschließungen zu einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit und einem Einbruch der Nachfrage führen, was weitere Konkurse nach sich ziehen wird.
Die Krise, mit der die Kapitalisten konfrontiert sind, ist zu tief, die Widersprüche sind zu groß, um auf kapitalistischer Basis gelöst zu werden. Sie können die Geldpolitik der vorangegangenen Periode nicht wiederholen.
Sie haben ihre gesamte Munition verbraucht, als sie versuchten, die letzte Krise zu lösen. Darüber hinaus sind diese Taktiken für die Entstehung des riesigen Schuldenbergs verantwortlich, der wie eine drohende Lawine über der Welt hängt.
Nun werden sie gezwungen sein, von einer Krise in die nächste zu taumeln, ohne die notwendigen Waffen zu haben, um sie zu bewältigen. Auf die eine oder andere Weise, früher oder später, müssen die Schulden zurückgezahlt werden. Und die Rechnung wird denen präsentiert werden, die am wenigsten in der Lage sind, sie zu bezahlen.
Aber das wiederum gießt Benzin in das Feuer des Klassenkampfes. Nach einer langen Periode sinkender Lebensstandards ist die Geduld der Öffentlichkeit Einsparungen betreffend am Ende. Versuche, neue Sparmaßnahmen durchzusetzen, werden zu heftigem Widerstand führen.
Das alles ist ein alarmierendes Bild für die herrschende Klasse. Eine weit verbreitete Gärung und eine allgemeine Infragestellung der bestehenden Ordnung haben bereits begonnen. Es besteht nicht nur das Potenzial für eine heftige Gegenreaktion der Arbeiterklasse, sondern auch für eine massive Opposition breiter Schichten der Gesellschaft gegen die Marktwirtschaft, das kapitalistische System und all seine Auswirkungen.
Seit vielen Monaten sind die Seiten der Wirtschaftspresse mit den pessimistischsten Prognosen gefüllt. Das Gefühl wächst, dass die Weltordnung auf den Kopf gestellt wird, da sich die Globalisierung in ihr Gegenteil verwandelt und die alte Stabilität durch den Krieg in der Ukraine und das daraus resultierende Chaos auf dem Energiemarkt zerbrochen ist.
Die Befürchtungen der Strategen des Kapitals spiegelten sich in einer Rede von Kristalina Georgieva, der derzeitigen geschäftsführenden Direktorin des IWF, an der Georgetown University wider. Sie warnte davor, dass
„die alte Ordnung, die durch die Einhaltung globaler Regeln, niedrige Zinssätze und geringe Inflation gekennzeichnet war, einer Ordnung weicht, in der ‚jedes Land leichter und häufiger aus der Bahn geworfen werden kann‘.
„Wir erleben einen grundlegenden Wandel in der Weltwirtschaft, von einer Welt der relativen Vorhersehbarkeit… zu einer Welt mit mehr Fragilität – größerer Unsicherheit, höherer wirtschaftlicher Volatilität, geopolitischen Konfrontationen und häufigeren und verheerenden Naturkatastrophen.“
Die weltweiten Finanzmärkte geben einen klaren Hinweis auf die Tiefe der Krise. So schreibt der Economist:
„Die Verwerfungen auf den Märkten sind von einem Ausmaß, das seit einer Generation nicht mehr zu beobachten war. Die weltweite Inflation ist zum ersten Mal seit fast 40 Jahren zweistellig. Die US-Notenbank hat nur langsam reagiert und erhöht nun die Zinssätze so schnell wie seit den 1980er Jahren nicht mehr, während der Dollar so stark ist wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr und außerhalb Amerikas für Chaos sorgt. Wenn Sie ein Anlageportfolio oder eine private Altersvorsorge2 haben, war dieses Jahr grausam. Weltweite Aktien sind in Dollar gerechnet um 25% gefallen, das schlimmste Jahr seit mindestens den 1980er Jahren, und bei den Staatsanleihen sind wir auf dem besten Weg, das schlechteste Jahr seit 1949 zu erleben. Neben den Verlusten in Höhe von rund 40 Milliarden Dollar macht sich ein mulmiges Gefühl breit, dass die Weltordnung ins Wanken gerät, da die Globalisierung auf dem Rückzug und das Energiesystem nach Russlands Einmarsch in der Ukraine zerbrochen ist.“
Diese Nervosität an den Märkten ist ein genaues Barometer für den Zusammenbruch des Vertrauens der Investoren, die sehen, wie sich die Gewitterwolken über der Weltwirtschaft schnell zusammenziehen.
Ein großer Teil des Problems ist der unaufhaltsame Anstieg des Dollars. Dies ist kein Ausdruck des Vertrauens in die Stärke der US-Wirtschaft, sondern ein Hinweis auf das Ausmaß der Panik, die die Märkte erfasst hat.
Der Dollar ist zum Teil deshalb stark gestiegen, weil die Fed die Zinsen anhebt, aber auch, weil die Anleger sich von Risiken zurückziehen. Nervöse Anleger suchen nach einem sicheren Hafen für ihr Geld und glauben, ihn im allmächtigen Dollar gefunden zu haben.
Aber der steigende Dollar ist selbst ein Faktor in der Krise der weltweiten Geldmärkte, der alle anderen in seiner eisernen Umklammerung erdrückt. Außerhalb Amerikas haben die finanziellen Auswirkungen der geldpolitischen Straffung durch die Fed die schwerwiegendsten und schädlichsten Folgen. Wie die Financial Times hervorhob (12. Oktober 2022):
„Wie auch immer wir es nennen, die Opfer des starken Dollars haben einen Schuldigen vor Augen – die Federal Reserve.“
In der Tat hat die US-Notenbank bis zum letzten Moment eine entspannte – man sollte eher sagen: dumpfe – Gleichgültigkeit gegenüber der Inflation an den Tag gelegt, die gemäß der herrschenden Lehre angeblich der nicht wiederkehrenden Vergangenheit angehören würde.
Doch als die Alarmleuchten heftig zu blinken begannen, wurde die Fed prompt von einer Panik ergriffen und drückte eine Zinserhöhung nach der anderen durch, obwohl dies einer plötzlichen Vollbremsung gleichkam.
Die Zinssteigerungen der Fed drängten die US-Wirtschaft selbst in die Rezession. Das entsprach auch ihrer Absicht. Alle Kennziffern sind negativ. Die Immobilienpreise sinken, die Banken führen Kündigungen durch und zwei ökonomische Schwergewichte, FedEx and Ford, warnen ihre Investoren vor fallenden Profiten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Arbeitslosigkeit zu steigen beginnt.
Der unaufhaltsame Anstieg des Dollarkurses wird unmittelbar zu einem erheblich destabilisierenden Faktor. Internationale Investoren sind entsetzt vor der Aussicht, dass die Federal Reserve der USA mittels ihrer radikalen Zinssteigerungen die größte Volkswirtschaft der Welt in die Rezession treibt. Das wird die Rezessionsgefahr verschärfen, der alle anderen Volkswirtschaften jetzt gegenüberstehen, und auch die übrige Welt in seinen Strudel reißen.
Diese Angst ist wohlbegründet. Rund um die Welt erhöht der steigende Dollar die Importkosten und die Finanzierungskosten für Regierungen, Unternehmen und Haushalte, die Kredite in Dollar aufgenommen haben. Alle anderen Länder sehen sich gedrängt, mit der Fed mitzumarschieren und mit ihren Zinssteigerungen mitzugehen.
In Asien waren die Regierungen gezwungen, Zinsen anzuheben und ihre Reserven auszugeben, um dem Verfall ihrer Währungen entgegenzusteuern. Indien, Thailand und Singapur haben in die Finanzmärkte interveniert, um ihre Währungen zu stützen. Abgesehen von China sind die Währungsreserven der Schwellenländer im letzten Jahr um 200 Mrd. Dollar abgenommen. Laut der JPMorgan Chase Bank ist das der schnellste Fall in zwei Jahrzehnten.
Das hat enorme Konsequenzen, die nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch sind. China reagierte, indem es für seine eigene Währung als alternatives Tauschmittel, insbesondere für Öl, zu werben.
Die verschuldeten Volkswirtschaften der Eurozone wurden unerbittlich an den Rand des Bankrotts gedrängt. Jetzt befinden sie sich in einer noch schlimmeren Position als in der Staatsschuldenkrise vor einem Jahrzehnt.
Josep Borrell, der Außenpolitik-Chef der EU, warnte davor, dass die Fed die Rezession in derselben Weise exportiere, wie damals Deutschland in der Krise nach 2008 durch sein Diktat die Eurokrise herbeiführte.
„Ein Großteil der Welt läuft jetzt Gefahr, Griechenland zu werden“, klagte er.
In Europa wurde die Situation erheblich verschlimmert, als Großbritannien mit seiner verantwortungslosen Fiskalpolitik Öl ins Feuer goss, was unmittelbar zu Panik auf den Finanzmärkten führte.
Die Notwendigkeit drückte sich in einem Zufall aus. Die Krise in Großbritannien und die Steuersenkungen der kurzlebigen Truss-Regierung im Oktober 2022 fungierten als Katalysator und versetzten die Finanzmärkte in eine Panik, die leicht das ganze weltweite Finanzsystem erfassen hätte können.
Das rief eine Kombination von Wut, Unglauben und Panik auf den internationalen Geldmärkten hervor. Im Grunde warf Liz Truss eine Handgranate auf ein Fass voll TNT, das beim geringsten Ruck zu explodieren drohte.
Der IWF griff wütend den Plan der britischen Regierung an, auf Schulden gestützt Steuersenkungen im Umfang von 45 Mrd. Pfund vorzunehmen. Das funktionierte. Die Truss-Regierung musste sich demütigend zurückziehen. Der Schatzkanzler (Finanzminister), Kwasi Karteng, wurde entlassen und sein ganzes Budget ad acta gelegt. Bald wurde Truss selbst aus dem Amt entfernt und die Märkte stabilisierten sich vorübergehend. Der Schaden war allerdings schon angerichtet.
Die finanzielle Bonität hat mit der Jungfräulichkeit gemein, dass sie sich, einmal verloren, nur schwer wiederherstellen lässt. Großbritanniens Ruf als Weltmacht ist dahin. Das Vereinigte Königreich, das einst über eine ausgezeichnete Kreditwürdigkeit verfügte, wurde nun auf die Kategorie des hochverschuldeten, krisengeschüttelten Italien herabgestuft.
Das aber war noch das am wenigsten wichtige Ergebnis der ganzen Angelegenheit. Die Folgen reichten noch weiter als bis zur britischen Küste.
Der Brexit war der deutlichste Hinweis auf die Konsequenzen des Wirtschaftsnationalismus. Das Verhalten der britischen Regierung in dieser Angelegenheit war eine Warnung vor diesen gefährlichen Folgen.
Die kurze, verheerende Amtszeit von Liz Truss bewies, dass man zu Zeiten der Inflation und der Zinssteigerungen nicht Geld ausleihen kann, wie man will. Was kann man aber sonst tun?
Wir erwähnten bereits die akute Besorgnis Larry Summers‘ über die gegenwärtige Lage. In der Financial Times wird er wie folgt zitiert:
„Die Destabilisierung, die die britischen Fehler zur Folge haben, wird nicht auf Großbritannien beschränkt bleiben.“
Das ist eben der Punkt. In so unterschiedlichen Ländern wie den USA und Italien wurden die Preise für Staatsanleihen mit jeder Wendung der verworrenen Geschichte aus London heftig erschüttert.
Das war kein Zufall. Ein Finanzkollaps in London – trotz dem Abstieg Großbritanniens als eines der wichtigsten Finanzzentren der Welt – hätte die gleichen Effekte wie die Krise von 1931 haben können, nur auf noch viel höherer Ebene.
Obwohl man sich kaum noch daran erinnert, war der Auslöser der Großen Depression in Europa der Zusammenbruch der Wiener Creditanstalt im Mai 1931, woraufhin sich ein Dominoeffekt durch die Finanzmärkte ganz Europas und darüber hinaus ausbreitete.
Das war der Auslöser für die große deflationäre Spirale, die Europa zwischen 1931 und 1933 erfasste. Die Geschichte kann sich leicht wiederholen, vor allem auch, weil die Weltwirtschaft heute viel integrierter und viel mehr von gegenseitigen Abhängigkeiten bestimmt ist als damals.
Der Krieg in der Ukraine ist inzwischen zu einem wichtigen Faktor in der Weltpolitik geworden. Um jedoch eine klare Vorstellung von den damit verbundenen Problemen und ihrem möglichen Verlauf zu bekommen, ist es notwendig, unsere Aufmerksamkeit auf die grundlegenden Prozesse zu richten und sich nicht von dem lauten Informationskrieg oder den unvermeidlichen Wirren des Schlachtfelds ablenken zu lassen.
Die Mainstream-Medien haben ständig die Behauptung einer bevorstehenden Niederlage Russlands wiederholt. Aber das passt nicht zu den bekannten Fakten.
Der wichtigste Punkt ist, dass dies ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem US-Imperialismus ist. Russland kämpft nicht gegen eine ukrainische Armee, sondern gegen eine NATO-Armee, d.h. gegen die Armee eines Staates, der formell nicht Mitglied dieses Bündnisses ist, der aber von der NATO finanziert, bewaffnet, ausgebildet und ausgerüstet wird und von ihr auch logistische Unterstützung und wichtige Informationen erhält.
Wie bereits erwähnt, ist der Krieg nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Der gegenwärtige Krieg wird enden, wenn die politischen Ziele der Hauptakteure erfüllt sind oder wenn eine oder beide Seiten erschöpft sind und den Willen verlieren, weiter zu kämpfen.
Was sind diese Ziele? Die Kriegsziele von Selenski sind kein Geheimnis. Er wird sich, wie er sagt, mit nichts Geringerem zufrieden geben als der vollständigen Vertreibung der russischen Armee aus allen ukrainischen Gebieten – einschließlich der Krim.
Dieser Standpunkt wird von den Kriegstreibern in der westlichen Koalition enthusiastisch unterstützt: von den Polen, den Schweden und den Führern der baltischen Staaten – die ihre eigenen Interessen im Auge haben – und natürlich von den Holzkopf-Chauvinisten und Kriegstreibern in London, die sich einbilden, dass Großbritannien selbst in seinem derzeitigen Zustand des wirtschaftlichen, politischen und moralischen Bankrotts immer noch eine große Weltmacht ist.
Diese verwirrten Damen und Herren haben die Ukrainer dazu gedrängt, noch weiter zu gehen – viel weiter, als es den Amerikanern lieb ist. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, dass die ukrainische Armee die Russen nicht nur aus dem Donbass, sondern auch von der Krim vertreibt und damit den Sturz Putins, die totale Niederlage und die völlige Zerstückelung der Russischen Föderation herbeiführt (auch wenn sie in der Öffentlichkeit nicht oft davon sprechen).
Obwohl sie viel Lärm machen, schenkt kein ernsthafter Mensch den Eskapaden der Politiker in London, Warschau und Vilnius auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Als Führer zweitrangiger Staaten, die in der Waage der internationalen Politik kein wirkliches Gewicht haben, bleiben sie zweitklassige Schauspieler, die in diesem großen Drama nie mehr als eine kleine Nebenrolle spielen können.
Es sind die USA, die die Rechnungen bezahlen und alles diktieren, was geschieht. Und zumindest die nüchterneren Strategen des US-Imperialismus wissen, dass diese ganze Inszenierung nur heiße Luft ist. Unter bestimmten Bedingungen können kleinere imperialistische Staaten eine gewisse Rolle bei der Entwicklung der Ereignisse spielen, aber letztlich entscheidet Washington.
Trotz aller öffentlichen Angeberei haben die seriösen Militärstrategen verstanden, dass es für die Ukraine unmöglich ist, Russland zu besiegen. General Mark A. Milley ist der 20. Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff, der ranghöchste Militäroffizier der USA. Seine Meinung muss daher sehr ernst genommen werden, wenn er sagt:
„Die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen militärischen Sieges, der darin besteht, die Russen aus der gesamten Ukraine zu vertreiben, einschließlich dessen, was sie als Krim definieren oder beanspruchen, ist militärisch gesehen nicht hoch.“
Der wichtigste Punkt, den es zu begreifen gilt, ist, dass die Kriegsziele Washingtons nicht mit denen der Leute in Kiew übereinstimmen, die ihre so genannte nationale Souveränität längst an ihren Chef auf der anderen Seite des Atlantiks abgegeben haben und nichts mehr selbst entscheiden.
Das Ziel des US-Imperialismus ist und war nie, auch nur einen Zentimeter ukrainischen Territoriums zu verteidigen oder den Ukrainern dabei zu helfen, einen Krieg zu gewinnen, oder bei irgendetwas anderem.
Ihr eigentliches Ziel ist ganz einfach: Russland militärisch und wirtschaftlich zu schwächen, es ausbluten zu lassen und ihm Schaden zuzufügen, seine Soldaten zu töten und seine Wirtschaft zu ruinieren, damit Russland keinen Widerstand mehr gegen die amerikanische Vorherrschaft in Europa und der Welt leistet.
Dieses Ziel hat sie dazu bewogen, die Ukrainer in einen völlig unnötigen Konflikt mit Russland über die NATO-Mitgliedschaft zu stürzen. Nachdem sie diesen Konflikt angezettelt hatten, lehnten sie sich zurück und sahen aus einer sicheren Entfernung von mehreren tausend Kilometern zu, wie sich die beiden Seiten bekämpften.
Ungeachtet all ihrer öffentlichen Beteuerungen sind die imperialistischen Heuchler völlig gleichgültig gegenüber den Leiden des ukrainischen Volkes, das sie als bloße Spielfiguren auf dem lokalen Schachbrett ihres Machtkampfes mit Russland betrachten.
Und es ist festzuhalten, dass die Ukraine bis heute weder in die EU noch in die NATO aufgenommen wurde, was eigentlich der zentrale Punkt in der ganzen Angelegenheit sein hätte sollen. Das ist kein Zufall.
Der gegenwärtige Konflikt entspricht den Interessen der USA in vielerlei Hinsicht. Er bringt sie ihrem Ziel näher, einen Keil zwischen Europa und Russland zu treiben und damit Europa fester an seine Herrschaft zu binden. In dieser Hinsicht war der Krieg bereits erfolgreich. Die ökonomischen Verbindungen der EU mit Russland, insbesondere den Energiesektor betreffend, sind schwer beschädigt, mit schmerzhaften Folgen für die stärkste Wirtschaft der EU – Deutschland. Der Gashandel durch das baltische Meer wurde physisch verunmöglicht, indem die Nordstream-Pipelines von staatlichen Akteuren zerstört wurden. Die steigenden Energiekosten erlauben den USA, ihren Druck auf die Industrie in der EU, speziell in Deutschland, zu erhöhen. Den Amerikanern ist der Luxus vergönnt, ihren Feind in einen Krieg zu verwickeln, an dem (theoretisch jedenfalls) keine amerikanischen Soldaten teilnehmen und das Kämpfen und Sterben folgsam von anderen erledigt wird.
Wenn die Ukraine NATO-Mitglied wäre, würden amerikanische Kampftruppen in einem europäischen Krieg landen und die russische Armee bekämpfen. Die große EU-Länder haben weder ein Interesse noch die Möglichkeit, die Ukraine in die EU aufzunehmen. Das würde nämlich zum Zusammenbruch des bereits äußerst fragilen ökonomischen und politischen Gleichgewichts der Union führen. Besser, alles bleibt, so wie es ist.
Wenn Selenski darüber jammert, dass er von seinen Freunden im Westen nicht genug Waffen bekommt, um den Krieg zu gewinnen, hat er nicht unrecht. Die Amerikaner liefern ihm gerade genug Waffen, um den Krieg weiterzuführen, aber nicht genug, um ihm zu ermöglichen, einen entscheidenden Sieg zu erringen. Das entspricht völlig den Kriegszielen der USA.
Die Sanktionen gegen Russland nach seiner Invasion in der Ukraine haben sich als gewaltiger Fehlschlag erwiesen. Tatsächlich ist der Wert der russischen Exporte seit Kriegsbeginn angestiegen.
