Julian Assange und Bradley Manning zeigen es: Wer Whistleblower wird, braucht Nerven wie Drahtseile. Jetzt ist Edward Snowden zum Gejagten des US-Imperialismus geworden. Sein Verbrechen? Er erzählte die ungeschminkte Wahrheit über die US-Regierung.
Das Spionageprogramm „Prism“
Edward Snowden hat aufgedeckt, was viele schon seit Jahren wussten: die US-Regierung versucht zusammen mit Grossbritannien, den gesamten Internetverkehr zu überwachen. Das ist nichts Neues. Im Grunde genommen geht das so schon seit der Geburt des Internets. Man erinnere sich daran, dass das ARPAnet, der Vorgänger des Internets, vom US-Militär entwickelt wurde.
Trotzdem scheint es so, als ob sich viele Menschen dessen nicht bewusst waren. Möglicherweise glaubten sie, die Überwachungsmassnahmen dienten der Verfolgung von Kriminellen und Terroristen. Als unschuldiger Bürger, der nichts zu verbergen hat, hätte man nichts zu befürchten. Das hat sich nun offensichtlich als falsch herausgestellt.
Die traurige Wahrheit: Sämtlicher Internetverkehr der durch die USA oder Grossbritannien geht – also fast alles – wird überwacht. Das ist ein Verhalten, dass viele Leute von China oder vom Iran erwartet hätten, aber doch nicht von einem freiheitlichen, westlichen Land? Doch weit gefehlt. Von den Geheimdiensten ist nichts anderes zu erwarten. Ihr Ziel ist es, der Armee, den Politikern und den multinationalen Konzernen dabei zu helfen, sich im internationalen Wettbewerb zu behaupten. Die Befriedigung, die Kommunikation der Wettbewerber mitzuhören, muss gigantisch sein.
Doch die Überwachung dient noch weiteren Zwecken: der „Feind im Innern“ muss überwacht werden. Um die Überwachung von rechten Gruppierungen, seien es Nazis oder religiöse Fundamentalisten, wird dabei am meisten Wind gemacht. Tatsächlich sind es die linken Gruppierungen, die ihnen am meisten Sorgen machen. Der Guardian hat herausgefunden, dass die London Metropolitan Police eine Liste von 9000 überwachten Aktivisten führt. Natürlich sind ein paar Rechte darunter. Aber wenn man davon ausgeht, dass die extreme Rechte in Grossbritannien nur wenige Tausend Menschen mobilisieren kann, bleibt nicht mehr viel übrig, was überwacht werden könnte. Der grösste Teil dieser 9000 Menschen besteht aus Gewerkschaftern und aktiven Linken. Im Übrigen sind nur die wenigsten der 9000 Menschen vorbestraft.
Heuchelei und diplomatischer Streit
Genau wie der Skandal um Wikileaks hat der Prism-Skandal die USA und Grossbritannien in Verlegenheit gebracht. Zwar unterhalten andere Länder ähnliche Systeme: Details der Chinesischen, Iranischen und Schwedischen Programme sind aufgetaucht, und mit Sicherheit machen die Russen, Franzosen und Deutschen das Gleiche. Doch im Vergleich mit den USA und Grossbritannien haben die anderen ein Problem: Der Grossteil des globalen Internetverkehrs fliesst durch die erstgenannten Länder, nur ein kleiner Teil durch Deutschland, Russland oder China.
Das ist dann auch schon der Hauptgrund für die lautstarken Beschwerden der Deutschen und der EU. Wer ist schon scharf darauf, von den USA ausspioniert zu werden? Es waren, entgegen den jahrelangen Verlautbarungen der USA, eben nicht nur die Feinde, sondern die Verbündeten, die ausspioniert wurden. Die Deutschen und die Franzosen versuchen nun über die Europäische Union eine unabhängige Position gegenüber den USA einzunehmen.
Wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen versuchten die USA, von China die Auslieferung Snowdens zu fordern. Als dieser dann nach Russland ging, wo er sich im Moment aufzuhalten scheint, forderten sie Russland öffentlich auf, den „Kriminellen“ auszuliefern. Das war vielleicht nicht unbedingt das schlaueste. Die Russen und die Chinesen sind nicht gerade begeistert, die Drecksarbeit für den US-Imperialismus zu übernehmen. Entsprechend verschnupft klangen dann auch die die öffentlichen Stellungnahmen.
