Von Amazon, Starbucks und Hollywood bis zu den Eisenbahnen: Der Klassenkampf in den USA nimmt Fahrt auf.
Die US-amerikanische Arbeiterklasse erwacht zurzeit aus einem fünfzigjährigen Winterschlaf. Jahre des fallenden Lebensstandards und zuletzt die harten Erfahrungen von Pandemie und Inflation haben eine neue Stimmung geschaffen. Gewerkschaften sind so populär wie seit den 70er Jahren nicht mehr. Mit dem «Striketober» im Herbst 2021 zeigten 100’000 Streikende aus diversen Branchen, dass in den USA «Klassenkampf» kein Fremdwort ist.
Im Dienstleistungssektor findet eine Organisierungswelle statt, die sich am deutlichsten in den neuen Gewerkschaften Amazon Labor Union (ALU) und Starbucks Workers United (SBWU) zeigt. Im Winter drohte ein landesweiter Bahnstreik. Im Südstaat Alabama streikten Bergbauarbeiter fast zwei Jahre lang. Von 2018 bis 2021 wuchs die Zahl grösserer Streiks um 50 %. Eine zentrale Rolle spielt eine neue, jüngere Schicht von Arbeitern. Auch die USA stehen am Anfang einer neuen Periode von scharfem, offenem Klassenkampf.
Warum brechen die Streiks jetzt aus? Um den Aufschwung zu verstehen, müssen wir den Abschwung der Vorperiode anschauen. 1970 war ein Viertel der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert, heute noch 10,1 % (im Privatsektor nur 6,2 %). Im tiefen wirtschaftlichen Einbruch in den 70ern gingen die Kapitalisten zum Angriff über. 1981 streikten 40’000 Fluglotsen. Präsident Reagan feuerte sie alle. Die reformistischen Gewerkschaftsführungen setzten dem nichts entgegen. Es folgten Jahrzehnte von Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen. Die Löhne fielen und die Arbeit wurde intensiver. Jobs wurden gestrichen, während die Profite der Bosse durch die Decke schossen.
Heute leben über zwei Drittel der Amerikaner von Lohn zu Lohn. Junge, berufstätige Erwachsene können sich immer weniger leisten, von zuhause auszuziehen. Ein Viertel der Mieter bezahlt die Hälfte oder mehr des Einkommens an die parasitären Vermieter. Elend und Armut an einem Ende heisst obszöner Reichtum am anderen: Das reichste 1 % wurde von 2009 bis 2022 um 12,5 Billionen US-$ reicher!
Die Covid-Pandemie war ein gravierender Einschnitt in die Lebensbedingungen und das Bewusstsein aller Menschen. Nicht nur waren viele Arbeiter nicht adäquat vor Infektionen geschützt. Die Bosse nutzten die Gelegenheit, um noch mehr Druck aufzubauen und den Arbeitsschutz zu schwächen. Dazu kam 2020 die aufständische Black Lives Matter Bewegung, an der 10 % der Bevölkerung teilnahmen.
Die Inflation, Resultat des grossen Wirtschaftseinbruchs, sprang offiziell von 1,4 % 2020 auf 8 % 2022. Aber für die Arbeiterklasse wurde das Leben um ein Vielfaches teurer. Ein typischer Haushalt gab im September 2022 445 US-$ mehr aus als ein Jahr zuvor, wie eine Moodys-Studie zeigte. Damit die Löhne auch nur mithalten können, sind die Lohnabhängigen gezwungen zu kämpfen. Das Potenzial dafür ist riesig: 71 % der Bevölkerung ist Gewerkschaften gegenüber positiv eingestellt!
Nach fünfzehn Jahren Krise findet eine generelle Veränderung im Bewusstsein der Arbeiterklasse statt. Die Schichten, die sich jetzt neu organisieren – z.B. bei Starbucks oder Amazon – gehören zu den am stärksten Ausgebeuteten, den vermeintlich «Unorganisierbaren». Frauen machen fast die Hälfte aller Gewerkschaftsmitglieder aus.