Obwohl die Sanktionen zu einer starken Verringerung des russischen Importvolumens führten, haben eine Reihe von Ländern (China, Indien, Türkei, aber auch EU-Mitglieder wie Belgien, Spanien und die Niederlande) ihren Handel mit Russland intensiviert. Die hohen Öl- und Gaspreise haben russische Einkommensverluste durch Sanktionen ausgeglichen. Indien und China erhalten Rabatte von Russland und kaufen viel mehr russisches Öl als früher.
Der Einkommensverlust durch die Sanktionen wurde also vom Steigen der Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt ausgeglichen. Wladimir Putin finanziert sein Militär weiterhin mit diesen Einnahmen, während der Westen die Perspektive jahrelanger Energieinstabilität hat. Steigende Energierechnungen werden zu steigender Wut der Massen führen.
Die Frage ist die: Welche Kriegspartei wird zuerst ermatten? Die Zeit ist sicher nicht auf Seiten der Ukraine, weder militärisch noch politisch. Letzten Endes wird die Politik die entscheidende Rolle spielen.
Der Winter, in dem Europa von einer schweren Gas- und Stromknappheit betroffen war, wird die öffentliche Unterstützung für den Krieg in der Ukraine geschwächt haben. Das wärmere Wetter wird keine Atempause bringen, denn die Aufmerksamkeit richtet sich auf das unlösbare Problem, die Gasvorräte rechtzeitig für das nächste Jahr ohne russische Lieferungen aufzufüllen. Mit jedem Monat, den die Sanktionen andauern, wächst die Sorge um den nächsten Winter. Auch die amerikanische Unterstützung ist nicht selbstverständlich. In der Öffentlichkeit beteuern die Amerikaner ihre unerschütterliche Unterstützung für die Ukraine, aber im Stillen sind sie von dem Kriegsausgang überhaupt nicht überzeugt. Hinter den Kulissen hat Washington Druck auf Selenski ausgeübt, damit er mit Putin verhandelt.
In der Praxis haben allerdings die erfolgreiche ukrainische Offensive im September 2022 und der russische Rückzug aus Cherson die Situation auf dem diplomatischen Schachbrett verkompliziert.
Einerseits erlaubten die unverhofften Erfolge Selenski und den tollwütig-nationalistischen oder auch offen faschistischen Kräften in seinem Staatsapparat, sich aufzuplustern und ermutigten sie, noch weiterzugehen. Andererseits waren die militärischen Rückschläge eine Demütigung für Putin, der daraus den Schluss zog, die „militärische Spezialoperation“ intensivieren zu müssen. Keine Seite ist also aktuell in der Stimmung für ernsthafte Verhandlungen. Das kann sich aber ändern.
Selenskis Demagogie, in der ständig wiederholt wird, dass kein Zentimeter Territorium aufgegeben wird, soll offensichtlich Druck auf die NATO und den US-Imperialismus ausüben. Er besteht darauf, dass die Ukrainer – unter der Bedingung, dass der Westen große Mengen an Geld und Waffen schickt – bis zum Ende kämpfen.
Biden will den Konflikt verlängern, um Russland zu schwächen und zu destabilisieren. Aber nicht um jeden Preis. Vor allem will er auch einen direkten militärischen Zusammenstoß mit Russland vermeiden. Andererseits zeigt eine Umfrage nach der anderen, dass die gesellschaftliche Unterstützung für den Ukraine-Krieg im Westen langsam abnimmt.
Putins Andeutung über den Einsatz von Atomwaffen war mit ziemlicher Sicherheit ein Bluff, hat allerdings im Weißen Haus für Entsetzen gesorgt. Bei einer Spendengala in New York sagte Biden, der russische Präsident mache „keine Witze“ über den „potenziellen Einsatz taktischer Atomwaffen oder biologischer oder chemischer Waffen, weil sein Militär, wenn man so will, deutlich unterdurchschnittlich ist“.
Infolge der nuklearen Drohung begannen geheime Verhandlungen zwischen Washington und Moskau. Dies war der Todesstoß für die ukrainische Seite, die immer verzweifelter wurde und nach einem Vorwand für eine Provokation suchte, von der sie sich erhoffte, dass sie die NATO endlich zu einer direkten Beteiligung am Krieg bewegen würde.
Dies unterstreicht die Gefahren, die mit einer Fortsetzung des Krieges verbunden sind. Es sind zu viele unkontrollierbare Elemente im Spiel, die zu einer Eskalationsspirale führen könnten, die in einen echten Krieg zwischen der NATO und Russland münden könnte.
Die Gefahr einer solchen Entwicklung wurde im November 2022 deutlich, als die Welt schockiert die Erklärung des polnischen Präsidenten vernahm, sein Land sei von Raketen aus russischer Produktion getroffen worden, und die westlichen Medien behaupteten, Russland stecke dahinter.
Diese Lüge wurde bald entlarvt, als das Pentagon selbst enthüllte, dass die Rakete, die ein polnisches Getreidelager auf einem Bauernhof in der Nähe des Dorfes Przewodow nahe der Grenze zur Ukraine traf, von der ukrainischen Armee abgefeuert worden war.
Die NATO und die Polen beeilten sich zu erklären, dass es sich um einen „bedauerlichen Unfall“ gehandelt habe. Bei dem Objekt handelte es sich um eine S-300-Luftabwehrrakete mit sehr begrenzter Reichweite, die kaum von Russland aus abgefeuert worden sein konnte. Doch Selenski hat schamlos gelogen und darauf bestanden, dass es sich um einen absichtlichen Angriff aus Russland handelte. Er hoffte, dass ihm dies einen mächtigen Hebel in die Hand geben würde, um mehr Waffen und Geld zu fordern. Und im besten Fall (aus seiner Sicht) könnte dies die NATO dazu bringen, Vergeltungsmaßnahmen gegen Russland zu ergreifen, was weitreichende Folgen hätte.
Wenn der Vorfall dazu geführt hätte, dass die NATO unmittelbar gegen Russland aktiv wird, hätte ein unaufhaltsamer Dominoeffekt zu einem totalen Krieg führen können. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Selenski gern hätte, dass die NATO in den Krieg eintritt und ihm die Kastanien aus dem Feuer holt.
Eine allgemeine europäische Feuersbrunst wäre für Millionen von Menschen ein Alptraum. Aber für die Selenski-Clique wäre es die Erhörung all ihrer Gebete gewesen. Für die Amerikaner wäre es natürlich unmöglich, am Rand zu stehen und sich die Hände an den Flammen zu wärmen.
Es müssten amerikanische Truppen eingesetzt werden. Aus der Sicht des Kiewer Regimes ist das eine gute Nachricht, aus der Sicht des Weißen Hauses und des Pentagons jedoch keineswegs. Das sollte nicht Teil des Drehbuchs sein!
Die Amerikaner haben nicht die Absicht, die Dinge so weit kommen zu lassen. Eine direkte Konfrontation zwischen der NATO und Russland mit allen nuklearen Konsequenzen wird von beiden Seiten um jeden Preis vermieden. Gerade deshalb halten sich die Amerikaner mehrere Kanäle offen, um jede Möglichkeit einer solchen unkontrollierten Entwicklung zu verhindern. In der Tat bemühen sie sich, dem Krieg klar bestimmte Grenzen zu setzen und den Weg für Verhandlungen zu öffnen.
Der Ernst der Situation ist auch den gewichtigen Militärstrategen in Washington nicht entgangen. Der Vorsitzende der Joint Chiefs, General Mark Milley, forderte Selenski auf, Gespräche mit Russland aufzunehmen.
Milley sagte, dass es eine Chance geben könnte, über ein Ende des Konflikts zu verhandeln, wenn sich die Frontlinien im Winter stabilisieren:
„Wenn es eine Möglichkeit zu verhandeln gibt, wenn Frieden erreicht werden kann, sollte man sie nutzen“, sagte Milley. „Nutzt diese Chance.“
Sollten die Verhandlungen jedoch nicht zustande kommen oder scheitern, würden die Vereinigten Staaten laut Milley die Ukraine weiterhin bewaffnen, auch wenn ein eindeutiger militärischer Sieg für eine der beiden Seiten immer unwahrscheinlicher wird.
„Es muss eine Übereinkunft darüber geben, dass ein militärischer Sieg im eigentlichen Sinn vielleicht nicht mit militärischen Mitteln zu erreichen ist und man sich daher anderen Mitteln zuwenden muss“, sagte er.
Das ist die genuine Stimme des US-Imperialismus. Davon, nicht von Selenskis Rhetorik, hängt letztlich das Schicksal der Ukraine ab.
Washington hat immer gezögert, Kiew die hochentwickelten Waffen zu liefern, die dieses gefordert hat. Das soll auch Moskau signalisieren, dass die USA nicht vorhaben, Waffen zu schicken, die den Konflikt zur Eskalation treiben und die Möglichkeit für einen direkten militärischen Zusammenstoß zwischen Russland und der NATO schaffen würden.
Das ist auch ein Warnhinweis an Selenski, dass die Bereitschaft der USA, weiterhin die Rechnung für einen teuren Krieg ohne absehbares Ende zu bezahlen, definitiv begrenzt ist.
Im ersten Kriegsmonat waren die Ukrainer bereit, mit Russland zu verhandeln. Seither hat Selenski die Idee von Verhandlungen gänzlich verworfen. Er sagte mehrmals, dass die Ukraine nur bereit sei, in Verhandlungen mit Russland zu treten, wenn sich die russischen Truppen aus allen Teilen der Ukraine, inklusive der Krim und den östlichen Teilen des Donbass (die de facto seit 2014 von Russland beherrscht werden), zurückziehen und den Russen, die Verbrechen in der Ukraine begangen haben, der Prozess gemacht würde.
Selenski machte ebenso deutlich, dass er mit der derzeitigen russischen Regierung keine Verhandlungen führen würde. Er erließ sogar eine Verordnung, in der festgelegt wird, dass die Ukraine nur mit Wladimir Putins Nachfolger verhandeln würde.
Diese trotzigen Deklarationen sorgten in Washington für viel Ärger. The Washington Post warnte die ukrainische Regierung im Privaten, dass die „Ukraine-Müdigkeit“ unter seinen Verbündeten weiter zunehmen könnte, wenn Kiew daran festhält, nicht mit Putin verhandeln zu wollen.
Amtsträger berichteten der Zeitung, dass die Position der Ukraine gegen Verhandlungen mit Russland immer mehr an Boden unter den Verbündeten verliert, die Sorgen vor den wirtschaftlichen Auswirkungen eines langwierigen Krieges haben.
Zur Zeit der Niederschrift hatten die USA der Ukraine 65 Mrd. Dollar an Hilfsgeldern gegeben und sind bereit, die Ukraine „so lange wie nötig“ mit mehr Geld zu unterstützen. Jedoch sind die Verbündete in Teilen Europas, ganz zu schweigen von Afrika und Lateinamerika, besorgt über die Belastung, die der Krieg auf Energie- und Lebensmittelpreise sowie Lieferketten ausübt. „Die Ukraine-Müdigkeit ist für einige unserer Partner ein echtes Problem“, meinte ein US-Beamter.
Natürlich können die Amerikaner nicht öffentlich zugeben, dass sie Selenski unter Druck setzen. Ganz im Gegenteil: Sie wahren den Schein von fester Solidarität mit Kiew. Doch in Wahrheit bilden sich jedoch ernsthafte Risse in der Fassade.
Für die ukrainische Regierung würde das Akzeptieren der Bitte der USA einen demütigenden Rückzug bedeuten, nachdem so viele Monate mit Kriegsrhetorik über die Notwendigkeit einer entscheidenden militärischen Niederlage Russlands gesprochen wurde, um die Sicherheit der Ukraine langfristig zu sichern.
Die auf dem Schlachtfeld errungenen Erfolge, zuerst in der Charkiw-Region im Nordosten und dann mit der Eroberung von Cherson, ermutigte Selenski, an die Möglichkeit eines „Endsieges“ zu glauben. Doch die Amerikaner haben einen besseres Gespür für die Realität und wissen sehr gut, dass die Zeit nicht unbedingt auf der Seite der Ukraine steht.
Die westliche Propagandamaschine wiederholt ständig, dass Putin bald vom kriegsmüden russischen Volk gestürzt werde. Doch das ist reines Wunschdenken und basiert auf einem grundlegenden Missverständnis. Momentan hat Putin immer noch eine recht breite Unterstützung, welche in den letzten Monaten neue Höhen erreicht hat. Putin läuft also nicht unmittelbar in Gefahr, gestürzt zu werden.
Es gibt keine nennenswerte Antikriegsbewegung in Russland und die, die es gibt, wird von bürgerlich-liberalen Kräften angeführt. Genau das ist ihre größte Schwäche. Die Arbeiter werfen einen Blick auf die pro-westlichen Gesinnung dieser Leute und wenden sich fluchend ab.
Der Krieg hat die Unterstützung der Mehrheit, auch wenn manche Zweifel haben. Die Verhängung von Sanktionen, die konstante russlandfeindliche Propaganda im Westen und die Tatsache, dass die NATO und USA moderne Waffen an die Ukraine liefern, bestätigen die Darstellung, dass Russland von seinen Feinden belagert werde.
Der einzige Druck auf Putin kommt nicht von irgendeiner Antikriegsbewegung, sondern ganz im Gegenteil von russischen Nationalisten und anderen, die den Krieg mit größerer Gewalt und Entschlossenheit geführt sehen wollen. Doch falls sich der Krieg ohne nennenswerte militärische Erfolge Russlands in die Länge zieht, kann sich die Stimmung ändern.
Anfang November organisierten über 100 Wehrpflichtige aus Tschuwaschien einen Protest in der Oblast Uljanowsk, weil sie von Putin versprochene Vergütung nicht erhalten hatten.
Zweifelsohne ein kleines Symptom. Doch falls sich der aktuelle Konflikt weiter hinauszieht, könnte sich die Unzufriedenheit in einem viel größeren Ausmaß ausbreiten, was nicht nur eine Bedrohung für die Fortsetzung des Krieges, sondern auch für das Regime selbst darstellen würde.
Ein noch entscheidenderes Anzeichen dafür sind die Proteste der Mütter der Soldaten, die in der Ukraine fielen. Die Proteste sind noch klein und bleiben hauptsächlich auf die östlichen Republiken wie Dagestan konzentriert. In diesen Gebieten herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit, die dazu führte, dass sich eine große Anzahl junger Männer freiwillig für das Heer meldete.
Wenn der Krieg weitergeht und die Zahl der Todesopfer steigt, könnte es in Moskau und Petersburg zu Protesten von Müttern kommen, die Putin nicht ignorieren und unterdrücken kann. Das würde zweifellos eine Veränderung in der ganzen Situation bedeuten Doch dazu ist es aktuell nicht gekommen – noch nicht.
Das erklärte Ziel Russlands war es, „die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern, sowie die Ukraine zu demilitarisieren und entnazifizieren“. Außerdem wollte Putin eine neutrale oder pro-russische Regierung in Kiew. Faktisch würde das bedeuten, dass die Ukraine als unabhängiger Nationalstaat beseitigt werden würde.
Doch Putin hat sich offensichtlich verkalkuliert und die Russen hatten nicht genug Streitkräfte, um diese Ziele zu erreichen. Sogar die Aufgabe, ihre Gebietsgewinne im Donbass zu halten, erwies sich als schwierig, wie die ukrainische Offensive Anfang September deutlich zeigte.
Doch die Misserfolge an der Front gaben den notwendigen Anstoß für eine Neuausrichtung. Sie setzten Schritte, um die Streitkräfte zu mobilisieren, die für ihre Vorhaben vonnöten sind.
Russland nahm eine Massenmobilisierung vor. Die Entsendung von 300.000 frischen russischen Soldaten an die Front wird das Kräftegleichgewicht drastisch verändern.
Das oft wiederholte Argument, dass die Munition der Russen zur Neige geht, ist komplett falsch. Russland hat eine große und mächtige Waffenindustrie. Sie haben beachtliche Vorräte an Waffen und Munition.
Es stimmt, dass ihre Vorräte an modernsten Raketen mit hoher Zielgenauigkeit begrenzt sind und zur Neige gehen. Doch es mangelt ihnen nicht an anderen Raketen, die für die normale Kriegsführung auf dem Schlachtfeld komplett ausreichen.
In der Zwischenzeit pulverisieren die Russen weiterhin Ziele in der gesamten Ukraine mit Artillerie, Raketen und Drohnen, wodurch sie militärische Kommandozentralen, Verkehrsknotenpunkte und Infrastruktur zerstören, was die Truppenbewegungen und Waffenlieferungen an die Front ernsthaft behindern wird.
Napoleons Aussage, dass der Krieg die komplizierteste aller Gleichungen ist, bleibt unverändert gültig. Der Krieg ist ein bewegtes Bild mit vielen unvorhersehbaren Versionen und möglichen Szenarien.
Die Version, die seit Beginn der Kampfhandlungen selbstsicher von der westlichen Propagandamaschine vertreten wird, schien vom Sieg der ukrainischen Offensive im September 2022 und später vom russischen Rückzug aus dem westlichen Teil von Cherson bestätigt worden zu sein.
Doch wir müssen uns hüten, impressionistische Schlüsse anhand einer beschränkten Anzahl an Ereignissen zu ziehen. Das Ergebnis von Kriegen wird selten durch eine einzelne Schlacht – oder auch mehrere Schlachten – bestimmt.
Die Frage ist: Veränderte dieser Sieg oder dieser Vorstoß wesentlich das zugrundeliegende Kräfteverhältnis, welches allein den Kriegsausgang bestimmen kann? Diese grundlegenden Fragen müssen noch geklärt werden. Verschiedene Ergebnisse sind möglich, abhängig davon, wie sich die Bedingungen in Russland auf der einen und in der Ukraine und bei seinen westlichen Herren auf der anderen Seite entwickelt.
Russland baut seine Truppen im Osten auf, verstärkt seine militärische Präsenz in Weißrussland und erhöht sein Luftbombardement sowohl auf militärische Ziele als auch auf die bereits geschwächte ukrainische Infrastruktur.
Diese Zersetzung der Infrastruktur geht so weit, dass von der Evakuierung von großen Städten die Rede ist – darunter Kiew –, da diese aufgrund der unterbrochenen Versorgung mit Strom und Wasser unbewohnbar werden.
An welchem Punkt diese Zerstörung den Widerstandswillen untergräbt, ist schwer zu bestimmen. Die geschichtliche Erfahrung zeigt an, dass Luftbombardements alleine niemals den Krieg entscheiden können.
Tatsächlich wird dies auf kurzfristige Sicht den gegenteiligen Effekt haben, wird den Hass des Feindes erhöhen und den Widerstandsgeist stärken. Doch alle Dinge haben ihre Grenzen. Ab einem bestimmten Punkt beginnt das Gefühl der Kriegsmüdigkeit einzusetzen und der Wille weiterzukämpfen wird schwächer.
Bislang haben die Ukrainer ein bemerkenswertes Maß an Widerstandsfähigkeit bewiesen. Doch wie lange die Moral der Zivilbevölkerung und der Soldaten an der Front aufrechterhalten werden kann, ist unklar.
Doch sobald der Ruf nach Frieden laut wird, wird es in der Führungsrige in Kiew zu einer ernsthaften Spaltung kommen, zwischen den rechten Nationalisten, die bis zum bitteren Ende kämpfen wollen, und den pragmatischeren Teilen, die sehen, dass weiterer Widerstand nur zur endgültigen Zerstörung der Ukraine führen wird und dass eine Verhandlungslösung irgendeiner Art der einzige Ausweg ist.
Was das Resultat auch sein mag, es ist ausgeschlossen, dass Europa zum Ausgangszustand zurückfindet. Eine neue Periode von extremer Instabilität, von Kriegen, Bürgerkriegen, Revolutionen und Konterrevolutionen ist angebrochen.
Die Veränderungen in der Weltpolitik ähneln den dramatischen Verschiebungen der tektonischen Platten in der Geografie. Solche Verschiebungen gehen immer mit Erdbeben einher.
Diese politischen und diplomatischen Veränderungen haben denselben Effekt. Sogar vor dem Krieg hatten die Abkehr von der Globalisierung und der resultierende Anstieg von Wirtschaftsnationalismus zur Verschärfung der Konflikte zwischen den verschiedenen Mächten geführt.