Seinen Unmut über den Ton der USA äusserte der russische Aussenminister:
„Die Versuche, Russland für das Brechen von US-Gesetzen zu beschuldigen und die Anschuldigung, Teil einer wie auch immer gearteten Verschwörung zu sein, sind vollkommen grundlos und nicht akzeptabel. Sie sind ein Versuch, uns zu bedrohen.“
Die Chinesen und die Russen lassen sich die Gelegenheit, auf den USA herumzureiten, nicht entgehen. Auf die heuchlerischen Beschwerden des US-Imperialismus, in China und Russland „Demokratie“ und „Menschenrechte“ einzuführen, folgt nun die wohlverdiente Antwort. Die chinesische Regierung, nicht gerade ein Freund der Menschenrechte, erklärte über ihr Sprachrohr „People’s Daily“:
„In gewisser Weise sind die USA von einem „Modell der Menschenrechte“, zum „Privatsphärenaushorcher“ geworden, sie manipulieren das Internet mit ihrer Macht, sie sind ein verrückt gewordener „Eindringling“ in die Netze der andere Länder.“
Übrigens haben Hongkongs Behörden erklärt, dass sie Snowden nicht haben festnehmen können, weil der Strafbefehl einen falschen Zweitnamen enthielt. Wer’s glaubt, wird selig.
Wladimir Putin nutzte die Gelegenheit, den USA auf den Füssen herumzutrampeln:
„Assange und Snowden bezeichnen sich selbst als Menschenrechtsaktivisten und sagen, dass sie für den freien Zugang zu Informationen kämpfen“ sagte er. „Fragen sie sich selbst: Würden sie diese Menschen ausliefern, damit sie im Gefängnis landen?“ (The Guardian)
Sicher ist: Putin ist nicht über Nacht zum Vorkämpfer der Menschenrechte geworden. Eher hatte er seine politischen Gegner im Visier. In Russland wegen Steuerbetrugs gesucht, führen sie ein komfortables Leben in Grossbritannien oder den USA. „Was ihr könnt, kann ich schon lange“, wollte er eigentlich sagen.
Die USA hatten vorerst genug. Der amerikanische Aussenminister John Kerry rief seine „Russischen Freunde“ zur „Ruhe“ auf. Rein technisch gäbe es zwar kein Auslieferungsabkommen zwischen Russland und den USA, aber es gäbe gewisse „Regeln“ im freundlichen Umgang, und schliesslich gehe es hier um „die Verteidigung des Rechtsstaats“.
Fragt sich nur, was aus den Menschenrechten und dem Recht der freien Meinungsäusserung geworden ist? Normalerweise sind die Aussenminister der USA doch immer sehr erpicht darauf, solche Fragen auf den Tisch zu bringen. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass Kerry diese Worte sprach, als er gerade dem erzreaktionären Regime Saudi-Arabiens einen Besuch abstattete. Es könnte aber auch sein, dass er und seine Regierung solche Prinzipien nun offen mit den Füssen treten.
Vielleicht haben wir auch einfach ganz falsche Vorstellungen von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Auf die Frage, was mit Rechtsstaatlichkeit gemeint ist, hat Grossbritannien erst kürzlich eine interessante Antwort gefunden. Ein saudischer Prinz, der eigentlich eine Gefängnisstrafe absass, wurde von der britischen Regierung zurück zu seiner (königlichen) Familie gebracht. Er hatte in London eine Bedienstete zu Tode geprügelt. Hastig hatten Grossbritannien und Saudi-Arabien ein Abkommen zum Gefangenenaustausch zusammengeschustert, der Prinz sass nur ein Jahr. Offensichtlich bedeutet Rechtstaatlichkeit, dass ein saudischer Prinz nicht wie ein normaler Mensch in einem britischen Gefängnis sitzen darf.
Die USA sind nicht glücklich über das Angebot Ecuadors, Snowden aufzunehmen; sofort begann die Regierung, Druck aufzubauen. Sie drohte damit, einen im Juli auslaufenden Handelsvertrag nicht zu erneuern. Die ecuadorianische Wirtschaft, die insbesondere Früchte und Schnittblumen in die USA exportiert, wäre durch diese Massnahme schwer getroffen. Was die USA hier macht, läuft letztendlich darauf hinaus, dass der Schutz Snowdens mit zehntausenden von Arbeitsplätzen bezahlt werden würde. Der ecuadorianische Präsident Rafael Correa war damit nun auch nicht ganz einverstanden, und das mit Recht. Correa bot der amerikanischen Regierung im Gegenzug eine Spende über 23 Millionen Dollar an, um Menschenrechtskurse in den USA durchzuführen. Das ist auch eine Antwort an die Millionen von Dollars, die die USA in so genannte „Menschenrechtsgruppen“ in Lateinamerika steckt. In Wahrheit sind diese Gruppen Reaktionäre der übelsten Sorte.