Und besonders die Jungen wollen sich organisieren. Sie sind nicht gezeichnet von Jahrzehnten der Niederlagen, sondern sehen instinktiv die Notwendigkeit, zu kämpfen. Der generationelle Wandel sollte nicht unterschätzt werden. Millennials und Generation Z machen bereits über drei Viertel der US-Arbeiterschaft aus. Und mindestens 34 Millionen von ihnen sehen den Kommunismus als etwas Positives.
Die Gewerkschaft SBWU hat seit Februar 2021 die Mehrheit von Baristas in über 300 Starbucks Cafés organisiert, oft mit sehr deutlichen Abstimmungsresultaten. Für viele ist es das erste Mal, dass sie an Streikposten stehen und diese Erfahrung hat einen markanten Einfluss auf ihr Bewusstsein. Um gegen einen Giganten wie Starbucks zu gewinnen, braucht es aber einen langen Atem. Die Firma beschäftigt 250’000 Arbeiter in 10’000 Cafés in Nordamerika und versucht mit allen (legalen und illegalen) Mitteln den Organisierungseffort zu verlangsamen und zu behindern. Ein Gesamtarbeitsvertrag scheint noch weit weg.
2021 gründete Chris Smalls die Gewerkschaft ALU. Amazon, die Firma des Oberbonzen Jeff Bezos, hatte Smalls gefeuert, als er gegen den mangelnden Schutz vor Corona öffentlich Druck machte. Smalls und seine Mitstreiter kämpfen einen Kampf wie David gegen Goliath. Gegen allen Widerstand schafften sie es, das Amazon-Verteilzentrum JFK8 in New York City mit seinen 8000 Arbeitern zu organisieren, während Bezos ins Weltall flog. Das ist mehr als ein Achtungserfolg. Amazon beschäftigt mehr als 1,1 Millionen Arbeiter in 1000 Verteilzentren. JFK8 bleibt vorerst der einzige Amazon-Standort mit Gewerkschaft. Was das Beispiel ALU vor allem zeigt, ist die Rolle von klassenbewussten Individuen im Klassenkampf. Kämpfende Gewerkschaften kommen nicht aus dem Nichts. Die bittere Erfahrung im real existierenden krisenhaften Kapitalismus bringt genau diese neue, militante Generation von Klassenkämpfern hervor.
Aber nicht nur in den prekärsten Jobs treten Lohnabhängigen in den Streik. In Hollywood findet aktuell ein bedeutender Streik der Drehbuchautoren statt («writers’ strike»). Die profitablen Streamingmodelle bedeuten für die Drehbuchautoren weniger Lohn und Jobsicherheit. Einen elektrifizierenden Einfluss auf die Streikenden hatte die Vorsitzende der lokalen Teamster-Gewerkschaft (Lastwagenchauffeure), die die Unterstützung ihrer Mitglieder zugesichert hatte.
Die Anerkennung einer Gewerkschaft in einem Betrieb zu gewinnen ist eine Sache. Eine ganz andere ist es, den Bossen starke Tarifverträge und Konzessionen auf Kosten ihrer Profite abzuringen. Dafür braucht es nichts weniger als eine revolutionäre Strategie. Die aktuellen Gewerkschaftsführungen im Dachverband AFL-CIO sind dieser Aufgabe nicht gewachsen. Sie stecken mental in der Nachkriegszeit fest, als es für sie reichte, alle paar Jahre mit den Chefs an einen Tisch zu sitzen. Die materielle Basis für diese Hinterzimmerdeals ist aber schon lange weg. Sie haben kein Vertrauen in ihre Mitglieder. Wie siamesische Zwillinge der Chefs fallen sie den Arbeitern immer wieder in den Rücken. Der Arbeitskampf ist ihnen ein Gräuel, sie haben riesige Illusionen in die Neutralität der staatlichen Schlichtungsstelle und in die Gerichte.
Unglaubliche über 600 Tage hatten Kohlegrubenarbeiter in Alabama gegen Warrior Met Coal gestreikt, der längste Streik in der Geschichte der USA. Dabei kämpften sie gegen die Kohlefirma, deren Eigentümer an der Wall Street (BlackRock), die Gerichte, die Polizei und Massen von Streikbrechern. Ohne einen einzigen Erfolg verkündete Gewerkschaftschef Roberts im April die «bedingungslose Rückkehr an die Arbeit». Wer braucht Feinde, wenn er solche Freunde hat?