Doch der Ukraine-Konflikt verschärfte alle Spannungen enorm und vertiefte die Widersprüche. Die Konsequenz daraus ist ein tiefer Wandel der Weltbeziehungen.
Der deutlichste Beweis dafür ist die Tatsache, dass China Russland nun viel nähersteht, da beide in Konkurrenz zum US-Imperialismus stehen.
Russland ist eine regionale imperialistische Macht. Doch sein Besitz an großen Öl-, Gas- und weiteren Rohstoffreserven, seine starke industrielle Basis und sein hochentwickelter militärisch-industrieller Komplex zusammen mit seiner mächtigen Armee und Atomwaffenarsenal verleihen ihm globale Gewicht, das ihn mit dem US-Imperialismus kollidieren lässt.
Washington sieht Russland als Gefahr für seine globalen Interessen, besonders in Europa. Der alte Hass und das alte Misstrauen gegenüber der Sowjetunion sind mit deren Zerfall nicht verschwunden. Joe Biden ist ein Paradebeispiel für die Generation den Russophoben, die von der Zeit des Kalten Krieges übriggeblieben ist.
Nach dem Zerfall der UdSSR nutzten die Amerikaner das Chaos der Jelzin-Jahre, um ihre Herrschaft auf globaler Ebene zu behaupten. Sie intervenierten in Gebieten, die zuvor von Russland beherrscht wurden, was sie zu Sowjetzeiten nie gewagt hätten.
Zuerst intervenierten sie auf dem Balkan und beschleunigten den Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens. Auf die verbrecherischen Invasionen in Irak und Afghanistan folgte eine erfolglose Intervention im syrischen Bürgerkrieg, was zu einem Zusammenstößen mit Russland führte.
Ständig dehnten sie ihren Griff auf Osteuropa aus und erweiterten die NATO um ehemalige sowjetische Satellitenstaaten wie Polen und die baltischen Staaten. Das war ein direkter Bruch der oft wiederholten Versprechungen des Westens, dass die NATO nicht „einen Zentimeter“ nach Osten expandieren würde.
Damit rückte ein ihm feindliches Militärbündnis bis an die Grenzen der Russischen Föderation heran. Doch mit dem Versuch, Georgien in die Umlaufbahn der NATO zu ziehen, wurde eine rote Linie überschritten. Die herrschende Klasse in Russland fühlte sich gedemütigt und bedroht und setzte militärische Gewalt ein, um Georgien in dieser Frage wieder auf Linie zu bringen.
Der Überfall auf die Ukraine war dazu gedacht, den Amerikanern zu zeigen, dass Russland seine Muskeln spielen lassen und sich gegen den US-Imperialismus und die NATO zur Wehr setzen kann.
Die USA nutzen den Konflikt in der Ukraine, um ihr Ziel zu verfolgen, die Europäer zu zwingen, ihre Beziehungen zu Russland zu beenden und somit den Würgegriff des US-Imperialismus über ganz Europa zu stärken.
Zuvor nutzte die herrschende Klasse in Deutschland ihre Verbindungen mit Russland als Hebel, um sich zumindest eine teilweise Unabhängigkeit gegenüber den USA zu sichern.
Ihr anderer Hebel war ihre faktische Vorherrschaft in der Europäischen Union, welche sie zu einem alternativen Machtblock aufzubauen hoffte, der seine eigenen Ziele und Interessen auf Weltebene durchsetzen kann.
Es gibt zunehmende Spannungen zwischen den USA und Europa, die tatsächlich durch den Krieg in der Ukraine verschärft wurden, obwohl dieser die Risse zwischen den Nationen vorübergehend überdecken konnte. Diese Spannungen sind im neuesten protektionistischen Infrastruktur-Gesetzesentwurf der USA wieder aufgetaucht, da dieser zusätzlichen Druck auf die Industrieproduktion in der EU ausübt.
Die Spannungen zwischen den USA und Europa sind nichts Neues. Sie traten während des Irakkrieges und neuerdings beim Thema Iran an die Oberfläche. Die politischen Führer Frankreichs und Deutschlands waren stets misstrauisch gegenüber den engen Beziehungen der USA zu Großbritannien. Sie betrachteten diesen Umstand zu Recht als das Trojanische Pferd Amerikas im europäischen Lager.
Die Franzosen, die aus ihren eigenen Ambitionen, Europa zu beherrschen, nie einen Hehl machten, waren traditionell immer lauter in ihrer anti-amerikanischen Rhetorik. Die Deutschen, die die wahren Herren Europas waren, gaben sich vorsichtiger und zogen die Realität der Macht der leeren Prahlerei vor.
Die Amerikaner ließen sich nicht täuschen. Sie sahen Deutschland und nicht Frankreich als Hauptrivalen und insbesondere Trump hielt sein extremes Misstrauen und seine Abneigung gegenüber Berlin nicht geheim.
Um ihre Unabhängigkeit von Washington zu sichern, gingen die deutschen Kapitalisten enge Beziehung mit Moskau ein. Dies verärgerte ihre „Verbündeten“ jenseits des Atlantiks, gab ihnen jedoch erhebliche Vorteile in Form von billigen und reichlichen Öl- und Gaslieferungen.
Der Verzicht auf diese Lieferungen ist ein sehr hoher Preis, um die Amerikaner glücklich zu stimmen. Unter Angela Merkel bewahrte Deutschland sorgsam seine unabhängige Rolle. Es brauchte einen Krieg in der Ukraine, um Deutschland gefügig zu machen – zumindest bis auf weiteres.
Die bürgerlichen Grünen entblößten sich als die eifrigsten Verteidiger des US-Imperialismus.
Doch hinter der Fassade der „Einheit im Angesicht der russischen Aggression“ bleiben die Differenzen bestehen. Das wurde durch eine Karikatur verdeutlicht, die über zwei Frauen kursierte – die eine Amerikanerin, die andere Europäerin. Die zweite Frau verkündet der ersten stolz: „Ich würde liebend gerne erfrieren, um der Ukraine zu helfen!“, worauf die amerikanische Frau mit einem Lächeln antwortet: „Und ich würde liebend gerne, dir beim erfrieren zu sehen!“
In Wahrheit nutzen die USA den Vorwand des Krieges, um ihren Griff auf Europa zu festigen. Vorerst hat dies funktioniert. Doch es ist unklar, wie lange die Geduld der Deutschen und der anderen Europäer anhält. Die dadurch entstandenen Widersprüche werden erst zu Tage treten, wenn die ukrainische Angelegenheit erledigt ist.
In den 1920ern stellte Trotzki in einer brillanten Vorhersage fest, dass sich das Zentrum der Weltgeschichte vom Mittelmeer zum Atlantik verschoben hat und dazu bestimmt ist, sich vom Atlantik zum Pazifik zu bewegen. Diese Vorhersage wird nun vor unseren Augen zur Tatsache.
Der Konflikt zwischen den USA und Russland findet hauptsächlich (aber nicht gänzlich) in Europa statt. Doch der Konflikt zwischen China und Amerika spielt sich vor allem im Pazifik ab. Auf Dauer wird die Pazifikregion eine wesentlich entscheidendere Rolle in der Weltgeschichte spielen als die zweitrangigen Staaten Europas, die in eine langfristige Periode des historischen Niedergangs eingetreten sind.
Die Ereignisse auf dem pazifischen Schlachtfeld werden zweifellos wichtige weltweite Auswirkungen auf die Zukunft haben. Die Spannungen zwischen den zwei Ländern werden jeden Tag größer. Sowohl Demokraten als auch Republikaner machen kein Geheimnis daraus, dass sie China als ihren wichtigsten und gefährlichsten Gegner betrachten.
Amerika befindet sich auf einem Weg, der zu einem Handelskrieg mit China führt. Es hat seine Beschränkungen für den Export von Technologie nach China noch weiter verschärft.
Die bürgerlichen Strategen spekulieren, dass China weiter weg von Russland rücken wird. Doch das ist abermals Wunschdenken. Unter den gegebenen Umständen wird sich China keinesfalls von Russland abwenden und umgekehrt ebenso nicht, weil sie sich gegenseitig brauchen, um der Macht des US-Imperialismus die Stirn zu bieten.
Momentan liegt der Schwerpunkt des Konfliktes zwischen den USA und China auf der Frage um Taiwan. Der Krieg in der Ukraine hatte den sofortigen Effekt, die Taiwan-Frage auf die Tagesordnung der internationalen Politik zu setzen. Peking hat schon vor langer Zeit unmissverständlich klargemacht, dass es Taiwan als unveräußerlichen Teil Chinas sieht.
Doch indem die USA die nationalistischen Kräfte Taiwans unterstützt, die Militärhilfe aufstockt und den chinesischen Zugang zum taiwanesischen Markt erschwert, tragen sie zu den Spannungen rund um die Insel bei. Gleichzeitig verfolgen die USA jedoch eine Politik der „strategischen Unklarheit“, d. h. sie halten am Status quo in Taiwan fest, da sie wissen, dass ein Abweichen davon zu einer verheerenden militärischen Konfrontation führen könnte.
Der inoffizielle Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan war ein äußerst törichter Akt, eine sinnlose Provokation, die bestürzt von den ernsthaftesten Vertretern des US-Imperialismus und den US-Verbündeten in ganz Asien aufgenommen wurden, welche nicht gezwungen werden wollen, sich in einem Handelskrieg, geschweigen denn in einem echten Krieg, für eine Seite zu entscheiden.
Sogar Joe Biden, der nicht gerade für seinen Scharfsinn bekannt ist, konnte erkennen, dass der Besuch zu einer sofortigen Reaktion von China führen würde. Und das passierte auch. Peking erhöhte den Druck mit Marine- und Luftwaffenübungen rund um die Insel. Das Wortgefecht zwischen den zwei Ländern wurde immer hitziger.
In Wirklichkeit sind beide Seiten nicht erpicht darauf, die Angelegenheiten zu einer echten militärischen Auseinandersetzung zuzuspitzen. Eine bewaffnete Intervention der USA wäre mit enormen logistischen Problemen verbunden und Xi Jinping sorgt sich mehr darum, die innere Stabilität zu wahren, als sich auf militärische Abenteuer einzulassen. Nachdem er seine „Wiederwahl“ auf dem 20. Kongress der KPCh gesichert hat, hat Xi einen versöhnlicheren Ton in Bezug auf Taiwan und die USA angeschlagen.
Nur eine sehr ernste Krise innerhalb Chinas, die droht, das Regime zu stürzen, oder eine von den USA gestützte taiwanesische Unabhängigkeitserklärung könnte die Waagschale zugunsten eines solchen Abenteuers kippen. Doch das steht nicht unmittelbar auf dem Plan.
Und so wird das unruhige Gleichgewicht zwischen China, Amerika und Taiwan für einige Zeit bestehen bleiben, mit unvermeidlichen Höhen und Tiefen. Doch der gigantische Kampf um die Vorherrschaft zwischen den USA und China wird sich ausweiten, ganz Asien umfassen und die weitreichendsten Folgen für den ganzen Planeten haben.
Der Ukraine-Krieg eröffnete ebenfalls Konflikte zwischen den USA und Ländern, die zuvor als enge Verbündete galten. Die USA sind unzufrieden, dass viele Nationen weiterhin Handel mit Russland betreiben, was die von den USA auferlegten Sanktionen untergräbt. China setzt sich offen über die Wünsche Amerikas hinweg und nicht viel kann dagegen unternommen werden.
Doch Indien, welches ein Verbündeter Amerikas sein sollte, kauft ebenfalls riesige Mengen von russischem Öl zu Spottpreisen und verkauft diese mit einem saftigen Aufpreis weiter an Europa. Joe Biden schäumt und Modi zuckt nur mit den Schultern. Schließlich ist russisches Öl so billig…
Es mag für Indien und China billig sein, doch die weltweite Ölknappheit hat die Marktpreise in die Höhe getrieben, was, wie wir bereits erklärt haben, Russland zugutekommt.
Somit haben sich Spannungen zwischen Saudi-Arabien, dem weltweit größten Rohölexporteur, und den USA, dem weltweit größten Konsumenten, ergeben. Riad ignorierte Bidens Anfrage, die Ölproduktion zu steigern, um die globalen Ölpreise zu senken und handelte einen Deal mit Moskau aus, die Produktion zu kürzen, um den Preisverfall zu stoppen.
Saudi-Arabiens Zusammenarbeit mit Moskau sorgt im Weißen Haus für gewaltige Verärgerung und Empörung. Karine Jean-Pierre, Sprecherin des Weißen Hauses, erzählte gegenüber Berichterstattern, dass es „klar“ gewesen sei, dass OPEC+ „sich nach Russland richten“ würde.
Der Streit zwischen den Saudis und den USA ist ein Symptom des immer größer werdenden Verlangens von Regierungen in Asien, Afrika und Lateinamerika, den Weltkonflikt zwischen Russland, China und den USA zu nutzen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen und zwischen den beiden Seiten zu balancieren. Das Verhalten von Erdogan in der Türkei ist ein weiteres Beispiel dafür.
Die Umstrukturierungen, von denen wir gesprochen haben, führten zu viel Spekulation um eine „multipolare“ Welt. Es wird davon ausgegangen, dass der Aufstieg Chinas als Wirtschafts- und Militärmacht die führende Position des US-Imperialismus herausfordern wird.
Der Niedergang der USA im Vergleich zu China wird schon seit Jahrzehnten kommentiert. Doch es muss betont werden, dass es sich hierbei um einen relativen Niedergang handelt. In absoluten Zahlen bleiben die USA der reichste und mächtigste Militärstaat auf der Welt.
In den 1970ern gab es eine ähnliche Spekulation über den Aufstieg von Japan, manche prognostizierten, dass es die US-Wirtschaft in wenigen Jahrzehnten überholen würde. Doch dies ist jedoch nie eingetreten.
Das explosive Wachstum der japanischen Wirtschaft stieß an seine Grenzen und Japan trat in eine längere Phase der wirtschaftlichen Stagnation ein. Nun gibt es Anzeichen dafür, dass sich China einem ähnlichen Punkt nähert.
Die Grenzen des sogenannten chinesischen Modells zeigen sich in einer starken Verlangsamung des Wirtschaftswachstums. Auf absehbare Zeit werden die USA ihre Position als wichtigste imperialistische Macht aufrechterhalten können. Doch das wird seine eigenen Probleme mit sich bringen.
Im 19. Jahrhundert beherrschte der britische Imperialismus einen riesigen Teil der Erdkugel. Seine Flotte herrschte die Meere, auch wenn er zunehmend von der aufstrebenden Macht Deutschlands herausgefordert wurde und der amerikanische Imperialismus befand sich noch in der Anfangsphase seiner Entwicklung.
Zu dieser Zeit hatte Großbritannien Erfolg damit, sich auf Kosten seiner Kolonien und seiner herrschenden Rolle im Welthandel zu bereichern. Seine Macht wurde von zwei Weltkriegen untergraben und die USA erbten Großbritanniens Rolle als Weltpolizei. Doch die USA erlangte diese Position in einer Periode des imperialistischen Niedergangs. Und die Rolle der Weltpolizei erweist sich als sehr belastend.
Trotz ihres gewaltigen Reichtums und ihrer militärischen Macht, mussten die USA in den Dschungel von Vietnam ihre erste militärische Niederlageeinstecken. Der vorherige Koreakrieg endete in einem Unentschieden und die Lage bleibt bis heute ungelöst. Die militärischen Abenteuer in Afghanistan, dem Irak und Syrien endeten allesamt in einer Blamage und dem Verlust von Milliarden von Dollar.
Nun wurde der Krieg in der Ukraine – an dem sie vorgeblich nicht aktiv beteiligt ist, auch wenn sie es faktisch ist – eine weitere riesige Belastung für seine Ressourcen. Als Resultat gibt es eine gewaltige Reaktion von Seiten der öffentlichen Meinung in den USA gegen militärische Abenteuer im Ausland. Dies ist ein starker Faktor, der das Potenzial der USA, Kriege zu führen, einschränkt.
Die beschämenden Niederlagen im Irak und Afghanistan haben sich in das Bewusstsein der Menschen in den Vereinigten Staaten eingebrannt. Sie haben die Nase voll von ausländischen Interventionen und Kriegen und das ist ein wichtiger Faktor, der den Handlungsspielraum von Biden und dem Pentagon einschränkt.
Auf der anderen Seite tendiert Trumps Flügel in der republikanischen Partei zum Isolationismus, was traditionell ein wichtiges Element in der US-Politik war.
Die allgemeine Instabilität auf der Welt droht ständig, politische Instabilität in der US-Gesellschaft anzufachen. Das ist es, was Trotzki meinte, als er sagte, dass die USA nach dem Zweiten Weltkrieg zur Weltmacht aufsteigen würde, jedoch mit Dynamit in ihrem Fundament.
Die Periode, in die wir eingetreten sind, wird von zunehmender Instabilität und Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Mächten und Blöcken gekennzeichnet sein. Die rechten Reformisten haben das komplette Programm und die Rhetorik („Verteidigung der Demokratie“) des bürgerlichen Imperialismus übernommen. Die „Linken“ singen dauernd bewegende Hymnen auf den Frieden und die Brüderlichkeit der Menschen, die ihrer Meinung nach durch die Charta der Vereinten Nationen gewahrt werden.
Doch in den etwa 80 Jahren seit ihrer Gründung haben die sogenannten Vereinten Nationen nie einen Krieg verhindert. Zwischen 1946 und 2020 gab es ca. 570 Kriege, welche mindestens 10.477.718 Zivilisten und Soldaten als Opfer forderten. Die UNO ist nichts weiter als eine Quasselbude, die den Eindruck erwecken soll, Probleme lösen zu können.
In Wirklichkeit kann sie im besten Fall manchmal kleine Problemchen lösen, die keine Auswirkungen auf die grundlegenden Interessen der Großmächte haben. Im schlimmsten Fall dienen sie als gelegenes Feigenblatt, um imperialistische Pläne zu verschleiern, wie im Koreakrieg in den 1950ern, dem Kongo in den 1960ern und dem ersten Irakkrieg 1991.
In der Vergangenheit hätten die bestehenden Spannungen bereits zu einem direkten Krieg zwischen den Großmächten geführt. Doch die veränderten Bedingungen haben dieses Szenario – zumindest für die Gegenwart – von der Tagesordnung gestrichen. In den letzten sieben Jahrzehnten gab es keinen Weltkrieg, doch es hab genug Kleinere, wie wir gezeigt haben.
Die Kapitalisten führen Krieg nicht für Patriotismus, Demokratie oder andere hochtrabende Prinzipien. Sie führen Krieg für Profit, um fremde Märkte zu erobern, für Rohstoffquellen (wie etwa Öl) und um Einflusssphären zu vergrößern.
Ein Atomkrieg würde keines dieser Dinge mit sich bringen, sondern nur die gegenseitige Zerstörung auf beiden Seiten bedeuten. Um dies zu beschreiben, gibt es sogar einen Ausdruck: Gleichgewicht des Schreckens (Englisch MAD: Mutually Assured Destruction – gegenseitig zugesicherte Zerstörung). So ein Krieg liegt nicht im Sinne der Banker und Kapitalisten.
Wie bereits erwähnt, sind ein weiterer entscheidender Faktor die massenhafte Ablehnung des Kriegs, besonders (aber nicht nur) in den USA. Laut einer Umfrage bevorzugen nur 25% der US-Bevölkerung eine direkte militärische Intervention in der Ukraine, was bedeutet, dass die überwiegende Mehrheit dagegen wäre.
Das ist es, was die USA davon abhält, Truppen in eine direkte Konfrontation mit der russischen Armee in die Ukraine zu schicken und nicht die Friedensliebe und schon gar nicht irgendein Respekt vor den (Un)Vereinten Nationen.
Natürlich mangelt es nicht an dummen oder unausgeglichenen US-Generälen, die denken, dass ein Krieg mit Russland oder China oder besser noch mit beiden eine gute Idee wäre und falls dass die nukleare Zerstörung des Planeten zur Folge hätte, wäre das ein notwendiger Preis, der zu zahlen wäre.