Correa äusserte seine Sympathie für die US-Amerikaner. In einer Rede betonte er, dass er keinen Antiamerikanismus hege. Nach der gleichen Logik wären die USA auch antiecuadorianisch, weil sie die Verantwortlichen des ecuadorianischen Bankencrashs von 1999 trotz Antrag nicht ausliefern wollen. Der Venezolanische Präsident Nicolas Maduro wies darauf hin, dass die USA die Auslieferung des bekennenden Terroristen Posado Carriles nach Venezuela verweigere. Es gäbe zwei Sorten von Regeln: Eine für kleine Länder mit linksgerichteten Regierungen, eine für imperialistische Grossmächte.
Der Prozess gegen Bradley-Manning
Wer wissen will, wie es Snowden ergehen wird wenn die USA ihn fassen, betrachte den Fall Bradley Mannings. Als Quelle der Cablegate-Dokumente, die bei Wikileaks veröffentlicht wurden, wurde er im Mai 2010 verhaftet. Seitdem wird er unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten. Das US-Militär steckte ihn in Isolationshaft, erlaubte ihm nicht zu schlafen, gab ihm nur ein Buch und eine Zeitung. Demütigungen und Schikanen sind seitdem an der Tagesordnung. Nach einem Jahr wurde der Druck auf die US-Regierung zu gross, die ihn daraufhin unter normale Haftbedingungen setzte.
Doch die Behandlung war erfolgreich: Sein Geist ist gebrochen. Manning plädierte in den meisten Anklagepunkten selber auf schuldig. Ausserdem akzeptierte er, dass Teile des Verfahrens gegen ihn geheim geführt werden würden. Grosszügig wie sie ist, offerierte die US-Regierung eine Höchststrafe von 16 Jahren, wenn Manning sich in 10 von 22 Anklagepunkten schuldig bekennt.
Trotzdem treibt der Staat aktiv die verbleibenden Anklagen voran. Möglicherweise will man so den Prozess gegen Julian Assange vorbereiten, der nun seit einem Jahr unter Hausarrest steht.
Skandale und der Kampf für den Sozialismus
Edward Snowden, Julian Assange und Bradley Manning sind keine Marxisten, höchstwahrscheinlich sehen sie sich nicht einmal als Sozialisten. Dennoch müssen ihre Leaks im Kontext des grösseren Kampfs gegen Kapitalismus und Imperialismus gesehen werden.
Mitten in der tiefsten Krise des Kapitalismus kommen Skandale ans Licht, die das Establishment zutiefst erschüttern. Ist das Zufall? Warum hat Snowden wohl so viel Aufmerksamkeit bekommen, als er Dinge sagte, die seit mehr als einem Jahrzehnt bekannt waren? Weit entfernt davon, Zufall zu sein, sind die Skandale ausdruck des Drucks, der sich in der Gesellschaft aufbaut. Die ökonomische Krise manifestiert sich als Krise des gesamten Regimes.
Die andauernden Skandale verändern scheibchenweise das Bewusstsein der Massen. Sie entfernen die Maske der Demokratie von den kapitalistischen Staaten, sie zeigen die nackte Klassenherrschaft darunter. Das sind die wahren Verbrechen Assanges, Mannings und Snowdens. China und Russland dulden das zwar auch nicht. Sie nutzen jedoch die Möglichkeit, um gegen die USA zu punkten, das stimmt, aber sie gewähren Snowden nur den freien Durchgang. Die einzigen Länder, die Snowden einen Asylantrag zugesagt haben, sind Venezuela und Ecuador. Das ist kein Zufall. Zehn Jahre der Revolution haben die Regierungen dieser Länder weit nach links driften lassen. Deswegen sind sie die einzigen Länder, die gewillt sind, für die Whistleblower einzustehen. Die Ecuadorianische Regierung hat Mut bewiesen, die Arbeiterbewegung rund um den Globus sollte sie darin unterstützen.
Als Marxisten sind wir über diese Enthüllungen nicht überrascht. Damit eine Minderheit weiterhin über die Mehrheit herrschen kann, verliess sich bisher jede Klassengesellschaft auf Spione, Informanten, Korruption und Betrug. Wir unterstützen alle, die das verrottete System entlarven wollen. Wir stimmen zwar nicht mit allem überein, was Snowden und die anderen Whistleblower sagen. Aber ihre Enthüllungen helfen, die Illusionen über den bürgerlichen Staat zu zerstören – was wiederum den Grund bereitet für den Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaft.
Kunst & Kultur — von Sylvain Bertrand, Genf — 14. 10. 2024
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