Kurz vor Weihnachten 2022 zeichnete sich ein nationaler Bahnstreik ab. In einer Bahngewerkschaft nach der anderen votierten die Mitglieder gegen ihre Führungen für einen Streik. Die Forderungen drehten sich vor allem um die Sicherheit und Gesundheit der Angestellten.
Präsident Biden ist ein halb seniles Ekel. Er brachte aber schnell ein Gesetz ins Parlament, um den Bahnstreik zu verbieten. Die Demokraten wie auch die Republikaner unterstützten ihn. Normalerweise geben sich beide Parteien als arbeiterfreundlich aus, besonders die Demokraten. Weil die Kapitalisten eine so kleine Minderheit sind, gaukeln sie uns vor, sie würden im Volksinteresse handeln. Aber beide Parteien sind kapitalistisch bis auf die Knochen. Sie konnten in diesem Konflikt nur eine Seite beziehen.
«Die moderne Staatsgewalt ist», schrieben Marx und Engels im Manifest, «nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.» Dass der bürgerliche Staat seinen Klassencharakter entblössen musste, zeigt die Angst, die die Bourgeoisie vor einem solchen Streik hat. Zu recht: Wenn die Lokführer oder die Hafenarbeiter in LA die Arbeit niederlegen, würde das ganze Land lahm liegen.
Die Gewerkschaftsführungen akzeptierten das skandalöse Verbot gegen den Willen der Basis. Aber es hätte eine andere Option gegeben. «Besser das Gesetz brechen als die Armen brechen» ist ein Grundprinzip der Arbeiterbewegung. Die Arbeiter brauchen jetzt eine Verbesserung! Ein nationaler Bahnstreik hätte den Klassenkampf ins Zentrum der nationalen Politik gestellt. Einen Streik gegen Präsident und Parlament durchzuziehen, hätte das Vertrauen der Arbeiterklasse in ihre eigene Stärke verzehnfacht, weit über die Bähnler hinaus.
Das Leben ist der beste Lehrer. Neue Schichte der Arbeiterklasse, Junge wie Alte, lernen harte Lektionen aus solchen Ereignissen. Sie fordern die alten bürokratischen Führungen und das sozialpartnerschaftliche Korsett mehr und mehr heraus. Gegen die geeinte Front von Bossen und bürgerlichem Staat müssen die Arbeiter mit branchenübergreifenden Solidaritätsstreiks zusammenstehen.
Die amerikanischen Gewerkschaften wurden in den Zeiten stark, als klassenkämpferische Kommunisten und Marxisten sie führten. Marxisten verteidigen in diesen Kämpfen kompromisslos den Standpunkt der Arbeiterklasse. Diese Offensive der Bosse muss für die Arbeiterbewegung heissen: Bruch mit der Sozialpartnerschaft! Streiks, die wirklich die Produktion anhalten! Demokratische Kontrolle der Arbeiter über ihre Kämpfe!
Der Klassenkampf bleibt aber nicht auf der betrieblichen Ebene stehen. Sehr schnell kommen die Lohnabhängigen mit der ganzen Kapitalistenklasse und ihrer Staatsmacht in Konflikt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, den Kampf auf der politischen Ebene zu führen. Die Lohnabhängigen brauchen eine eigene Massenpartei, bewaffnet mit einem sozialistischen Programm. Die selbsternannten «Sozialisten» in der Demokratischen Partei rund um Alexandra Ocasio-Cortez stimmten im Parlament für das Verbot des Bahnstreik. Die Arbeiter brauchen eigene politische Vertreter, unabhängig von den Parteien der Banker!
Heute stehen wir erst am Anfang. Der Aufschwung des Klassenkampfes wird die Gewerkschaften und die politische Landschaft fundamental verändern. Revolutionäre dürfen den Ereignissen nicht hinterherhinken. Wir müssen uns zu marxistischen Kadern, «Spezialisten der Revolution», ausbilden. Das ist der beste Dienst, den wir der Arbeiterklasse auf ihrem Weg um die politische und ökonomische Macht leisten können – in den USA und der Schweiz.
Silvan Degen, Basel
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