Doch solche Personen werden unter Kontrolle gehalten, so wie ein Mann, der sich einen brutalen Wachhund hält, um seinen Besitz zu verteidigen, sicherstellt, dass dieser angekettet. Und solange wir nicht die Perspektive haben, dass ein amerikanischer Hitler an die Macht kommt, wird niemand geneigt sein, einen kollektiven Abschiedsbrief im Namen des amerikanischen Volkes zu unterschreiben.
Obwohl ein Weltkrieg unter den gegebenen Bedingungen ausgeschlossen ist, wird es viele „kleine“ Kriege und Stellvertreterkriege wie den in der Ukraine geben. Dies wird zur allgemeinen Unbeständigkeit beitragen und weiter Öl in das Feuer der globalen Unordnung kippen.
In den USA hing die Stabilität des Status quo von der Machtverteilung zwischen zwei bürgerlichen Parteien ab, den Republikanern und den Demokraten. Über mehr als 100 Jahre wechselten sich diese zwei politischen Schwergewichte in der Führung der Regierungsgeschäfte mit der Gleichmäßigkeit eines alten Uhrpendels ab.
Alles schien glatt zu laufen. Doch nun wich die alte Gleichmäßigkeit einer heftigen Unruhe.
Die Trump-Jahre waren durch extreme Unberechenbarkeit gekennzeichnet. Die Verweigerung, seine Machtabgabe zu akzeptieren oder zuzugeben, dass er jemals eine Wahl verlieren könnte, schufen die Bedingungen für den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 durch einen Mob seiner wütenden Anhänger. Diese Ereignisse kündigten eine neue Periode gewaltsamer Umwälzungen in der amerikanischen Gesellschaft an.
Alle ernsten wirtschaftlichen Kommentatoren prognostizieren eine Rezession für die USA im Jahr 2023. Die jährliche Inflationsrate der Vereinigten Staaten liegt nun über 8%, so hoch wie seit 40 Jahren nicht. Wie bereits gesagt erhöhte die US-Notenbank die Zinssätze schrittweise, was die Hypothekenzinssätze, die nun bei fast 7 % liegen (verglichen mit knapp 3 % 2021), auf ein 15-Jahres-Hoch brachte.
Gleichzeitig haben die Staatsschulden der USA die 31 Billionen Dollar-Marke überschritten. Da die Zinssätze stark steigen, setzt das die Staatsfinanzen unter Druck. Die Schaffung von Arbeitsplätzen verlangsamte sich ebenfalls, und die Arbeitslosigkeit beginnt allmählich zu steigen.
All das entwickelt sich vor dem Hintergrund eines lang andauernden relativen wirtschaftlichen Rückgangs, der den Lebensstandard für Millionen von Amerikanern stagnieren oder sinken ließ. Reallöhne stagnieren seit den 1970ern. Millionen von gutbezahlten Produktionsjobs wurden über Jahrzehnte zerstört.
Das erklärt die fallende Popularität der Demokraten, die einst als „arbeiterfreundlich“ angesehen wurden, und auch, warum eine Person wie Trump die Unterstützung von einer Schicht der Arbeiterklasse, voller Unmut gegenüber dem Establishment, gewinnen konnte.
Trotz Bidens niedrigen Zustimmungswerten brachten die Zwischenwahlen 2022 nicht den Sieg des Trumpismus, den viele erwartet hatten. Viele von Trumps Kandidaten wurden besiegt. Einer der Hauptgründe war die Reaktion gegen die Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade durch den Obersten Gerichtshof, das zuvor das Abtreibungsrecht geschützt hatte.
Es bleibt abzuwarten, ob Trump die Präsidentschaftsnominierung der Republikaner gewinnt, oder ob er von jemandem wie Ron DeSantis, Floridas Gouverneur, geschlagen wird, der sich selbst als Kandidat mit dem Slogan „Trumpismus ohne Trump“ präsentiert. Der Weg könnte geebnet sein für eine Spaltung der republikanischen Partei, sollte Trump seinen Willen nicht durchsetzen können.
Es herrscht eine weit verbreitete und tiefe Unzufriedenheit, die sich in einer Umfrage nach der anderen ablesen lässt.
Über die Hälfte der Amerikaner glaubt, dass es „in den nächsten Jahren zu einem Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten“ kommen wird, so eine Umfrage der University of California aus dem Jahr 2022.
Laut einer anderen Umfrage glauben 85% der Amerikaner, dass sich das Land auf dem „falschen Weg“ befindet. 58% der amerikanischen Wähler „glauben, dass ihr Regierungssystem nicht funktioniert…“, und so weiter.
Diese tiefe Unzufriedenheit zeigte sich am deutlichsten in der Black Lives Matter-Bewegung von 2020, die 75 % der Bevölkerung unterstützten. Doch diese Radikalisierung wurde teilweise von der sogenannten Identitätspolitik desorganisiert.
Was als „Kulturkampf“ (culture war) bezeichnet wird, wird sowohl von rechtsextremen Politikern als auch von Liberalen regelmäßig genutzt, um ihre Anhänger aufzuhetzen. Das ist ein Gift, dass nur mit einem Klassenstandpunkt bekämpft werden kann.
Das Wiederauftauchen der Klassenfrage kommt in einer Welle von Gewerkschaftskampagnen an Arbeitsplätzen wie Amazon und Starbucks zum Ausdruck, aber auch in den Streikwellen, die die USA erfasst haben, wie etwa der „Striketober“ 2021. Und die Streikzahlen nehmen weiter zu.
Die neusten Zahlen zeigen, dass 71% der Amerikaner Gewerkschaften unterstützen – der höchste Wert seit den 1960er Jahren. Und bei der Jugend ist diese Zahl noch höher. Sogar unter den 18-34-jährigen Trump-Anhänger sympathisieren 71% mit dem gewerkschaftlichen Kampf bei Amazon.
Die Bestrebungen in Richtung gewerkschaftlicher Organisierung der prekär Beschäftigten, besonders junger Leute, ist das erste wirkliche Anzeichen für ein Wiederbeleben des Klassenkampfes. Diese Gewerkschaftskampagnen werden von radikalen, jungen Arbeitern mit wenig Verbindung zur traditionellen Gewerkschaftsbewegung organisiert. Sie sind Teil einer neuen Generation militanter Klassenkämpfer, die sich in den gesamten USA herausbildet und sich rasant nach links bewegt.
Es herrscht jedoch ein ein tiefes und wachsendes Misstrauen gegenüber allen bestehenden Parteien, insbesondere den Demokraten. Aus dieser Situation heraus erklärt sich die Krise der Präsidentschaft Bidens. Er wird als unfähig angesehen, die drängenden Probleme Problem der Arbeiterklasse und der Jugend zu lösen, von der Inflation bis zum Krieg in der Ukraine, von den wachsenden, katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels zum Mangel an leistbaren Wohnungen.
Der grundlegende Unmut erklärt das allgemeine Misstrauen gegenüber Biden und den Demokraten in breiten Teilen der Bevölkerung. Die weitere Entwicklung des Klassenkampfes wird den Weg an einem gewissen Punkt für die Entstehung einer dritten Partei eröffnen, die sich auf die Arbeiterklasse stützt. Das wird eine grundlegende Veränderung in der Gesamtsituation bedeuten.
Früher war China eine der Hauptmotor der Weltwirtschaft. Doch dieser hat nun seine Grenzen erreicht und verkehrt sich in sein Gegenteil. Die bürgerlichen Ökonomen beobachten die Entwicklung in China mit wachsender Sorge.
Auf den freien Märkten des Westens können Finanzkrisen plötzlich ausbrechen und Regierungen und Investoren überrumpeln. Doch in China, wo der Staat noch immer eine zentrale Rolle in der Wirtschaft spielt, kann die Regierung in viel höherem Maße politisches und finanzielles Kapital einsetzen, um eine Krise zu mildern oder hinauszuschieben.
Dies erweckt den Anschein von Stabilität, doch das ist eine Illusion. Da China sich für den Weg des Kapitalismus entschieden hat und nun vollends in den kapitalistischen Weltmarkt integriert ist, unterliegt das Land denselben Gesetzen, jenen der kapitalistischen Marktwirtschaft.
Einer der Schlüsselfaktoren, der die Wirtschaft in China und auf der Welt nach dem Crash von 2008 vor einer noch größeren Krise bewahrt hat, waren die riesigen Geldsummen, die der chinesische Staat in die Wirtschaft pumpte.
Es handelte sich um Hunderte von Milliarden Dollar, von denen der größte Teil in Infrastruktur und Entwicklungsprojekte flossen. Was wir nun sehen, ist das Ende dieses Modells. Die chinesische Wirtschaft verlangsamt. Die magere Wachstumsrate von 2,8% im Jahr 2022 bedeutet den niedrigsten Wert seit 1990. 2021 wuchs das BIP noch um 8,1%.
Ein großer Teil dieser Investition wurde in sogenannte LGFVs (local government financing vehicles) gesteckt, die einen riesigen Schuldenberg von 7,8 Billion Dollar angehäuft haben, der die Stabilität der gesamten chinesischen Wirtschaft bedroht. Ein großer Teil dieser Schulden befindet sich versteckt im halblegalen Schatten-Banksektor, in den staatliche Betriebe und Banken stark verwickelt sind.
Diese Schulden entsprechen fast der Hälfte des gesamten BIP Chinas von 2021 oder etwa dem Doppelten der deutschen Wirtschaft. Angesichts der sinkenden Einnahmen der lokalen Regierungen wird ein verheerender Dominoeffekt von Zahlungsausfällen immer wahrscheinlicher.
Staatsinterventionen dienen nur dazu, den Marktmechanismus zu verzerren, können jedoch seine grundlegenden Widersprüche nicht lösen. Sie können eine Krise hinauszögern, doch wenn sie schlussendlich eintrifft – was sie früher oder später passieren muss –, wird sie einen noch explosiveren, zerstörerischen und unkontrollierbaren Charakter haben.
Ein finanzieller Zusammenbruch in China hätte verheerende Auswirkungen auf die Weltwirtschaft als Ganzes. Er würde auch in China eine sehr explosive Situation erschaffen.
Es wurde immer angenommen, dass China eine jährliche Wachstumsrate von mindestens 8% benötigt, um die soziale Stabilität zu sichern. Eine Wachstumsrate von 2,8% ist demnach völlig unzureichend. Und eine große Wirtschaftskrise, ausgelöst durch einen Zusammenbruch des Immobilienmarktes, würde den Boden für einen großen sozialen Aufruhr bereiten.
In diesem Kontext müssen wir den Kongress der „Kommunistischen“ Partei Chinas 2022 sehen, in dem Xi Jinping seine Macht festigte. Nach den alten Parteiregeln hätte Xi auf diesen Kongress als Präsident zurücktreten müssen, doch stattdessen strebte er an, Führer auf Lebenszeit zu werden.
Es ist kein Zufall, dass Xi alle Macht in seinen Händen konzentriert hat. China ist ein autoritärer Staat, der die kapitalistische Marktwirtschaft mit Elementen staatlicher Kontrolle kombiniert, die er vom alten degenerierten Arbeiterstaat übernommen hat.
In einem totalitären Staat, in dem alle Informationsquellen streng kontrolliert werden und jede Form der Opposition unbarmherzig niedergeschlagen wird, ist es extrem schwierig zu wissen, was unter der Oberfläche geschieht, bis es plötzlich ausbricht.
Wir konnten beim Kampf der Arbeiter in der Fabrik von Foxconn in Zhengzhou und den nationalen Anti-Lockdown-Protesten im November 2022 beobachten. Diese Bewegungen, die scheinbar aus dem Nichts auftauchten, nahmen eine explosive Form an und breiteten sich, im Falle der Anti-Lockdown-Proteste, innerhalb weniger Stunden auf hundert Orte aus. Diese Ereignisse bedeuten den Anfang des Zusammenbruchs des sozialen Gleichgewichts in China.
Die herrschende Elite ist sich dessen jedoch sehr wohl bewusst. Sie hat einen mächtigen Repressionsapparat und ein riesiges Netzwerk von Spionen und Informanten, die in jeder Fabrik, jedem Büro, Wohnblock, jeder Schule und Universität präsent sind.
Inzwischen gibt China jedes Jahr mehr für die innere Sicherheit aus als für die Landesverteidigung. Beide Summen werden ebenfalls erhöht. Xi und seine Clique sind sich der enormen Gefahren von Volksunruhen bewusst und ergreifen Maßnahmen, diesen zuvorzukommen. Trotzdem war ihre hochentwickeltes Online-Zensurregime nicht in der Lage, die Verbreitung von Informationen über die jüngsten Proteste zu verhindern, obwohl an diesen nur einige Hundert Menschen in jeder Stadt beteiligt waren. Eine Massenbewegung der Arbeiterklasse würde dieses System überwältigen.
Das erklärt zu einem großen Teil die Zerschlagung der Massenproteste in Hong Kong im Jahr 2019. Wenn nicht reagiert worden wären, hätten sie sich bald auf das Festland ausgeweitet.
Das großartige Ausmaß dieser Bewegung – bevor sie von der pro-westlichen liberalen Elite gekapert und in eine Sackgasse geführt wurde – gibt uns einen kleinen Einblick, wie eine proletarische Revolution in China aussehen wird, nur dass sie dann ein viel größeres Ausmaß annehmen wird.
Napoleon Bonaparte hat angeblich einmal gesagt: „China ist ein schlafender Drache. Lasst China schlafen, denn wenn er aufwacht, wird er die Welt erschüttern.“ In diesem Spruch steckt viel Wahrheit. Doch wir sollten eine kleine Änderung vornehmen.
Das chinesische Proletariat ist das größte und stärkste der Welt. Es ist tatsächlich wie ein schlafender Drache, der bald aufwacht. Und wenn das geschieht, wird es tatsächlich die Welt erzittern lassen.
Eine gewaltige soziale Explosion bereitet sich in China vor, obwohl es unmöglich ist, vorherzusagen, wann diese ausbrechen wird. Doch eine Sache kann man mit absoluter Sicherheit sagen: Sie wird ausbrechen, wenn man am wenigsten damit rechnet.
Und wenn sie erst einmal begonnen hat, wird sie nicht mehr aufzuhalten sein. Keine Maßnahmen der Unterdrückung oder Einschüchterung werden ausreichen. Wie wenn der Jangtse-Fluss über die Ufer tritt, wird diese soziale Überschwemmung alles mit sich reißen.
Die Einheit der EU galt als sicher, solange der wirtschaftliche Aufschwung anhält. Aber diese Bedingungen existieren nicht mehr. Der Beginn von wirtschaftlichen und finanziellen Turbulenzen wird zu mehr Protektionismus und wirtschaftlichem Nationalismus führen.
Das zerbrechliche Gefüge der europäischen Einheit wird im wirtschaftlichen Abschwung auf eine harte Probe gestellt bis es zerbricht. Die daraus resultierenden Zentrifugalkräfte werden die Abkehr von der Globalisierung hin zu einer Zersplitterung Europas und der Weltwirtschaft beschleunigen.
Südeuropa ist das schwächste Glied der Kette und die Situation ist reif für ernsthafte politische Erschütterungen und Instabilität. Die weiterhin angeschlagene finanzielle Situation Griechenlands und Italiens könnte den Zusammenbruch der Europäischen Währungsunion auslösen. Aber auch die stärksten europäischen Nationen werden geschwächt. Diese Tendenzen werden zunehmen und dabei enormen Druck auf das zerbrechliche Gerüst der europäischen Einheit ausüben.
Die Krise hat die tiefen Verwerfungslinien zwischen den verschiedenen Mitgliedsstaaten der EU ans Tageslicht gebracht. Schon vor dem Ukraine-Krieg und der Pandemie schwächelte die europäische Wirtschaft, während die Spannungen zwischen den EU Ländern wuchsen. Das offensichtlichste Anzeichen dafür war der EU-Austritt Großbritanniens, der viele Probleme ungelöst ließ. Aber die Beziehungen zu Großbritannien sind nicht die einzigen Reibungspunkte innerhalb der EU.
Durch den Krieg in der Ukraine und dem Wegfallen der russischen Gaslieferungen nach Europa droht der EU eine wirtschaftliche Katastrophe. Die Kapitalisten aller europäischen Staates kämpfen darum, Maßnahmen in ihrem eigenen Sinne zu treffen.
Europäische Solidarität spielt dabei keine Rolle. „Jeder ist sich selbst der nächste“, lautet die Devise.
Der Krieg in der Ukraine hat zu ernsthaften Spaltungen innerhalb der EU geführt. Wie bereits erwähnt, sind Polen und die baltischen Länder die schärfsten Kriegstreiber. Viktor Orban jedoch kritisiert offen die Sanktionen des Westens gegen Russland. Ungarn hat ausgezeichnete Beziehungen mit dem Mann im Kreml. So hat das Land den niedrigsten Gaspreis in Europa.
Orban kommentierte das ironisch: „Bezüglich der Energie sind wir Zwerge und die Russen Giganten. Ein Zwerg sanktioniert den Riesen und wir wundern uns, wenn der Zwerg stirbt.“ Die anderen EU-Chefs reagierten mit Empörung. Doch so weit von der Wahrheit entfernt waren Orbans Bemerkungen nicht.
Deutschlands Rettungspaket für Energieunternehmen löste bei einigen EU-Staaten sofort eine heftige Abwehrreaktion aus. Sie verlangen ein gemeinsames Vorgehen der EU gegen die Energiekrise. Der ungarische Premierminister warnte, dass die geplanten Maßnahmen Deutschlands auf „Kannibalismus“ hinauslaufen. Sie würden die Einheit der EU gefährden und das in einer Zeit, in denen einige Mitgliedstaaten unter enormen Druck wegen des Ukraine-Krieges stünden.
Ein hochrangiger Berater der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sagte: „Es handelt sich um einen präzisen und gewollten Akt, der weder gemeinsam vereinbart, zugestimmt noch kommuniziert wurde und die Grundfeste der EU untergräbt.“ Emmanuel Macron reagierte diplomatischer, brachte die Sache aber trotzdem auf den Punkt, als er sagte: „Wir können nicht an nationalen Maßnahmen festhalten, denn das führt zu Verzerrungen innerhalb des europäischen Kontinents.“
Nichtsdestotrotz verteidigte Deutschlands Wirtschaftsminister Robert Habeck das Maßnahmenpaket. Er warnte: „Wenn Deutschland in eine tiefe Rezession gerät, würde das ganz Europa mit runterziehen.“
Im Grunde geht es bei dem Konflikt darum, wer zahlen soll. Deutschland und die reicheren Länder im Norden Europas wollen nicht die Zeche für die ärmeren Länder im Süden und Osten übernehmen.
Es gibt jedoch Anzeichen für wachsende Unzufriedenheit mit der gesamten Situation. Die Financial Times veröffentlichte einen Artikel mit der Schlagzeile: „Die gewöhnlichen Deutschen zahlen: Anti-Kriegs-Demonstrationen verbreiten sich in Mitteleuropa.“ Der Artikel berichtete von einem besorgniserregenden Zuwachs an Anti-Kriegs- und Pro-Russland-Demonstrationen in Deutschland und anderen Ländern in Osteuropa.
Im Moment bewegen sich die Teilnehmerzahlen bei den Demos noch im Hunderterbereich. Aber mit den sinkenden Temperaturen wird die Wut von vielen Menschen wachsen. Die daraus resultierenden sozialen Spannungen werden das zerbrechliche politische Gefüge in Deutschland bedrohen.
In Tschechien demonstrierten am 3. September 2022 zwischen 70.000 und 100.000 Menschen auf dem Prager Wenzelsplatz. Sie forderten den Rücktritt von Ministerpräsident Petr Fialas rechter, pro-NATO Koalitionsregierung. Unter anderem riefen die Protestierenden Slogans gegen die explodierenden Lebenshaltungskosten und die Beteiligung Tschechiens am Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland.
Auch in Italien ist die Unterstützung für den Krieg keine Selbstverständlichkeit. Während Meloni sofort die „vernünftige“ pro-westliche Stellung zum Konflikt bezog, vertraten ihre Koalitionspartner Salvini und Berlusconi eine andere Position. Salvini forderte ein Ende der Sanktionen gegen Russland und Berlusconi stellte seine Freundschaft zu Wladimir Putin offen zur Schau.
