Israels undeklarierter Krieg gegen die Hisbollah hat begonnen. Seit dem 23. September haben israelische Luftangriffe über 800 Libanesen getötet, über 2’000 verletzt und 250’000 zur Flucht gezwungen. Die Hintergründe erklärt Fred Weston, Redakteur von marxist.com, in diesem Artikel vom 27. September.
Als Vorbereitung für eine anstehende Landinvasion wird der Südlibanon nun anhaltend und heftig bombardiert. Als Antwort darauf hat die Hisbollah Hunderte von Raketen, einige davon mit grosser Reichweite, auf Haifa, Galiläa, Safad, den See Genezareth und die Golanhöhen abgefeuert. Unterdessen konzentriert das israelische Militär weiterhin Truppen und gepanzerte Fahrzeuge an der Grenze zum Libanon.
Es handelt sich um einen durch und durch reaktionären Angriffskrieg, der das «Völkerrecht», die «Unverletzlichkeit der nationalen Grenzen» und die «nationale Souveränität» verhöhnt. Da er von Washingtons wichtigstem Verbündeten in der Region geführt wird, ist kein Aufschrei über das Verletzen dieser «Prinzipien» zu hören, es gibt keinen Chor der Verurteilung Israels, keine Sanktionen, usw. Ganz im Gegenteil: Der US-Imperialismus hat seine Unterstützung für Israel bekräftigt, während Blinken versichert, das Land habe ein «legitimes Problem» im Libanon. Das ist die Doppelmoral der «regelbasierten Weltordnung».
Die israelischen Befehlshaber haben betont, dass man sich vorerst auf die Luftangriffe konzentriere und keine unmittelbare Bodenoffensive plane. Über die nächsten Schritte herrscht Uneinigkeit an der Spitze. Ein Teil der Militärführung ist der Meinung, dass eine massive Bombardierung die Hisbollah zum Rückzug zwingen könnte. Unterdessen sind einige Mitglieder von Netanjahus Regierung der Meinung, dass vor einer Ausweitung des Krieges auf den Libanon eine Vereinbarung mit der Hamas getroffen werden sollte, um den Krieg in Gaza zu beenden. Die rechtsextremen Teile der Regierung Netanjahus haben jedoch damit gedroht, ihre Unterstützung zurückzuziehen, sollte ein solches Abkommen zustande kommen.
Dies sind taktische Unterschiede, die das Tempo des Angriffs auf den Libanon bestimmen könnten, aber nichts an seiner Richtung ändern.
Mit der gegenwärtigen Bombardierung soll ein möglichst grosser Teil der Feuerkraft der Hisbollah vernichtet werden. Seit Jahren überwachen die israelischen Geheimdienste die Ansammlung von Stützpunkten und Waffen der Hisbollah. Die IDF versuchen nun, so viel wie möglich davon zu zerstören. Ein weiteres Ziel ist, die libanesische Zivilbevölkerung zur Flucht aus den südlichen Gebieten zu zwingen, um dort nach dem Einzug des israelischen Militärs eine «Pufferzone» zu errichten, die die Hisbollah-Kräfte von der israelischen Grenze fernhält.
Das Erreichen eines solchen Ziels wird sich jedoch nicht als die schnelle, saubere, chirurgische Operation erweisen, die Netanjahu uns glauben machen möchte. Trotz der jüngsten Rückschläge der Hisbollah werden die israelischen Streitkräfte mit einer beachtlichen Streitmacht konfrontiert sein, wenn sie in den Südlibanon einziehen. Der Konflikt kann sich durchaus lange hinziehen. Und genau das möchte Netanjahu: Israel im Kriegszustand halten, dadurch den Eindruck einer existenziellen Bedrohung für die israelischen Juden erwecken, um so seine eigene Regierung an der Macht zu halten.
Die jüngsten Umfragen zeigen, dass die Verschärfung der Kriegsrhetorik bisher Wirkung gezeigt hat. Nach der Ermordung der sechs Geiseln Anfang des Monats sank Netanjahu in den Umfragen, während er sich mit Massenprotesten auf den Strassen konfrontiert sah, bei denen Hunderttausende ihn als Mörder beschimpften. Er sah sich sogar mit einem kurzzeitigen Generalstreik konfrontiert.