Die weltweite Krise des Kapitalismus ist dabei, Deutschland einzuholen. Der Krieg in der Ukraine führte der deutschen herrschenden Klasse die Schwäche ihres Imperialismus vor Augen.
Jahrzehntelang war Deutschland das industrielle Herz Europas. Unter der 15-jährigen Amtszeit Angela Merkels gelang es Deutschland, die Krise von 2008 zu exportieren.
Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit konnte auf Kosten der Arbeiterklasse durch die Hartz IV-Arbeitsmarkt-Gegenreformen und die Aufweichung der Arbeitsverhältnisse gesteigert werden. Die Maßnahmen wurden 2004 von Gerhard Schröders sozialdemokratischer Regierung eingeführt.
Die herrschende Klasse in Deutschland nutzte außerdem die Restoration des Kapitalismus in Osteuropa, um ihren Einfluss dorthin zu erweitern. So konnte sie auf billige Fachkräfte zugreifen.
Das, zusammen mit dem einfachen und billigen Zugang zu russischem Öl und Gas, gab den deutschen Kapitalisten einen zusätzlichen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren Rivalen. Dadurch boomten die Exporte nach Europa, in die USA und nach China. Deutschland stärkte seine Position als Welthandelsgroßmacht.
Eine vergleichsweise geringe Staatsverschuldung, die Kontrolle über den Euro und ihre wichtigen Stellung innerhalb der Institutionen der EU gab der herrschenden Klasse Deutschlands Handlungsspielraum, die innere soziale Stabilität zu gewährleisten. Das funktionierte jedoch nur auf Kosten des Rests von Europa.
Nun kehren sich jedoch alle Stärken des „deutschen Modells“ ins Gegenteil. Der Absturz des Welthandels 2019, der durch die Auswirkungen der Pandemie und den daraus resultierenden Verwerfungen in den Lieferketten von Rohstoffen, Einzelkomponenten und Mikrochips sowie durch steigende Transportkosten verschlimmert wurde, schwächte die deutsche Produktion sowie den Export von Autos, Maschinen und Chemikalien.
Die Auswirkungen des Ukrainekriegs zeigten auf, dass Deutschland nicht genug wirtschaftliche und militärische Kraft besitzt, die eigenen strategischen Interessen zu verfolgen, wenn es darum geht, mit ökonomisch und militärisch stärkere Mächte in Konkurrenzkampf zu treten.
Die 100 Milliarden Euro für Aufrüstung, die von Deutschlands Kanzler Olaf Scholz angekündigt wurden, erkennen diese Tatsache an. Jedoch wird das Paket lediglich die Profite der Rüstungsindustrie steigern.
Der anhaltende Druck durch den US-Imperialismus zwang die deutschen Kapitalisten, ihr über Jahre aufgebautes Netzwerk an deutsch-russischen Handelsbeziehungen, Gemeinschaftsunternehmen und direkten Investitionen zu kappen – zu einem katastrophalen Preis.
Obwohl Deutschland versuchte, die Sache hinauszuzögern und Maßnahmen zu vermeiden, die eine direkte Konfrontation mit Russland bedeutet hätten, führte die Dynamik des Krieges schlussendlich zu russischen Vergeltungsmaßnamen gegen die geschwächte und abhängige Wirtschaft Deutschlands. Das geschah dadurch, dass Russland seine Energielieferungen erst reduzierte und später ganz abstellte.
Diese Situation, zusammen mit der galoppierenden Inflation, wird schwere Auswirkungen auf die politische und soziale Stabilität des deutschen Kapitalismus haben. Die bevorstehende Periode wird unausweichlich scharfe Klassengegensätze zutage fördern. Das wird die Politik der Klassenzusammenarbeit, die von der Führung der Sozialdemokratie und in den Gewerkschaften betrieben wird, untergraben.
Der rasant fallende Lebensstandard, die galoppierende Inflation und die explodierende Energiepreise werden die Arbeiterklasse zwingen, sich zu wehren. Jeder Versuch der Bürokraten in den Gewerkschaften an den alten Methoden der Sozialpartnerschaft festzuhalten, wird ihre Autorität weiter schwächen.
Versuche, die Arbeiterklasse zur Unterstützung der Kapitalisten zu bringen, wie etwa der Aufruf des ehemaligen Ministerpräsidenten Joachim Gauck für „die Freiheit zu frieren“, stoßen bereits heute auf taube Ohren. In diesem Zusammenhang sind die bereits erwähnten Demos gegen den Krieg eine Warnung. Die unvermeidliche Tendenz zu einem Bruch mit der Sozialpartnerschaft und einer Explosion des Klassenkampfes sind in der Situation angelegt. Denn der herrschenden Klasse gehen die Optionen aus.
Die Amtseinführung von Melonis erzkonservativer Regierung war eine äußerst beunruhigende Entwicklung für die italienische Bourgeoisie und den italienischen Imperialismus.
Italien befindet sich bereits in einer Rezession. Die Inflation ist auf dem höchsten Niveau seit fast 40 Jahren. Der Schuldenberg Italiens von 2,75 Billiarden Euro, das entspricht 152% des BIP, droht mit den steigenden Zinsen ein noch größeres Problem zu werden.
Melonis Wahlerfolg lässt sich dadurch erklären, dass sie nicht an der Regierung von Mario Draghi beteiligt war. Dragi trat als Kandidat der Bourgeoisie an. Doch das Problem war, dass alle Parteien seiner Koalition schwere Verluste bei der Wahl hinnehmen mussten.
Meloni ist eine Rassistin, eine Fanatikerin und extrem reaktionär, doch sie läutet keine „Rückkehr des Faschismus“ in Italien ein. Vielmehr existiert ein wachsendes Misstrauen gegenüber allen Parteien, was von einem Nichtwähler-Anteil von 40% bestätigt wird.
Insgesamt stiegen die Stimmen für die rechte Koalition nicht an, jedoch wanderten viele Wähler von Berlusconi und der Lega zur Fratelli d’Italia (Melonis Partei). Nur einer von sechs Wählern stimmte für die Fratelli d’Italia.
Unmittelbar nach den Wahlen tat Meloni alles in ihrer Macht stehende, um den europäischen Finanzmärkten ihre Zuverlässigkeit zu versichern und zu zeigen, dass sie mehr oder weniger Draghis Politik weiterführen wird. EU-Gelder zur Stabilisierung der italienischen Wirtschaft gibt es nämlich nur, wenn die Regierung Sparmaßnahmen durchführt.
Die aktuelle Krise, mit ihrer galoppierenden Inflation, niedrigen Löhnen und hoher Arbeitslosigkeit, sowie die reaktionäre Politik bei Fragen wie Abtreibungsrecht, Immigration usw. ist ein Rezept für die Explosion des Klassenkampfes und Proteste der Arbeiterklasse und Jugend.
Wie in allen bedeutenden kapitalistischen Ländern gab auch die Regierung in Frankreich Unsummen aus, um während der Pandemie eine tiefe Krise zu vermeiden. Jetzt muss jemand die Zeche zahlen, und das wird eindeutig die französische Arbeiterklasse sein.
Doch jedes Mal, wenn die französische Bourgeoisie ernsthaft versuchte, die Errungenschaften der Vergangenheit zunichte zu machen, war sie mit einer kämpferischen Gegenreaktion der Arbeiterklasse konfrontiert. Als Macron zum ersten Mal gewählt wurde, stellte sich ihm innerhalb seines ersten Amtsjahres die Gelbwestenbewegung entgegen. Aber jetzt ist er noch schwächer.
In der ersten Runde stimmten kaum 20% der Wählerschaft für Macron. Statt einer Stärkung der Mitte findet eine Polarisierung nach links (Melenchon) und rechts (Le Pen) statt.
Die zunehmende Instabilität zeigte sich auch bei den Parlamentswahlen ein paar Monate später. Dabei scheitete Macron daran, eine absolute Mehrheit im Parlament zu gewinnen. Das Resultat ist eine schwache Regierung, die auf einem gespaltenen Parlament beruht und unter enormen Druck steht, das von der Kapitalistenklasse verlangte Programm umzusetzen.
Das alles passiert in einer Zeit der verschärften Wirtschaftskrise. Die Inflation steigt weiter, höhere Zinsen drücken die Hypothekenkosten von Millionen Familien nach oben und es droht steigende Arbeitslosigkeit, da die weltweite Krise des Kapitalismus sich auf Frankreich auswirkt.
Ein Anzeichen der veränderten Stimmung war der wochenlange Streik der Ölarbeiter im Oktober 2022, der von der FNIC angeführt wurde. Das ist die am weitesten links stehende der Gewerkschaften, die den Gewerkschaftsbund CGT ausmachen. Die Regierung versuchte, Maßnahmen zur Unterdrückung des Streiks zu ergreifen. Doch die Ölarbeiter hatten die Unterstützung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, trotz der durch den Streik verursachten Benzinknappheit.
Die Gewerkschaftsführung rief zu Aktionstagen auf, damit die Arbeiter Dampf ablassen konnten. So wollte sie einen umfassenden Kampf gegen die Regierung vermeiden. Doch die Arbeiter verstehen, dass diese Taktik in der aktuellen Situation unzureichend ist. Die wirkliche Stimmung in weiten Teilen der Arbeiterklasse kommt am besten durch den Slogan des Generalstreiks zum Ausdruck, der auf den Demonstrationen erhoben wurde.
Der Gewerkschaftsführung wird es nicht gelingen, die Bewegung auf Dauer zurückzuhalten. Der Streik der Ölarbeiter war ein Vorzeichen dessen, was wir in der kommenden Zeit in weit größerem Umfang erwarten können. In der gesamten Situation ist eine Wiederholung des Mai 1968 angelegt.
Der Milliardär und Investor Warren Buffet hat mal gesagt: „Erst wenn die Ebbe kommt, sieht man, wer nackt geschwommen ist.“ Diese Beschreibung passt erstaunlich gut zur aktuellen Situation in Großbritannien.
Vor nicht allzu langer Zeit galt Großbritannien als das politisch wie auch sozial stabilste und wohl konservativste Land Europas. Nun verwandelt sich die Situation in sein genaues Gegenteil.
Rishi Sunak wurde zum Premierminister „gewählt“, als Liz Truss nach dem Finanzdebakel rausgeschmissen wurde. Zu seinem Amtsantritt versprach er, die „Fehler“ seiner Vorgängerin zu „korrigieren“.
Aber die dringende Notwendigkeit, einen ausgeglichen Haushalt zu erreichen und das klaffende Loch in der Staatskasse zu stopfen, bedeutet unweigerlich, dass den Menschen in Großbritannien eine neue Periode der Sparmaßnahmen, Kürzungen und Angriffe auf ihren Lebensstandard bevorsteht.
Millionen britischer Haushalte sind mit der Entscheidung konfrontiert: entweder den Strom anlassen oder ausreichend Essen auf dem Tisch zu haben. Der gewaltige Unterschied zwischen Arm und Reich war nie zuvor so offensichtlich wie heute. Und das schürt das Feuer der Ablehnung und der Wut.
Es gibt viele Anzeichen für eine Veränderung im Massenbewusstsein in Großbritannien, so etwa, dass 47% der Tory-Wähler eine Verstaatlichung von Wasser, Elektrizität und Gas befürworten. Das steht im direkten Widerspruch zur Politik des freien Marktes der Tory-Regierung.
Nach vielen Jahren der beispiellosen Angriffe auf die Gehälter und Lebensstandards ist die Arbeiterklasse nicht mehr bereit, weitere Zumutungen hinzunehmen. Die Widersprüche zwischen den Klassen spitzen sich jeden Tag weiter zu.
Diese wütenden Stimmung drückt sich in ständig steigenden Streikzahlen aus: Eisenbahner, Hafenarbeiter, Beschäftigte in der Post oder der Müllabfuhr sowie Anwälte haben bereits gestreikt. Ihnen folgen andere, etwa das Lehr- und Pflegepersonal.
Immer mehr wird über die Koordinierung und Bündelung von Arbeitskämpfen diskutiert. Wird es einen Generalstreik in Großbritannien geben? Es ist nicht möglich, das vorauszusagen. Alles, was man mit Sicherheit sagen kann, ist, dass weder die Regierung noch die Gewerkschaftsführung einen Generalstreik wollen. Doch da alle objektiven Bedingungen dafür vorhanden sind, könnten sie sich trotzdem in einem derartigen Szenario wiederfinden.
Das Wiederaufkommen des ökonomischen Kampfs ist eine wichtige Entwicklung. Aber dieser hat seine Grenzen. Trotzki wies darauf hin, dass selbst die kämpferischsten Streiks die grundlegenden Probleme der Gesellschaft nicht lösen können. Noch weniger können das Streiks, die in Niederlagen enden.
Selbst wenn es den Arbeiter gelingt, eine Gehaltserhöhung zu erkämpfen, wird diese von den rapide ansteigenden Preisen zu Nichte gemacht. Daher wird die Bewegung ab einen bestimmten Punkt einen politischen Ausdruck finden müssen. Aber wie kommt es dazu?
Unter der Führung von Jeremy Corbyn zog es die Labour Party für einige Zeit scharf nach links. Die herrschenden Klasse hatte die Kontrolle über beide großen Parteien verloren: die Labour Party an die Linksreformisten und die Tories an die rechten, chauvinistischen, Brexit-Anhänger.
Wegen der beschämenden Kapitulation der Linken konnte der rechte Flügel die Kontrolle über die Labour Party zurückgewinnen. Damit rechneten nicht einmal die Optimistischsten der bürgerlichen Berichterstatter.
Heute sind die Tories diskreditiert und in einer tiefen Krise. Sie sind entlang verschiedener Linien gespalten und zunehmend demoralisiert. Die Partei wendet sich gegen sich selbst, während der Druck durch die Krisen zunimmt. Das passiert gerade in der Zeit, wo die herrschende Klasse eine geeinte Regierung bräuchte, um die Angriffe auf die Arbeiterklasse durchzuführen.
Die Politik der neuen Regierung stellt eine Kombination aus Kürzungen und Steuererhöhungen da, die nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch weite Teile der Mittelschicht treffen wird. Dadurch ist der Klassenkampf vorprogrammiert. Was auch immer die Tories tun werden, es wird genau das Falsche sein.
Die neue Tory-Regierung versucht Neuwahlen zu vermeiden, weil sie genau weiß, dass sie bei einer Wahl untergehen würde. Die Labour Party würde an die Macht kommen – aber nicht wegen sondern trotz dem Parteivorsitzenden Starmer.
Starmer selbst ist nicht sehr begeistert von der Idee, eine Labour-Mehrheitsregierung anzuführen. Denn dann hätte er keine Ausrede mehr, eine Politik im Sinne der Arbeiterklasse nicht umsetzen zu können. Seine Politik ist es, Erwartungen abzudämpfen und so wenig wie möglich zu versprechen.
Es ist sogar nicht komplett ausgeschlossen, dass es zu einer Spaltung der Tory Party kommt. Die rechte Fraktion könnte sich abspalten und eine eigene Pro-Brexit-Partei gründen, möglicherweise zusammen mit Nigel Farage. Das könnte zur Gründung einer „Regierung der nationalen Einheit“ führen, bestehend aus einer Allianz der Labour Party mit den Liberalen und gemäßigten Tories.
So oder so, die Arbeiterklasse wird schmerzhafte Erfahrungen machen müssen, die ihnen von Sir Keir und der rechten Clique, die aktuell die Labour Party kontrolliert, beigebracht werden. Abgesehen vom Namen sind diese Herrn bürgerliche Politiker.
Der rechte Flügel hat die Partei gründlich gesäubert, um jede Möglichkeit einer Wiederholung des Corbyn-Phänomens zu vermeiden. Aber sobald die Labour Party regiert, werden sowohl die großen Konzerne als auch die Arbeiterklasse ihren Druck auf sie ausüben.
Als treuer Diener der Banken und Kapitalisten wird Starmer nicht zögern, Politik in deren Interesse zu machen. Jedoch wird jeder Versuch, Kürzungsmaßnahmen und Einsparungspolitik umzusetzen, zu einem Ausbruch der Wut führen. Diese wird mit der Zeit einen Ausdruck innerhalb der Labour Party finden, angefangen bei den Gewerkschaften, die trotz allem noch ihre Verbindungen zur Partei aufrecht erhalten haben.
Große Ereignisse werden notwendig sein, um den Menschen zu vermitteln, dass es kein Zurück zum vorigen Zustand mehr gibt. Unter diesen Umständen werden sich große Chancen für die marxistische Strömung geben.
Die herrschende Klasse hat die Führung, die sie verdient. Es ist kein Zufall, dass sich die Führungen der herrschenden Klasse überall in einer Krise befinden. Dies zeigt sich durch offene Spaltungen an der Spitze des Staates, wie etwa in den USA, Brasilien oder Pakistan.
Die Gründe für die Krise der Führung liegen in der Situation selbst. Die gegenwärtige Krise geht so tief, dass Manöver von oben praktisch ausgeschlossen sind. Wie Lenin bemerkt, kann ein Mann am Rande einer Klippe nicht klar denken. Selbst den intelligentesten und fähigsten Führer wäre es nicht möglich, sich aus diesem Sumpf zu befreien.
Nichtsdestotrotz spielt die Qualität der Führung eine wichtige Rolle. Im Krieg kommt es vor, dass sich einer Armee zurückziehen muss. Doch mit guten Generalen kann sich eine Armee geordnet zurückziehen, sodass die meisten Truppen intakt bleiben, während schlechte Generale einen Rückzug im Chaos enden lassen.
Es reicht aus, auf die aktuelle Lage in Großbritannien zu verweisen, um zu zeigen, dass diese Äußerung stimmt.
Unsere Epoche – die Epoche des Imperialismus – zeichnet sich vor allem durch die Dominanz des Finanzkapitals aus. Jede Regierung, sobald sie ins Amt tritt, wird darüber informiert, dass ihr Finanzminister „marktkonform“ zu sein hat.
Die kurze Amtszeit von Truss’ Regierung in Großbritannien zeigte den wahren Charakter der formalen bürgerlichen Demokratie in der gegenwärtigen Epoche. Im Falle Großbritanniens durfte der Markt sowohl den Finanz- als auch den Premierminister bestimmen. So blieb den Menschen in Großbritannien die schmerzhafte Pflicht erspart, überhaupt jemanden zu wählen.
Hinter der schönen Fassade des Liberalismus liegen die eiserne Hand des Monopolkapitalismus und die Diktatur der Bänker. Sie kommt immer dann zum Einsatz, wenn eine Regierung in die Knie gezwungen werden muss, die sich nicht an die Befehle des Kapitals hält.
Offensichtlich gilt das für linke Regierung, wie am Beispiel Griechenland zu sehen war. Aber es kann auch für die Rechten gelten, wie Truss erfahren musste. Eine Regierung, die Maßnahmen umgesetzt hatte, die der Bourgeoisie nicht gefallen, wurde ohne mit der Wimper zu zucken entfernt.
Das beweist, wer wirklich die Zügel in den Händen hält. Der Markt regiert. Der Rest ist nur Täuschung und Klamauk. Das ist völlig natürlich. Selbst unter den günstigsten Umständen war die bürgerliche Demokratie ein zerbrechliches Pflänzchen.
Sie konnte nur dort existieren, wo die herrschende Klasse gewisse Zugeständnisse an die Arbeiterklasse machen konnte, die bis zu einem bestimmten Punkt und nur für begrenzte Zeit die Bedingungen der Massen erleichtern konnte. So wurde der Klassenkampf entschärft und in gewissen Grenzen gehalten.
Alle mussten sich an die „Spielregeln“ halten, und die existierenden Institutionen (das Parlament, die Politiker, die Parteien, der Staat, die Polizei, die Justiz, die „freie Presse“ usw.) genossen eine gewisse Autorität und Respekt.
In den entwickelten kapitalistischen Ländern Europas und Nordamerika war dieses Modell für eine lange Zeit im Großen und Ganzen erfolgreich. Aber nun haben sich die Umstände geändert und das gesamte Gebäude der formalen bürgerlichen Demokratie wird unter Druck gesetzt, bis es zerbricht.
Überall sieht man deutliche Anzeichen einer Verschärfung der Klassengegensätze, die das Gerüst der Gesellschaft angreifen. Die Zentrifugalkräfte manifestieren sich auf der politischen Ebene im Zusammenbruch der politischen Mitte. Das ist der deutlichste Ausdruck der gesellschaftlichen Polarisation.
Ganz Lateinamerika gleicht einem Vulkan, der darauf wartet, auszubrechen. Dort leiden die Volkswirtschaften unter der Aufwertung des Dollars, die die Kosten für ihre bestehenden Schulden in die Höhe treibt und weitere Finanzierungen erschwert.
Das kann zu einer verallgemeinerten Schuldenkrise wie in den 1980er Jahren führen. Die wohl anfälligste Wirtschaft Lateinamerikas ist Argentinien. Doch auch mehrere Länder stehen vor der Zahlungsunfähigkeit.
Lateinamerika war die Region, die weltweit am härtesten von den sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie getroffen wurde. Diese schlug nach einer Periode der wirtschaftlichen Stagnation ein. Vor der Pandemie gab es in mehreren Ländern eine Welle von Massenbewegungen, die zum Teil den Charakter eines Aufstandes annahmen, so etwa in Ecuador und Chile im Oktober und November 2019.
Die Lockdowns haben die Bewegungen zum Teil unterbrochen, doch die grundlegenden Prozesse setzen sich wieder durch. Es gab eine historische Bewegung in Form eines landesweiten Streiks in Kolumbien 2021 und dann einen weiteren landesweiten Streik in Ecuador 2022.
Die Massen gingen in Haiti und anderen Ländern wieder in großer Anzahl auf die Straße. Die Arbeiterklasse hat in Chile, Ecuador und Kolumbien nur wegen dem Fehlen einer revolutionären Führung nicht die Macht übernehmen können.
In der vorherigen Periode, während des Rohstoffbooms, waren Evo Morales, Correa, Nestor Kirchner und sogar Chavez bis zu einem gewissen Grad in der Lage, ihre Sozialpolitik umsetzen. Doch diese Periode endete 2014 mit dem Wirtschaftsabschwung in China.
Heute sind Regierungen mit einem ähnlichen politischen Programm stattdessen mit einer tiefen Wirtschaftskrise des Kapitalismus konfrontiert. Ihr Handlungsspielraum ist viel geringer. Das gilt auch für die Lula-Regierung in Brasilien.
Die Arbeitslosigkeit in Brasilien liegt offiziell bei etwa 11 Millionen, aber die tatsächliche Arbeitslosenzahl ist weitaus höher. Die neusten Statistiken zeigen, dass rund 30% der Bevölkerung in Armut lebt, ein Phänomen, das durch die Pandemie deutlich zugenommen hat. Und mit der zunehmenden Inflation – aktuell liegt sie bei rund acht Prozent – wird sich die Situation nur verschlimmern.
Die Gesellschaft ist extrem polarisiert mit wachsender Armut an einem Ende und mit der Konzentration von Reichtum in den Händen einer kleinen Minderheit von Superreichen am anderen Ende. Diese Polarisierung spiegelt sich auch in der politischen Situation wider. In den Wahlen 2022 stimmten die ärmsten Gemeinden im Norden und Nordosten größtenteils für Lula. Bolsonaro konnte sich dagegen im reicheren Gebiet im Zentrum und im Süden des Landes durchsetzen.
Jedoch gelang es Bolsonaro aufgrund Lulas Politik der Klassenzusammenarbeit und seines Rechtsrucks während des Wahlkampfes, einen bedeutenden Teil der Arbeiterklasse für sich zu gewinnen.
Dem Sieg von Bolsonaro 2018 wurde bereits durch die Einsparungspolitik Dilmas der Weg geebnet. Er konnte sich so demagogisch als der Kandidat des „Volkes“ darstellen konnte. Dieser Faktor spielte auch in den Wahlen 2022 eine Rolle und erklärt auch, warum Bolsonaro viel besser abschnitt, als es die Meinungsforscher ursprünglich vorausgesagt hatten.
Lulas Kampagne fehlte jeglicher Inhalt, der die Arbeiter und Armen auf einer Klassenbasis hätte ansprechen können.
Die Arbeiter nutzten die Wahlen, um den verhassten Bolsonaro loszuwerden. Aber ihre Hoffnungen werden sich in Luft auflösen durch die harte Realität der Krise des Kapitalismus in Brasilien. Sobald sie die Erfahrung machen, was die Präsidentschaft Lulas inmitten einer tiefen Krise des Kapitalismus bedeutet, werden sie beginnen, Schlüsse zu ziehen: Dass sie die Sache in die eigene Hand nehmen müssen, durch Streiks, Straßenproteste und Bewegungen der Jugend. So haben wir es in vielen anderen Ländern bereits erlebt.
Die Beschränkungen von „linken“ und „progressiven“ Regierungen wurden in der Periode einer schweren, wirtschaftlichen Krise des Kapitalismus schonungslos offengelegt. Die zeigte sich bei der Regierung von Fernandez und Kirchner in Argentinien, die ein Abkommen mit dem IWF geschlossen haben, das schwerwiegende Einsparungsmaßnahmen umfasst.
In Chile hat Boric die Militarisierung der Mapuche-Gebiete weitergeführt und eine Politik der Kürzungen umgesetzt, um das Haushaltsdefizit zu verringern. In Mexiko hat Lopez Obrador alle möglichen Abkommen mit den USA zur Migration geschlossen, die Armee auf die Straßen geschickt, um für Sicherheit zu sorgen, usw.
In Peru machte Castillo der herrschenden Klasse und den multinationalen Konzernen ein Zugeständnis nach dem anderen. So hat er nur seine eigene Unterstützerbasis untergraben, ohne die herrschende Klasse zu besänftigen, die ihn nun abgesetzt hat.
All diese Regierungen haben einen gemeinsamen Leitgedanken, den „Anti-Neoliberalismus“. Dabei handelt es sich um die utopische Ansicht, dass man innerhalb der Grenzen des Kapitalismus im Sinne der Arbeiter und Bauern regieren könnte. Aber „Neoliberalismus“ ist keine bewusste politische Entscheidung, sondern lediglich Ausdruck der Sackgasse des heutigen Kapitalismus weltweit.
Es ist unmöglich, neue politische Maßnahmen einzuführen, ohne die Vorherrschaft der herrschenden Klasse und des Imperialismus herauszufordern. Das ist die fatale Schwäche all dieser sogenannten progressiven Regierungen. Das ist der zentrale Widerspruch, der die Grundlage für neue massenhafte soziale Explosionen in Lateinamerika legt. Revolutionäre Erhebungen sind an der Tagesordnung.
Kuba ist mit der schwierigsten Situation seit der Revolution 1959 konfrontiert. Auf wirtschaftlicher Ebene sehen wir die kombinierten Auswirkungen von Trumps erdrückender US-Sanktionen, der Folgen von Covid auf den Tourismus und hoher Energiekosten. Dazu kommen die seit Jahrzehnten anhaltende US-Blockade sowie die Misswirtschaft und Ineffizienz der bürokratischen Verwaltung.
Die Situation wird durch die pro-kapitalistischen Maßnahmen der Bürokratie, die sich auf der Suche nach einem Ausweg aus der Sackgasse an China und dem Vietnam orientiert, noch verschlimmert.
Das ist der Hintergrund, vor dem sich Proteste gegen die Regierung entwickeln konnten, wie sie seit 1994 nicht mehr aufgetreten sind. Jetzt ist die Situation noch schlimmer: Nach 10 Jahren Diskussionen über wirtschaftliche Reformen hat sich die Lage nicht verbessert, sondern verschlechtert.
Ein Teil der Bevölkerung hat alle Hoffnung verloren, Zehntausende emigrieren und andere haben keinerlei Vertrauen mehr in die Regierung und die Bürokratie. Daher gab es die größten Proteste seit 1994. Es ist aber notwendig, den sozialen Inhalt dieser Demonstrationen zu analysieren.
Durch das Fehlen einer revolutionären Führung kann die nachvollziehbare Unzufriedenheit fruchtbaren Boden für massenhafte Unterstützung der kapitalistischen Konterrevolution darstellen.
Andererseits existiert eine beachtliche Schicht der Bevölkerung, die die Revolution unterstützt sowie den Imperialismus und die Konterrevolution ablehnt. Innerhalb dieser Schicht wächst auch die Kritik an der Bürokratie.
Unsere Aufgabe ist es, dem fortschrittlichsten Teil von ihnen geduldig zu erklären, dass der einzige Weg nach vorne die Verteidigung der Revolution, der Kampf für Arbeiterdemokratie und der proletarische Internationalismus ist.
Weite Teile Afrika erleben derzeit eine Periode extremer Turbulenzen und Instabilität. Rund 278 Millionen Menschen – etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung – litten 2021 Hunger. Das ist laut den Angaben der UN ein Anstieg von 50 Millionen Menschen seit 2019. Basierend auf den aktuellen Trends wird die Zahl bis 2030 auf 310 Millionen Hungernde steigen.
Das ist die Grundlage für die allgemeine soziale und politische Instabilität, die sich über den gesamten Kontinent ausgebreitet hat. Es gab Massenbewegungen, Putsche, Kriege und Bürgerkriege in Mali, Niger, Burkina Faso, Chad, Sudan, Äthiopien, Guinea-Bissau, Guinea und der gesamten Sahelzone.
Diese Konflikte waren eine der treibenden Kräfte für den Höchststand von 100 Millionen Menschen, die 2022 ihre Heimat verlassen mussten. Konflikte in der Ukraine, Myanmar, dem Jemen und Syrien haben ebenfalls dazu beigetragen. Das Problem der erzwungenen Migration ist jedoch besonders akut in Subsahara-Afrika aufgrund der Umweltkrise. Laut einer aktuellen Studie liegen zwei Drittel der 27 Länder, denen „katastrophale ökologische Bedrohungen“ bevorstehen, in dieser Region. Mit einer Ausnahme leiden alle 52 Länder in Subsahara-Afrika unter „extremer Wasserknappheit“. Der kombinierte Druck aus Umweltkrise, Konflikten und erzwungener Migration werden einen zunehmend destabilisierenden Effekt auf den Kontinent und über ihn hinaus haben.
Nigeria, die größte Volkswirtschaft des Kontinents, ist von dieser Instabilität keinesfalls verschont geblieben. Trotz des enormen Öl- und Mineralvorkommens des Landes leben dort 70 Millionen Menschen in extremer Armut.
Die korrupte und degenerierte herrschende Elite ist komplett unfähig, auch nur eines der Probleme des nigerianischen Kapitalismus zu lösen. Die zwei großen Parteien des Landes, die regierende All Progressive Congress Partei und die stärkste Oppositionspartei, die PDP, sind in breiten Teilen der Gesellschaft völlig diskreditiert.
2020 wurde das Land von der Bewegung „ENDSARS“ erschüttert. Diese herausragende Bewegung, die hauptsächlich von der Jugend angeführt wurde, begann als Reaktion auf die Ermordung eines jungen Mannes in Ughelli durch das State Special Amti-Robbery Squad (SARS) der Polizei.
Die Bewegung verbreitete sich wie ein Lauffeuer und erfasste nahezu jeden Bundesstaat im Süden des Landes. Die Bewegung drückte die angestaute Wut, die Frustration und Unzufriedenheit der nigerianischen Jugend aus, die am heftigsten von der Krise des Kapitalismus betroffen ist.
Doch während die Bewegung schließlich abebbte, wurde keines der ihr zugrundeliegenden Probleme gelöst. Durch die weltweite Wirtschaftskrise, die steigende Inflation und Millionen Menschen, die in die Armut abrutschen werden, wird eine neue Runde des Klassenkampfes auf einer noch höheren Ebene vorbereitet.
Südafrika ist das wichtigste Land auf dem afrikanischen Kontinent. Es hat eine relativ gut entwickelte Wirtschaft und eine ausgebaute Infrastruktur. Das Land ist eines der größten Exporteure von Mineralien weltweit. Es hat außerdem etablierte Produktions-, Finanz-, Energie- und Kommunikationssektoren. Aus einer marxistischen Perspektive besitzt Südafrika aber vor allem ein zahlreiches und mächtiges Proletariat, das über eine großartige Tradition des Klassenkampfs verfügt.
Alle Elemente, die für die Schaffung einer wohlhabenden Nation benötigt werden, sind vorhanden. Trotzdem leben die meisten Menschen in prekären Bedingungen. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit liegt bei 10,2 Millionen Menschen und die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut.
Für Jahrzehnte garantierte die ANC die Stabilität des südafrikanischen Kapitalismus. Aber jahrelange Korruptionsskandale und Angriffe auf die Arbeiterklasse haben seine Autorität untergraben und ihn in seine bisher tiefste Krise gestürzt.
Während die Unterstützung für die Partei immer weiter abnimmt, befindet sich der ANC intern in einem nicht enden wollenden Zermürbungskrieg zwischen verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie. Diese spalten die Partei und entfernen sie immer weiter von den Massen, die den ANC einst als ihren Vertreter sahen.
Die konkrete Entwicklung des Klassenkampfes und der politischen Kräfte in Südafrika führten historisch dazu, dass die herrschende Klasse keine zweite Partei hat, auf die sie sich stützten kann.
Die wirtschaftlichen Bedingungen ebnen den Weg für weitere Explosionen des Klassenkampfes. Währenddessen wird es der herrschenden Klasse schwerer fallen, die Bewegungen durch die politische Autorität der ANC-Führung zurückzuhalten.
Pakistan befindet sich in einer akuten Finanzkrise und läuft Gefahr, seine Schulden von 130 Milliarden US-Dollar nicht zurückzahlen zu können. Die Währungsreserven sind so niedrig wie nie zuvor. Die Inflation bewegt sich auf dem höchsten Niveau seit der Unabhängigkeit. Bei Essen und Treibstoff liegt die Teuerungsrate bei 45%.
Dazu kommen die Auswirkungen der katastrophalsten Flut in der Geschichte des Landes. Millionen Menschen leben in Hunger, haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, sind obdachlos und leiden unter bitterer Armut.
Ministerpräsident Sharif hat sich an den IWF gewandt, um Rettungspakete zu erbitten. Doch der durch die Fluten verursachte Schaden ist zu schwer, als dass die Darlehens des IWF das Loch in Pakistans Staatskasse stopfen könnten.
Das Regime ist unterdessen gespalten und befindet sich in einer Krise. Rivalisierende Fraktionen bekämpfen sich gegenseitig, während die tatsächliche Macht fest in den Händen der Generäle liegt.
Die aktuelle Regierung von Shahbat Sharif ist vor allem damit beschäftigt, die Partei von Imran Khan aus den Provinzversammlungen zu drängen und ihre eigen Macht zu stärken.
Khans verzweifelter Versuch, seine Machtposition wieder zu erlangen, wurde vom Militär blockiert. Letzteres wollte ihn durch einen (misslungenen) Anschlag loswerden.
Dies hat in der Bevölkerung zu einem weit verbreiteten Misstrauen gegenüber allen Parteien, die die Menschen korrekterweise als Verbrecher sehen, geführt. All diese Faktoren legen nahe, dass ein Ausbruch von Massenprotesten wie in Sri Lanka 2022 keineswegs auszuschließen ist.
Khan höchstpersönlich kommentierte die aktuelle katastrophale Situation so: „Seit sechs Monaten beobachte ich, wie das Land von einer Revolution erfasst wird… [Die] einzige Frage ist nur, ob es eine sanfte Revolution durch die Wahlurne oder eine zerstörerische Revolution durch Blutvergießen wird.“
Seine Worte könnten sich als wahrer herausstellen, als ihm selbst bewusst ist.
Wenn die meisten Menschen die gegenwärtige Situation betrachten, kommen sie zu dem Schluss, dass die Welt verrückt geworden ist. Die Massen spüren in ihrem Herzen und ihrer Seele, dass etwas falsch läuft, dass etwas nicht funktioniert, dass „die Zeit aus den Fugen [geraten] ist“, um Shakespeares Hamlet zu zitieren. Aber sie wissen nicht, was genau vor sich geht.
Was wir damit meinen, ist, dass sie keine rationale Erklärung für die Geschehnisse haben. In gewisser Weise liegen sie nicht falsch, wenn sie alles auf eine Art kollektiven Wahnsinn zurückführen. Aber es ist ein Wahnsinn, der in die DNA des Kapitalismus eingebaut ist. Wie Hegel sagt, wird aus Vernunft Unvernunft.
Aber in einem anderen, tieferen Sinn liegen sie falsch. Sie glauben, dass das, was gerade passiert, nicht erklärt werden kann, und sie verzweifeln.
Aber wie das Universum im Allgemeinen, haben alle Prozesse, die wir beobachten, eine rationale Erklärung. Sie können verstanden werden. Um so ein Verständnis zu erreichen, braucht es die angemessene Methode. Und das kann nur die Methode des dialektischen Denkens sein: die Methode des Marxismus.
Was hier beschrieben wurde, sind lediglich die äußeren Erscheinungsformen einer existenziellen Krise des Kapitalismus.
Das kapitalistische System ist nicht mehr in der Lage, alle Produktivkräfte – einschließlich der Arbeitskraft der Lohnabhängigen – zu nutzen. Das ist ein Anzeichen dafür, dass das kapitalistische System seine Grenzen erreicht hat.
Das bedeutet nicht, dass der Kapitalismus kurz vor dem Zusammenbruch steht. Wie Lenin erklärt hat, finden die Kapitalisten selbst aus der tiefsten Krise immer einen Ausweg. Die Frage ist: Welcher Preis hat das für die Menschheit und insbesondere für die Arbeiterklasse?
In einer tiefen Rezession würde die Arbeitslosigkeit historische Ausmaße annehmen. Dies hätte tiefgreifende revolutionäre Auswirkungen. Die Strategen des Kapitals haben das bereits verstanden.
Im vergangenen September warnte der UN-Generalsekretär Antonio Guterres die Herrschenden weltweit vor einem drohenden „Winter der Unzufriedenheit“, der auf eine Situation von mehreren Krisen trifft, vom Ukrainekrieg bis zur Klima-Erwärmung.
„Das Vertrauen bröckelt, die Ungleichheit explodiert, unser Planet brennt“, sagte Guterres bei der Eröffnung der jährlichen UN-Generalversammlung. Dabei handelt es sich um eine angemessene Einschätzung der globalen Situation. Aber mit seinen düsteren Perspektiven war er nicht allein. Die Risikoberatung Verisk Maplecroft schrieb am 2. September in einen Bericht:
„Die Welt steht vor einem nie dagewesenen Anstieg der zivilen Unruhen, während Regierungen aller Art mit den Auswirkungen der Inflation auf die Preise der Grundnahrungsmittel und Energie ringen.“
„Für Regierungen, die sich nicht aus der Krise freikaufen können, wird Repression wohl die hauptsächliche Reaktion auf regierungskritische Proteste sein“, heißt es in dem Bericht.
„Die Unterdrückung birgt allerdings auch Risiken. Sie lässt der verärgerten Bevölkerung in einer Zeit wachsender Frustration über den Status quo weniger Mittel um ihren Unmut zu kanalisieren. In Ländern mit weniger effektiven Mechanismen, wie etwa freie Medien, funktionierende Gewerkschaften und unabhängige Gerichte, um die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu kanalisieren, wird die Bevölkerung eher auf die Straße gehen.“
Objektiv gesehen kann es sich das kapitalistische System nicht mehr leisten, die Reformen zu garantieren, die von der Arbeiterklasse in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg errungen wurden.
Die Bourgeoisie steht nun vor einem unüberwindbaren Problem: Wie kann man die Arbeiterklasse dazu bringen, die Zerstörung dieser Errungenschaften zu akzeptieren? Das erweist sich als so schwierig, dass die herrschende Klasse gezwungen ist, ein unhaltbares System aufrechtzuerhalten.
Aber ist es richtig zu sagen, wie es einige tun, dass Reformen jetzt unmöglich sind? Nein. Das ist falsch. Wenn der herrschenden Klasse alles zu verlieren droht, wird sie schnell Reformen umsetzen – auch solche, die sie sich „nicht leisten kann“.