Ausgelöst wurde dies durch die Weigerung Netanjahus, die IDF aus dem Philadelphi-Korridor entlang der Grenze zwischen Gaza und Ägypten abzuziehen. Mit dieser Verweigerung versuchte Netanjahu, es der Hamas unmöglich zu machen, unter diesen Bedingungen einen Waffenstillstand zu akzeptieren. Das wiederum wurde als offensichtlich mangelnde Rücksichtnahme auf die Geiseln angesehen. Wären zu diesem Zeitpunkt Wahlen abgehalten worden, hätte Netanjahu seine Regierungsmehrheit verloren. Für sein eigenes politisches Überleben muss er das Land im Kriegszustand halten. Und das ist es, was ihn zu einer Invasion im Südlibanon treibt.
Die Israeli Defence Forces (IDF) sind, was die Zahl der Soldaten und die Bewaffnung angeht, den Kampfeinheiten der Hisbollah weit überlegen. Die IDF sind eine der am besten ausgerüsteten Armeen der Welt. Sie verfügen über 170’000 aktive Militärangehörige (mit weiteren 400’000 Reservisten, von denen ein Grossteil bereits eingezogen wurde), 340 Kampfflugzeuge, einschliesslich der von den USA zur Verfügung gestellten F35, 400 Panzer, fast 800 gepanzerte Fahrzeuge, über 50 Kriegsschiffe unterschiedlicher Grösse sowie fünf Kampf-U-Boote.
Israel zeigt derzeit seine Luftüberlegenheit über dem Südlibanon und anderen Gebieten des Landes. Es verfügt über die Waffen, um den Libanon vollständig zu zertrümmern. Daran gibt es keinen Zweifel.
Die Hisbollah hat jedoch seit ihrem letzten Krieg mit Israel im Jahr 2006 an Stärke gewonnen. Die Schätzungen über die Stärke der Hisbollah schwanken, aber die meisten sind sich einig, dass sie etwa 45.000 Kämpfer umfasst, von denen die Hälfte im aktiven Dienst ist und der Rest aus Reservisten besteht. Die Hisbollah hat in den letzten Jahren auch ihre Feuerkraft massiv erhöht. Sie verfügt über rund 150’000 Raketen, Flugkörper und Mörsern – einigen Beobachtern zufolge möglicherweise 200’000 – mit einer geschätzten Reichweite von 40 bis 700 Kilometern. Sie verfügen über präzisionsgelenkte Raketen wie die Fateh 110 aus iranischer Produktion mit einer Reichweite von 300 km. Israel ist etwa 400 km lang und etwa 100 km breit. Theoretisch könnte die Hisbollah also die meisten Gebiete Israels angreifen und weitaus mehr Schaden anrichten, als es der Hamas je möglich wäre.
Eine wichtige Schwäche der Hisbollah ist, dass sie nur über eine begrenzte Anzahl von Flugabwehrraketen verfügt und keine eigenen bemannten Flugzeuge hat. Dies bedeutet, dass Israel bei der derzeitigen Bombardierung deutlich überlegen ist. Das kann sich jedoch sehr schnell ändern, wenn sich der aktuelle Konflikt zu einem zwischen israelischen und Hisbollah-Bodeneinheiten entwickelt
Die Hisbollah verfügt über einen grossen Bestand an Drohnen und Tausende von Panzerabwehrraketen, darunter auch moderne Systeme, die IDF-Panzer durchdringen können. Es scheint auch, dass sie Panzer in Syrien versteckt hat. Darüber hinaus verfügt sie über ein grosses Netz von Tunneln und Bunkern im Südlibanon.