In der Nachkriegszeit konnte es sich die Bourgeoisie in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern leisten, Zugeständnisse zu machen, weil sie eine Schicht von Fettreserven angelegt hatte. Auf diese Reserven konnte in Krisenzeiten zurückgegriffen werden, wenn ihr System in Gefahr war, zusammenzubrechen.
Und selbst wenn sich das als unzureichend erweisen sollte, konnten sie Kredite aufnehmen und massive Schulden machen, die sie dann an künftige Generationen weitergeben konnten, welche sie dann bezahlen werden müssen. Und genau das haben sie während der Pandemie getan, weil sie Angst vor den möglichen sozialen und politischen Folgen eines allgemeinen wirtschaftlichen Zusammenbruchs hatten.
Also griffen sie auf die Methoden des Keynesianismus zurück, der die Ökonomen zuvor auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen hatten. Während der Pandemie gaben sie Unsummen von Geld aus. Aber sie blieben auf riesigen Schulden sitzen, die früher oder später beglichen werden müssen. Das ist nach wie vor der Fall.
Was man sagen kann, ist, dass die Bourgeoisie es sich nicht leisten kann, sinnvolle und dauerhafte Reformen durchzuführen. Was sie mit der einen Hand gibt, nimmt sie mit der anderen wieder zurück. Die Inflation macht jede Lohnerhöhung im Handumdrehen wieder zunichte. Und durch die Anhäufung von Schulden werden nur noch größere Widersprüche für die Zukunft angehäuft.
Die Inflation wird zu einer Welle von Streiks und einer Verschärfung der Kämpfe an der ökonomischen Front führen.
Ein tiefer Wirtschaftseinbruch würde dagegen zu einem Rückgang der Streikaktivitäten führen, aber die drohende Fabrikschließungen können zu Betriebsbesetzungen und Sitzblockaden führen, und es würde einen Wendung hin zur politischen Front geben.
Es ist nicht auszuschließen, dass die Bourgeoisie angesichts des Widerstands der Massen gegen die Sparmaßnahmen am Ende gezwungen sein wird, sich zurückzuziehen und stattdessen Angriffe indirekter Art wählen wird.
Sowohl Inflation als auch Deflation stellen Angriffe auf die Arbeiterklasse dar. Der Unterschied besteht darin, dass die Inflation ein indirekter Angriff ist, während die Deflation (Arbeitslosigkeit) ein direkter Angriff ist. Vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus gesehen, ist es eine Wahl zwischen einem langsamen Tod durch Feuer oder einem schnellen Tod durch Erhängen. Beides ist untragbar. Und beides wird zu einer Explosion des Klassenkampfes führen.
In einem kürzlich erschienenen Bericht prognostizierte die Weltbank, dass ohne einen großen Aufschwung der Weltwirtschaft schätzungsweise 574 Millionen Menschen, d. h. etwa 7 % der Weltbevölkerung, im Jahr 2030 immer noch mit nur 2,15 Dollar pro Tag auskommen müssten, vor allem in Afrika.
Im Gegensatz dazu werden die Reichen in beispiellosem Ausmaß noch reicher. In einem kürzlich erschienenen Artikel von Bloomberg wurde über die Zukunftsperspektive eines neuen Phänomens, des „Billionen-Dollar-Treuhandfonds-Babys“, geschrieben, das im nächsten Jahrzehnt auftauchen wird. Dabei handelt es sich um Kinder von Superreichen, die von Geburt an reicher sein werden als manche kleinen Länder.
„Wie kann man von Chancengleichheit sprechen“, heißt es in dem Artikel, „wenn einige Leute ein Vermögen erben, das die Ausstattung ganzer Universitäten übersteigt? Und wie kann man die Arbeitsethik loben, wenn wir eine immer größer werdende Klasse haben, die permanent nur der Muße nachgeht?“
Das ist die Realität, die schon Marx im Kapital beschrieben hat: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.“
Die von Shell und anderen großen Energiekonzernen angekündigten obszönen Superprofite, gerade zu einer Zeit, in der Millionen von Menschen ums Überleben kämpfen, rufen Gefühle tiefer und dauerhafter Ungerechtigkeit und Verbitterung hervor.
Diese eklatanten Widersprüche werden von den Massen zur erkannt und schüren das brennende Feuer des Unmuts und des Hasses auf die reichen Schmarotzer, was wiederum den Klassenkampf anheizen wird. Die ganze Situation hat revolutionäre Implikationen zur Folge. Dafür gibt es bereits deutliche Anzeichen.
Wenn man wissen will, wie eine Revolution aussieht, dann muss man sich den spontanen Volksaufstand in Sri Lanka anschauen. Hier sahen wir die gewaltige potenzielle Kraft der Massen. Und sie schlug ohne jede Vorwarnung, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, ein.
Wenn irgendjemand Zweifel daran hatte, dass die Massen eine Revolution machen können, so war dies ein schlagender Gegenbeweis. Die Ereignisse in Sri Lanka haben gezeigt, dass, wenn die Massen ihre Angst verlieren, keine noch so starke Form der Unterdrückung sie aufhalten kann.
Ohne Führung, ohne Organisation und ohne klares Programm gingen die Massen auf die Straße und stürzten die Regierung mit derselben Leichtigkeit mit der jemand eine Mücke zertritt. Doch das Beispiel Sri Lankas zeigt uns auch noch etwas anderes.
Die Macht lag auf der Straße und wartete darauf, dass sie jemand ergreift. Es hätte gereicht, wenn die Anführer der Proteste gesagt hätten: „Wir haben jetzt die Macht. Wir sind die Regierung.“
Aber diese Worte wurden nie ausgesprochen. Die Massen verließen schweigend den Präsidentenpalast, und die alte Herrschaft konnte sich wieder festigen. Die Früchte des Sieges wurden an die alten Unterdrücker und die parlamentarischen Scharlatane zurückgegeben.
Die Macht lag in den Händen der Massen, aber sie glitt ihr durch die Finger. Das ist eine unangenehme Wahrheit, aber es ist die Wahrheit.
Die Schlussfolgerung ist unausweichlich. Ohne die richtige Führung kann die Revolution nur sehr schwer und in den meisten Fällen überhaupt nicht gewinnen.
Eine weitere eindrucksvolle Bestätigung dafür lieferte der inspirierende revolutionäre Aufstand im Iran. Er folgte auf den Tod von Masha Amini, einer 22-jährigen Kurdin, die von der verhassten Sittenpolizei verhaftet wurde, weil sie angeblich „den Hidschab nicht korrekt trug“. Sie starb in Polizeigewahrsam.
Aber das war kein Einzelfall. Es gab viele derartige Todesfälle im Iran. In diesem Fall wurde jedoch ein kritischer Punkt erreicht, an dem die Quantität in Qualität umschlug.
Die darauf folgende Explosion breitete sich sofort auf alle größeren Städte aus und erreichte sogar Kleinstädte und Dörfer, in denen es nie zuvor Demonstrationen gegeben hatte. Bei den Demonstranten handelte es sich überwiegend um Jugendliche, darunter viele Mädchen. Sie kamen nicht nur von den Universitäten, sondern auch von den Schulen.
Die Sicherheitskräfte reagierten mit brutaler Repression, die mit dem Anwachsen der Bewegung immer härter wurde. Bei den zahlreichen gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Jugendlichen und den Repressionskräften wurden Hunderte getötet und Tausende verhaftet.
Als Reaktion darauf weiteten sich die Studentenstreiks auf über hundert Universitäten und viele Schulen aus. Der auffälligste Charakterzug dieser Proteste war die völlige Furchtlosigkeit der Jugendlichen, insbesondere der sehr jungen Mädchen.
Schulmädchen im Iran begannen ihre Kopftücher in der Luft zu schwenken und Sprüche gegen die klerikalen Behörden zu skandieren. Was für eine Inspiration war das! Ihre Gesänge hatten häufig einen offen revolutionären Inhalt, sie forderten den Sturz des Regimes und „Tod dem Obersten Führer!“.
Die brutale Reaktion des Regimes hat nicht nur die Jugend radikalisiert, sondern auch die Arbeiterorganisationen, von denen viele in den Streik traten. Dazu gehören u.a. LKW-Fahrer, der Rat zur Organisierung der Proteste der Leiharbeiter im Öl-Sektor, die Arbeiter von Haft Tappeh, die Arbeiter der Teheraner Busgesellschaft und der Koordinationsrat der Iranischen Lehrerverbände.
Im ganzen Land wurden revolutionäre Jugendkomitees gebildet und zum Generalstreik aufgerufen, der von den oben genannten Organisationen und den meisten unabhängigen Gewerkschaften unterstützt wurde. Es gab eine Reihe von Streikwellen der kleinen Ladenbesitzer, der Bazaaris, die in der Vergangenheit eine der solidesten Stützen des Regimes waren. Aber die Industriearbeiter haben sich noch nicht auf entscheidende Art und Weise der Bewegung angeschlossen, und das ist die Achillesferse der Bewegung.
All dies ähnelt sehr den Bewegungen, die vor der revolutionären Umwälzung von 1979 stattfanden. Es ist allerdings noch unklar, ob die gegenwärtige Bewegung eine höhere Stufe erreichen wird.
Die Arbeiter zeigen große Sympathie und Unterstützung für die Rebellion der Jugend, aber wenn der Aufstand auf die Jugend beschränkt bleibt, kann er keinen Erfolg haben.
Eine derartige Bewegung kann nicht lange Zeit in diesem Zustand verharren, ohne einen kritischen Punkt zu erreichen, an dem es ihr entweder gelingt, das Regime zu stürzen, oder sie eine Niederlage erleiden wird. Wie in Sri Lanka ist die entscheidende Frage der subjektive Faktor: die revolutionäre Führung.
Die Verschärfung des Klassenkampfes folgt aus dieser Analyse so unvermeidlich, wie die Nacht auf den Tag folgt. Aber der Ausgang des Klassenkampfes lässt sich nie im Voraus bestimmen, weil es sich um einen Kampf lebendiger Kräfte handelt.
Wie wir bereits erklärt haben, gibt es viele Analogien zwischen dem Krieg der Klassen und dem Krieg zwischen Nationen. In beiden Fällen gibt es objektive und subjektive Faktoren. Und der subjektive Faktor spielt oft eine entscheidende Rolle.
Wir sprechen von Dingen wie der Moral und dem Kampfgeist der Truppen und vor allem von der Qualität der Führung. Die gegenwärtige Periode zeichnet sich durch verschärfte Klassenkämpfe und Massenaufstände aus. Was aber fehlt, ist eine revolutionäre Führung.
Der subjektive Faktor ist in Revolutionen genauso wichtig wie in jedem Krieg. Die Geschichte der Kriege kennt viele Beispiele von großen, entschlossenen und mutigen Truppen, die von feigen und inkompetenten Offizieren in eine Niederlage geführt wurden, während die viel kleineren gegnerischen Truppen aus disziplinierten und gut ausgebildeten Berufssoldaten bestanden und von kühnen und effektiven Offizieren geführt wurden?
Es ist dieser Faktor, der derzeit nicht existiert bzw. viel zu klein ist. Die Kräfte des genuinen Marxismus wurden für Jahrzehnte zurückgeworfen, aus historischen Gründen, die wir hier nicht zu erläutern brauchen. Und die Degeneration der reformistischen und ehemaligen stalinistischen Arbeiterführer hat einen Tiefpunkt erreicht, der in der Vergangenheit undenkbar gewesen wäre.
Obwohl wir also mit absoluter Sicherheit vorhersagen können, dass sich die Arbeiterklasse in einem Land nach dem anderen erheben wird, können wir bezüglich des Ausgangs dieser Kämpfe nicht das gleiche Maß an Zuversicht an den Tag legen.
Führen wir uns einige Beispiele vor Augen, angefangen bei Sanders in den USA und Corbyn in Großbritannien. Sie hatten sehr konfuse Ideen und hatten offensichtlich viele Beschränkungen. Das war den Marxisten von Anfang an klar. Doch was von uns erkannt wird, ist für die Massen nicht unbedingt klar.
Dennoch sind beide Persönlichkeiten von unserem Standpunkt aus gesehen charakteristisch für die aktuelle Epoche. Sie förderten etwas sehr Wichtiges zutage. Beide wirkten wie ein Katalysator, der eine tiefe Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment und der bestehenden Gesellschaft an die Oberfläche brachte. Diese Unzufriedenheit existierte schon zuvor unter den Massen, jedoch blieb diese im Hintergrund, da ihnen ein Bezugspunkt fehlte.
Die radikal klingenden Reden von Sanders und Corbyn wirkten wie ein starker Magnet, der es dem uneinheitlichen, embryonalen, revolutionären Gespür der Massen ermöglichte, sich auf organisierte Weise auszudrücken. Das ist eine sehr wichtige Tatsache, die große Bedeutung für die Zukunft hat.
Die allgemeine Infragestellung des kapitalistischen Systems kam an die Oberfläche, und das Wort Sozialismus wurde wieder auf die Tagesordnung gesetzt, was sehr gut war. Letztlich waren dies aber nur Zufallsfiguren, die an ihre eigenen Beschränkungen stießen und daran zu Grunde gingen. Infolgedessen sind die Massenbewegungen, die um sie herum entstanden sind, heute nicht mehr existent.
Man könnte dasselbe über Hugo Chavez sagen, obwohl er weiter gegangen ist als sie und viel mehr erreicht hat. Ob er sich politisch weiterentwickelt hätte, wenn er nicht zu früh gestorben wäre, ist eine Frage, die nie beantwortet werden kann. Aber auch in seinem Fall hat der Mangel an politischer Klarheit eine fatale Rolle gespielt, wie die Entwicklung in Venezuela deutlich gezeigt hat.
Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland sind noch deutlichere Beispiele für die verhängnisvolle Rolle der sogenannten Linken in der Politik. Je näher diese Führer an die Macht kommen, desto ängstlicher, feiger und verräterischer werden sie.
Ihre radikale Rhetorik dient lediglich als Deckmantel für die Tatsache, dass sie die Existenz des kapitalistischen Systems nie wirklich in Frage stellen. Daher sind die Linken, wenn sie in die Regierung kommen, gezwungen, auf der Grundlage der kapitalistischen Gesetze zu handeln.
Das unvermeidliche Ergebnis ist Verrat und die Demoralisierung ihrer Basis. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand. Mit der derzeitigen Führung wird es eine Niederlage nach der anderen geben.
Aber das ist nur die eine Seite des Prozesses. Allmählich, beginnend mit den fortgeschrittensten Schichten, insbesondere der Jugend, werden die Arbeiter aus ihren Niederlagen lernen. Sie werden beginnen, die wahre Rolle des linken Reformismus zu verstehen und danach streben, ihn zu überwinden.
In vielen Ländern sehen wir das spontane Phänomen von Gruppen von Jugendlichen, die sich als Kommunisten bezeichnen. Dies ist eine bedeutende Entwicklung, die wir aufmerksam verfolgen müssen.
Die ökonomischen Bedingungen der kommenden Periode werden den 1930er Jahre weitaus ähnlicher sein als denen, die auf den Zweiten Weltkrieg folgten. Aber es gibt auch wichtige Unterschiede, vor allem weil sich die gesellschaftlichen Verhältnisse geändert haben.
Die sozialen Reserven der Reaktion sind viel schwächer als damals, und das spezifische Gewicht der Arbeiterklasse ist viel größer. Die Bauernschaft ist in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern weitgehend verschwunden, während weite Schichten der ehemaligen Mittelschicht (Fachkräfte, Angestellte, Lehrer, Universitätsprofessoren, Beamte, Ärzte und Krankenschwestern) sich dem Proletariat angenähert haben und gewerkschaftlich organisiert sind.
Die Studenten, die in der Vergangenheit die Stoßtrupps des Faschismus darstellten, haben sich stark nach links entwickelt und sind offen für revolutionäre Ideen. Vor allem hat die Arbeiterklasse in den meisten Ländern seit Jahrzehnten keine schweren Niederlagen mehr erlitten. Ihre Kräfte sind weitgehend intakt.
Außerdem hat sich die herrschende Klasse in der Vergangenheit mit dem Faschismus die Finger verbrannt und wird diesen Weg wohl nicht so leicht wieder einschlagen. Was wir sehen, ist eine zunehmende politische Polarisierung – nach rechts, aber auch nach links. Es gibt viele rechte Demagogen, und einige werden sogar an die Macht gewählt. Das ist jedoch nicht dasselbe wie ein faschistisches Regime, das sich auf die Massenmobilisierung des wütenden Kleinbürgertums stützt und als Rammbock zur Zerstörung der Arbeiterorganisationen eingesetzt wird.
Das bedeutet, dass die herrschende Klasse auf ernsthafte Schwierigkeiten stoßen wird, wenn sie versucht, die Uhr zurückzudrehen und die Errungenschaften der Vergangenheit zu beseitigen. Die Tiefe der Krise bedeutet, dass sie versuchen müssen zu kürzen und die Arbeiterklasse bis aufs letzte Hemd auszuplündern. Aber das wird in einem Land nach dem Anderen zu Explosionen führen.
Aus diesem Chaos erwächst ein neues Bewusstsein. Es gibt ein instinktives Gefühl bei den normalen Menschen, insbesondere bei Jugendlichen und Frauen, dass „mit dieser Gesellschaft etwas nicht stimmt“, dass „wir in einer ungerechten Welt leben“.
Bis zu einem gewissen Grad trifft das auf die Arbeiterklasse im Allgemeinen zu. Auf sie wurde ein gnadenloser Druck ausgeübt, um die Produktionsmenge zu steigern und die dafür benötigte Zeit zu verkürzen. Die Löhne sind stets hinter den Produktivitätssteigerungen zurückgeblieben. In den USA sind die Reallöhne bis vor kurzem, für eine Periode von etwa 40 Jahre, nicht gestiegen und mit der Rückkehr der ausufernden Inflation sind sie nun erneut rückläufig.
Am deutlichsten und am weitesten fortgeschritten ist die Bewusstseinsentwicklung jedoch bei den Jugendlichen und Frauen, die die Hauptlast der Krise des Kapitalismus zu tragen haben. Sie sind die am meisten ausgebeuteten und unterdrücktesten Schichten der Klasse.
In einem Land nach dem anderen gab es große Mobilisierungen von Frauen gegen das Abtreibungsverbot: von den USA bis zum katholischen Polen und Irland. Auch in Argentinien und Chile gab es Massenbewegungen für das Recht auf Abtreibung. In Mexiko, wo die unmenschliche und barbarische Behandlung von Frauen epidemische Ausmaße angenommen hat, gab es ebenfalls massive Bewegungen, um gegen Gewalt an Frauen zu protestieren. Dies war auch ein Faktor, der zur politischen Radikalisierung in Spanien geführt hat.
In diesem Kontext können die grundlegendsten, demokratischen Slogans schnell einen offen revolutionären Inhalt annehmen.
Ihren deutlichsten Ausdruck fand die Revolte der Frauen im Iran, wo sich die Bewegung einer Vielzahl junger Mädchen schnell von Protesten gegen das obligatorische Tragen des Hijab in die Forderung nach dem revolutionären Sturz eines ungeheuerlichen Unterdrückungsregimes verwandelte.
Das deutet auf den Beginn einer völlig neuen Entwicklung des Bewusstseins hin. Als Teil dessen gibt es in diesen Schichten eine tiefe Sensibilität gegenüber jedem Ausdruck von Ungerechtigkeit. Dies betrifft auch die Frage des Rassismus, wie die Black Lives Matter Erhebung gezeigt hat.
In allen Ländern steht die Jugend an der Spitze der Kämpfe. Das ist kein Zufall. Die Ereignisse haben gezeigt, dass immer mehr junge Menschen bereit sind, auf die Straße zu gehen, um gegen den Kapitalismus zu protestieren.
Es wäre ein großer Fehler, anzunehmen, dass der Großteil der Arbeiter die Dinge auf die gleiche Weise sieht wie wir. Den gesamten historischen Prozess zu verstehen, ist eine Sache; aber wie die Massen diesen Prozess sehen, ist eine ganz andere Sache.