In einem Artikel der Times of Israel mit dem Titel «Die Hisbollah hat ein riesiges Tunnelnetz gebaut, das weitaus ausgeklügelter ist als jenes der Hamas», der im Januar publiziert wurde, werden wir darüber informiert, dass «das Tunnelsystem im Südlibanon Hunderte von Kilometern umfasst, bis zur Grenze und sogar bis nach Israel reicht; Abschussvorrichtungen können von dort aus präzise gelenkte Raketen abfeuern und dann verschwinden…».
Das bedeutet, dass es sicherlich viele Abschussanlagen gibt, die dem israelischen Geheimdienst möglicherweise nicht bekannt sind und die aus der Luft schwieriger zu zerstören wären.
Die Kämpfer der Hisbollah sind zudem kampferprobt und verfügen über langjährige Kriegserfahrung in Syrien. Dort haben sie mit russischen und iranischen Streitkräften zusammengearbeitet, was ihre militärische Professionalität deutlich erhöht hat. Die Hisbollah ist also gut geschult und organisiert, aber auch hoch motiviert, ihr Heimatgebiet zu verteidigen, das sie gut kennt.
Auf lange Sicht könnten die IDF einen Grossteil der Waffen der Hisbollah zerstören und viele ihrer Kämpfer töten. Die IDF und Israel würden jedoch auch einen hohen Preis zahlen: Sie würden viele Soldaten verlieren und an der Heimatfront grossen Schaden erleiden. Städte und Dörfer in Israel könnten zum ersten Mal der Gefahr ausgesetzt sein, von ankommenden Hisbollah-Raketen getroffen zu werden.
Netanjahu und sein rechtes Kabinett haben systematisch darauf hingearbeitet, den Krieg im Gazastreifen zu einem regionalen Krieg zu eskalieren, mit dem Ziel, den Iran mit ins Spiel zu bringen. Auf diese Weise will er die USA zu einer direkteren Einmischung zwingen und dadurch das militärische Kräfteverhältnis massiv verschieben.
Trotz ihrer Unterstützung Israels will sich die US-Regierung nicht direkt in den Krieg einmischen. Sie ist sich darüber im Klaren, dass eine weitere Eskalation eine enorm destabilisierende Wirkung auf die gesamte Region hätte.
Die USA sind jedoch an die Unterstützung Israels gebunden. Es ist ihr wichtigster Verbündeter in der Region. Was am Mittwoch bei den Vereinten Nationen geschah, ist ein deutliches Zeichen dafür. Die französischen und die britischen Delegationen drängten auf einen Waffenstillstand an der libanesischen Front, doch die USA verhinderten dies mit der Begründung, dass Israel ein «legitimes» Sicherheitsproblem habe und daher eine «komplexere» diplomatische Vereinbarung erforderlich sei.
US-Aussenminister Antony Blinken machte in seiner üblichen Doppelzüngigkeit die Hisbollah für den Konflikt verantwortlich, weil diese seit Beginn des Gaza-Krieges Raketen auf Israel abfeuert. Von den legitimen Rechten der Palästinenser ist bei diesem Herren nie die Rede.
Dann gab es einen separaten Versuch der USA und Frankreichs, Netanjahu dazu zu bringen, einer 21-tägigen Waffenruhe an der libanesischen Front zuzustimmen, um eine Art diplomatische Lösung des Konflikts in Gaza zu ermöglichen. Netanjahu scheint sich vom US-Imperialismus unter Druck gesetzt gefühlt zu haben und erklärte sich mündlich bereit, die Vereinbarung in Erwägung zu ziehen. Doch sobald dies in Israel einen Aufschrei auslöste, insbesondere bei seinen rechtsextremen Kabinettskollegen, machte er sofort einen Rückzieher und erklärte, er habe nie einer solchen Vereinbarung zugestimmt. Sein Hauptanliegen ist es, seine Regierung zusammenzuhalten und im Amt des Ministerpräsidenten zu bleiben.
Netanjahu kann all dies tun, weil er sich voll und ganz der Tatsache bewusst ist, dass die USA nicht von der Unterstützung Israels ablassen werden, egal welche Strategie sie bevorzugen mögen. Dies ist ein Anzeichen für die geschwächte Position der USA auf globaler Ebene. Sie sind nicht mehr der absolute Herr im Haus.