Das Bewusstsein der Arbeiterklasse ist stark von den Veränderungen der objektiven Situation beeinflusst. Trotzki erklärte dies meisterhaft in einem wichtigen Artikel mit dem Titel „Die ‚dritte Periode‘ der Fehler der Komintern“.
Für einige Sektierer stellt sich die Frage des Bewusstseins schlichtweg nicht. Für sie ist die Arbeiterklasse immer bereit zur Revolte. Das ist für sie eine Konstante, die nichts mit der Veränderung der objektiven Bedingungen zu tun hat. Doch dem ist nicht so.
Trotzki übte scharfe Kritik an der Vorstellung der Stalinisten, die in der berüchtigten „Dritten Periode“ davon ausgingen, dass die Massen immer zum Aufstand bereit seien und nur die konservativen bürokratischen Apparate der Arbeiterbewegung sie daran hindern würden. Dieser Gedanke wird auch heute noch von einigen einfältigen Ultralinken wiederholt.
Trotzki spottet über diese Idee. Es lohnt sich, seine Worte ausführlich zu zitieren:
„In diesem Programm [der Komintern; Anm.] wird von der Radikalisierung der Massen wie von einem unaufhörlichen Prozess gesprochen. D.h.: Heute ist die Masse revolutionärer als gestern, und morgen wird sie revolutionärer sein als heute. Eine derartig mechanische Vorstellung entspricht nicht dem realen Prozess der Entwicklung des Proletariats und der kapitalistischen Gesellschaft im Ganzen.“
„Die Sozialdemokratie hat sich vor allem vor dem Krieg die Zukunft in Form einer unaufhörlichen Vermehrung der Wählerstimmen bis hin zum Moment der völligen Machteroberung vorgestellt. Für oberflächliche Geister oder Pseudo-Revolutionäre behält diese Perspektive im Grunde ihre Geltung. Man redet nur statt vom ständigen Wachstum der Stimmenzahl von der ständigen Radikalisierung der Massen. Das Bucharin-Stalinsche Programm der Kommunistischen Internationale hat diese mechanische Vorstellung ebenfalls sanktioniert.“
„Selbstverständlich verläuft in der Perspektive unserer Epoche im Ganzen die Entwicklung des Proletariats in Richtung der Revolution. Aber das ist keineswegs ein geradliniger Prozess, so wie auch der Prozess der Verschärfung der objektiven Widersprüche des Kapitalismus nicht geradlinig verläuft. Die Reformisten sehen nur den Aufschwung der kapitalistischen Entwicklung. Die formalen Revolutionäre sehen nur das Hinabgleiten. Der Marxist sieht die gesamthafte Entwicklung, mit all ihren konjunkturelle Erhöhungen und Senkungen, ohne auch nur einen Augenblick lang die Haupttendenz zu verheerenden Kriegskatastrophen und revolutionären Explosionen aus den Augen zu verlieren.“
„Die politische Stimmung des Proletariats ändert sich keineswegs automatisch in ein und derselben Richtung: Zunehmender Klassenkampf wird von Phasen relativer Ruhe abgelöst, Flut von Ebbe, und diese Rhythmen sind abhängig von einer höchst komplexen Kombination materieller und ideologischer, nationaler und internationaler Bedingungen. Die einmal nicht oder falsch ausgenutzte Aktivität der Massen schlägt ins Gegenteil um und führt zu einer Periode des Niedergangs, von der die Masse sich dann wieder schneller oder langsamer unter der Wirkung neuer objektiver Stöße erholt.“
„Unsere Epoche wird durch besonders scharfe Wendungen einzelner Perioden charakterisiert, durch außerordentlich schroffe Veränderungen der Situation. Daraus erwachsen der Führung besondere Verpflichtungen hinsichtlich der richtigen Orientierung.“
„Die Aktivität der Massen kann, selbst wenn sie richtig organisiert wird, entsprechend den Bedingungen sehr verschiedenen Ausdruck annehmen. Die Masse kann in einer bestimmten Periode voll und ganz im ökonomischen Kampf aufgehen und sehr wenig Interesse für politische Fragen zeigen. Umgekehrt kann sie nach einer Reihe großer Niederlagen auf dem Gebiet des ökonomischen Kampfes ihre Aufmerksamkeit jäh der Politik zuwenden. Aber auch hier kann ihre politische Aktivität – je nach den konkreten Umständen und entsprechend der Erfahrung, die die Masse mitbringt – entweder auf rein parlamentarischem Wege bleiben oder den Weg des außerparlamentarischen Kampfes einschlagen.“
Diese Zeilen sind äußerst wichtig, weil sie zeigen, dass es unmöglich ist, von allgemeinen Aussagen über die Epoche auf das Stadium, in dem sich das Bewusstsein des Proletariats befindet, oder auf die konkrete Bewegung der Klasse zu schließen. Wir sehen hier sehr deutlich die Methode Trotzkis, die nicht von abstrakten Formeln („neue Epoche“), sondern von konkreten Tatsachen ausgeht.
Das Bewusstsein der Massen in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern wird durch vielerlei Dinge geprägt, nicht nur durch die gegenwärtige Situation oder gar die Situation der letzten zehn Jahre, sondern durch die Bedingungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg über einen Zeitraum von Jahrzehnten geschaffen wurden. Das gilt insbesondere für die ältere Generation. Die Mentalität der Jugend ist eine andere Sache.
Das Bewusstsein der Arbeiter in Europa und den USA wurde jahrzehntelang durch eine Periode relativen Wohlstands geprägt. Am 15. November 1857 beklagte sich Engels in einem Brief an Marx:
„Die Massen müssen durch die lange Prosperität verdammt lethargisch geworden sein.“ Und er fügte hinzu: „Der chronische Druck ist für eine Zeitlang nötig, um die Bevölkerungen warm zu machen. Das Proletariat schlägt dann besser, in bessrer connaissance de cause [Sachkenntnis], und mit mehr Einklang …“
Die Arbeiterklasse verfügt im Allgemeinen über eine gewaltige Fähigkeit, Dinge zu ertragen. Sie erträgt selbst die härtesten Bedingungen eine ganze Zeit lang, bevor diese absolut unerträglich werden. Es braucht Zeit, bis Quantität in Qualität umschlägt. Und es braucht Zeit, bis das Bewusstsein, das von Natur aus konservativ ist, mit der veränderten Realität Schritt hält.
Eine ganze Periode lang war die Inflation niedrig, was bedeutete, dass die Arbeiter mit ihren Löhnen, obwohl die Ausbeutungsrate stieg, mehr kaufen konnten als zuvor. Die Arbeiter konnten sich Autos, große Fernsehgeräte und andere Waren kaufen, deren Preise aufgrund des technischen Fortschritts und der gestiegenen Arbeitsproduktivität gesunken waren.
Die niedrigen Zinsen führten auch zu einer beispiellosen Ausweitung der Kreditvergabe. Millionen von Menschen waren in der Lage, Dinge zu kaufen, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten. Das führte zu einer immer höheren Verschuldung.
Wenn man sieht, wie schlecht die aktuellen Zustände sind, und zurückblickt, dann ist es zu einfach, eine falsche Vorstellung davon zu haben, wie gut die Dinge früher waren. Aber all das ist jetzt bedroht. Und das ist es, was den Beginn eines grundlegenden Bewusstseinswandel einläutet.
Die Frage der Inflation ist ein Schlüsselelement für die veränderte Haltung der älteren Generation. Es stimmt zwar, dass die Jugend die am stärksten radikalisierte Schicht ist und offener für revolutionäre Ideen ist, aber es entwickelt sich eine zunehmend wütende Stimmung unter allen Schichten. Menschen, die bis vor kurzem dachten, die Dinge seien in Ordnung und das Leben sei stabil und lasse sich planen, bekommen jetzt einen tiefen Schock.
Alles verkehrt sich in sein Gegenteil. Es gibt eine plötzliche, gravierende Verschlechterung der Lebensbedingungen, und das verändert die Sichtweise der Menschen. Plötzlich beschweren sich alle. Sie schaffen es einfach nicht mehr, bis zum Ende des Monats durchzukommen.
Früher haben die Bosse und die Gewerkschaftsführer jährliche Lohnerhöhungen von ein oder zwei Prozent ausverhandelt und den Arbeitern aufgezwungen. Damals konnten die Erhöhungen kaum mit der Inflation Schritt halten. Heute würden solche Abmachungen auf erhebliche Reallohnverluste bedeuten. Für immer mehr Arbeiter wird klar, dass sie sich organisieren und kämpfen müssen, wenn sie ihren Lebensstandard halten wollen. Überall ist ein deutlicher Anstieg von Arbeitskämpfen zu verzeichnen, die die Arbeiter oft gewinnen.
In Großbritannien haben Hunderttausende aus verschiedensten Sektoren gestreikt; in Griechenland, Belgien und Frankreich gab es Generalstreiks; in den USA wird in neuen Sparten, etwas bei Starbucks, Apple und Amazon, für gewerkschaftliche Organisierung gekämpften, auch mit den Mitteln des Streiks. Außerdem gab es einen Arbeitskampf der Eisenbahnarbeiter. Schließlich haben wir auch in Kanada gesehen, wie Doug Fords Angriffe gegen die Beschäftigten im Bildungswesen von Ontario zu einem illegalen Streik und der Androhung eines Generalstreiks durch die Gewerkschaftsführer führten. Dadurch konnte die „Zurück an die Arbeit!“-Gesetzgebung abgewendet werden – ein Novum in der kanadischen Geschichte. Überall beginnt die Arbeiterklasse unter den Auswirkungen der Krise der Lebenserhaltungskosten aufzuwachen.
Die Inflation hat enorme Auswirkungen auf kleine Unternehmen, von denen viele kurz vor dem Bankrott stehen, und auf ältere Menschen, deren Pension Tag für Tag dahinschwindet. In Spanien hat es bereits Massendemonstrationen von Pensionisten gegeben. Außerdem ist ein großer Teil der sozialen Volatilität, die wir in Ländern wie Italien sehen, mit diesem Phänomen eng verknüpft.
Es herrscht ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit und der Zukunftsangst, das die politische und soziale Instabilität enorm verschärft. Dies stellt für die Kapitalistenklasse eine große Gefahr dar und erklärt auch, warum sie gezwungen ist, sehr riskante Maßnahmen zu ergreifen, um revolutionäre Entwicklungen zu verhindern.
Wenn Menschen, die sich bisher nicht für Politik interessierten, plötzlich anfangen an der Bushaltestelle oder im Supermarkt über Politik zu reden, ist das der Beginn des Molekularprozesses der Revolution (Trotzki).
Es stimmt, dass den Massen die ausgearbeitete, wissenschaftliche Analyse fehlt, über welche die Marxisten verfügen. Ihr Verständnis von Politik ist simpel, roh und nicht voll entwickelt. Aber es wird von einem grundlegenden Gefühl der Ungerechtigkeit geleitet – von dem Gefühl, dass etwas in der Gesellschaft nicht funktioniert und dass sich etwas ändern muss.
Es ist ein einfaches Klassenbewusstsein, das das Fundament für die Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins darstellt. Das wichtigste Element in der veränderten Situation ist das ökonomische. Aber es ist nicht der einzige Faktor.
Das kapitalistische System führt die Welt in eine Umweltkatastrophe, welche in den Köpfen vieler Menschen präsent ist. Für einige ist es sogar eine existenzielle Frage. Die Zukunft ganzer Nationen ist in Gefahr.
Auf der einen Seite gibt es die Probleme der Dürre und des Austrocknens der Flüsse, das sich verheerend auf Ernten und die Nahrungsmittelproduktion auswirkt und damit die Inflation anheizt.
Auf der anderen Seite gibt es verheerende Stürme, Hurrikans und schreckliche Überschwemmungen, wie wir sie in Ländern wie Bangladesch und Pakistan erlebt haben, wo 33 Millionen Menschen direkt betroffen waren.
In Ländern wie Somalia sind über drei Millionen Tiere verendet, was wiederum die Lebensgrundlage von Millionen von Menschen zerstört hat. In Brasilien hat die kriminelle Zerstörung des Amazonasgebiets ein neues Rekordniveau erreicht. Zwischen Januar und Juni 2022 wurden in der Region rund 3.988 Quadratkilometer Land gerodet. Im gleichen Zeitraum wurden 3.088 Quadratkilometer Regenwald zerstört.
Auch in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern gibt es eindeutige Hinweise auf extremere Wetterbedingungen. Viele Menschen leben in ständiger Angst, dass ihr Haus überflutet oder weggeschwemmt wird.
In den Großstädten wird die Luft durch giftige Abgase vergiftet, die Flüsse werden durch chemische Abfälle von Fabriken, landwirtschaftlichen Betrieben und Abwässern verstopft, und die Ozeane werden durch Tonnen von Plastik und anderem Müll verschmutzt.
Der Abbau von Bodenschätzen in der Tiefsee, was früher nur in Science-Fiction-Filmen zu sehen war, wird jetzt zur Realität – mit absehbaren katastrophalen Folgen für das ökologische Gleichgewicht des Planeten und die biologische Vielfalt. Und in allen Ländern hat das Aussterben von Pflanzen- und Tierarten ein alarmierendes Ausmaß erreicht.
All diese Dinge rühren das Gewissen von Millionen, vor allem von jungen Menschen. Aber moralische Empörung und wütende Demonstrationen sind völlig unzureichend. Denn ohne eine korrekte Diagnose ist es unmöglich, eine Lösung anzubieten.
Die Umweltkatastrophe ist eine klare Folge des Wahnsinns der Marktwirtschaft. Es muss betont werden, dass die Existenz des Kapitalismus heute eine eindeutige und unmittelbare Bedrohung für die Zukunft der menschlichen Zivilisation darstellt.
Wenn sich die Umweltbewegung auf eine Politik der leeren Gesten beschränkt, wird sie sich selbst zur Ohnmacht verurteilen. Sie kann ihre Ziele nur erreichen, wenn sie eine klar antikapitalistische, revolutionäre Position einnimmt. Wir müssen uns bemühen, die besten Teil der Bewegung zu erreichen und sie von dieser Perspektive zu überzeugen.
Vor allem aufgrund der Schwäche des subjektiven Faktors wird es für die gegenwärtige Krise keine schnelle Lösung geben. Dieser in die Länge gezogene Prozess ist für die Marxisten von Vorteil, denn er gibt uns die Zeit, die wir brauchen, um unsere Kräfte zu stärken und eine solide Basis in der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung aufzubauen.
Die Krise wird sich über einen längeren Zeitraum hinziehen, und es wird Ebben und Fluten im Klassenkampf geben. Auf Momente der Euphorie werden Momente der Ermattung, der Apathie und sogar der Verzweiflung folgen. Aber in jedem Fall wird sich die Klasse immer wieder erheben – bereit, den Kampf erneut zu führen, nicht aus irgendwelchen magischen Gründen, sondern weil sie schlichtweg keine andere Möglichkeit hat, als zu kämpfen.
Die Arbeiterklasse als Ganzes lernt nicht aus Büchern, sondern aus der Erfahrung. Aber sie lernt aus Niederlagen und Rückschlägen ebenso wie aus Siegen. Sie lernt gerade jetzt über die Schwächen des Linksreformismus. Engels sagte einmal: „Geschlagene Armee lernen gut.“ Lenin kommentierte dies wie folgt: „Diese trefflichen Worte gelten noch weit mehr für die revolutionären Armeen.“
Aber dabei handelt es sich um eine sehr lange Lernkurve, und viele weitere Erfahrungen werden notwendig sein, bevor die Klasse schließlich ihre Illusionen in den Reformismus (besonders in seinen „linken“ Deckmantel) ablegt und die Notwendigkeit einer sozialen Revolution völlig versteht.
Unsere Rolle besteht nicht darin, die Arbeiterklasse von der Seitenlinie aus zu belehren, sondern aktiv am Klassenkampf teilzunehmen. Es ist die Aufgabe der Marxisten, diesen Prozess gemeinsam mit der Arbeiterklasse zu durchlaufen, Schulter an Schulter mit den Arbeitern zu kämpfen und so ihren Respekt und ihr Vertrauen zu gewinnen.
Wenn dies jedoch der einzige Inhalt unserer Tätigkeit wäre, wären wir nur Aktivisten und hätten kein Anrecht, als eigenständige Strömung in der Arbeiterbewegung zu existieren.
Unsere wichtigste Aufgabe ist es, den Arbeitern und der Jugend, beginnend mit der fortgeschrittensten Schicht, zu helfen, die notwendigen Schlussfolgerungen aus ihren Erfahrungen zu ziehen und in der Praxis die Überlegenheit der marxistischen Ideen zu zeigen.
Dies wird einige Zeit dauern, und wir müssen uns in der revolutionären Geduld schulen. Es gibt keinen leichten Weg. Der Versuch, Abkürzungen zu finden, endet immer in gravierenden Abweichungen, entweder in Richtung opportunistischer oder ultralinker Positionen.
Erinnern wir uns daran, dass Lenin 1917, mitten in einer Revolution, die Losung ausgab: „Geduldig erklären!“ Wir haben die richtigen Ideen, die allein den Weg zum Sieg im Klassenkampf weisen können.
Der tatsächliche Rhythmus der Ereignisse lässt sich nicht vorhersagen. Aber das Potential für eine explosive Verschärfung des Klassenkampfes ist in vielen Ländern vorhanden. Wir können nicht sagen, wo es beginnen wird. Es kann Frankreich oder Italien sein, oder der Iran, oder Brasilien; Indonesien, Pakistan, Argentinien oder sogar China.
Wir werden sehen. Aber die Hauptsache ist, dass die Verschärfung des Klassenkampfs neue Möglichkeiten für die marxistische Strömung eröffnen wird – vorausgesetzt, dass wir in der Lage sind, sie zu nutzen. Und das hängt nur von einer Sache ab: von unserer Fähigkeit, unsere Kräfte bis zu dem Punkt aufzubauen, an dem wir tatsächlich in der Lage sind, zu intervenieren.
Das wiederum hängt von der Arbeit ab, die wir jetzt leisten. Das ist es, was wir jedem Genossen begreiflich machen müssen. Unsere Losung muss lauten: Mit voller Kraft voraus. Und das heißt eben, dass wir die unsere Organisation aufbauen müssen.
Wir müssen unermüdlich daran arbeiten, die revolutionären Kräfte aufzubauen, die notwendig sind, um diese Ideen in jede Fabrik, jede Ortsgruppe der Gewerkschaften, jede Schule und Universität zu tragen. Nur auf diese Weise kann die zukünftige revolutionäre Führung des Proletariats aufgebaut werden.
Seit sehr langer Zeit schwimmen wir gegen den Strom. Unsere Kader sind in diesem Kampf abgehärtet und gestärkt worden. Wir haben uns den Respekt der fortschrittlichsten Arbeiter und Jugendlichen erworben. Die politische und moralische Autorität unserer Internationale war noch nie höher.
Das sind kolossale Errungenschaften! Aber wir haben noch einen langen und harten Weg vor uns und es wird nicht alles einfach sein. Auf Momente der Euphorie werden andere Momente der Enttäuschung und sogar der Verzweiflung folgen. Wir müssen lernen, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen und Niederlagen wie Erfolge mit derselben heiteren Gelassenheit entgegen zu nehmen.
Das Blatt der Geschichte hat sich allerdings gewendet, und wir beginnen nun, mit dem Strom zu schwimmen, nicht mehr gegen ihn. Die Arbeiterklasse und die Jugend sind viel offener für unsere Ideen als jemals zuvor. Der ganze Prozess wird sich beschleunigen.
Unsere Internationale wird viel früher, als man erwarten könnte, mit immensen Möglichkeiten konfrontiert werden. Viele Türen werden sich öffnen. Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass wir jede Möglichkeit voll ausschöpfen können und beweisen, dass wir den großen Aufgaben, die uns die Geschichte auferlegt hat, gewachsen sind.
Turin, 1. Februar, 2023
1 Beggar-thy-neighbour-Politik (deutsch „mach deinen Nachbarn zum Bettler“ oder „ruiniere deinen Nachbarn“).
2 In den USA ist es üblich, für die Altersvorsorge auf dem Finanzmarkt zu investieren, so dass von Aktienkursen unmittelbar die Lebensqualität im Alter abhängt.
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
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