Deshalb verfolgt Netanjahu seinen eigenen Plan, nämlich den Iran zu provozieren, damit er in den Konflikt eintritt. Im April liess er die iranische Botschaft in Syrien bombardieren, wobei sieben iranische Beamte, darunter zwei Elitemilitärkommandeure, getötet wurden. Das iranische Regime reagierte innerhalb von zwei Wochen – allerdings so, dass Israel keinen nennenswerten Schaden davontragen würde. Die Wahrheit ist, dass der Iran keine Eskalation will, die die USA in Zugzwang bringen könnte. Das Problem für das iranische Regime ist, dass Netanjahu genau das will.
Israel hat die Spannungen durch eine Reihe von Provokationen verschärft. Der Angriff mittels Pagern und Walkie-Talkies, der offensichtlich Monate im Voraus geplant wurde, war eine solche Provokation. Aber wir haben auch die jüngsten Luftangriffe in Syrien gesehen, bei denen 14 Menschen getötet und 43 verletzt wurden, als Strassen, militärische Einrichtungen und ein Forschungszentrum in Masyaf getroffen wurden. Zuvor wurde im April die iranische Botschaft in Syrien bombardiert und Ende Juli wurde der Hamas-Führer Haniyeh getötet, als er Gast der iranischen Regierung in Teheran war. Netanjahu provoziert nun ganz offen die Hisbollah zu Vergeltungsangriffen auf Israel, die wiederum von Israel als Rechtfertigung für die gross angelegte Bombardierung des Südlibanon und von Teilen Beiruts benutzt werden.
Ironischerweise wird im Konflikt zwischen Israel und Iran immer der Iran zur «Zurückhaltung» aufgefordert. Dabei ist es gerade der Iran, der sich sehr zurückhaltend verhält. Gemäss einem kürzlich erschienenen Bloomberg-Artikel sagte der iranische Präsident Masoud Pezeshkian:
«’Wir sind bereit unsere Waffen beiseite zu legen, so lange Israel bereit ist dasselbe zu tun’, sagte Pezeshkian den Journalisten… ‘Wir möchten nicht die Region destabilisieren.’ …
‘Wenn ein Krieg in der Region ausbrechen würde, wäre das im Interesse von Niemandem’. sagte er. ‘Wir wollen nicht kämpfen. Es ist Israel, das alle in den Krieg ziehen und die Region destabilisieren möchte.’»
Pezeshkian würde nämlich gerne die Beziehungen zum Westen – auch zu Israel – normalisieren, um die Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran zu erreichen. Aber er kann sich der Tatsache nicht entziehen, dass Netanjahu und seine zionistische Regierung den Iran als existenzielle Bedrohung betrachten. Immerhin steht der Iran kurz davor, eine Atommacht zu werden. Bislang war Israel die einzige Atommacht in der Region.
Der Einfluss des Irans erstreckt sich über die gesamte Region, vom Jemen über den Irak und Syrien bis in den Libanon, wo er mit der Hisbollah seinen stärksten Stellvertreter hat. Deshalb hat die israelische Regierung seit geraumer Zeit die Beseitigung der Bedrohung durch die Hisbollah zu ihrer obersten Priorität erklärt. Die einzige Möglichkeit, dies zu erreichen, ist ein umfassender Krieg im Südlibanon.
Die derzeitigen Kriegsvorbereitungen Israels im Libanon dürften niemanden überraschen. Das Säbelrasseln dauert schon seit einiger Zeit an. Bereits im Juni gab das israelische Militär bekannt, dass hochrangige Offiziere «operative Pläne für eine Offensive im Libanon» genehmigt hätten. Und in regelmässigen Abständen tauchen weitere Bestätigungen für solche Pläne auf.
In der westlichen Presse wird manchmal die Idee geäussert, dass es «gemässigtere» zionistische Politiker gäbe, die eine weitere Eskalation ausschliessen. Wir haben Benny Gantz, der der «Vernünftige» sein soll, d.h. derjenige, auf den man sich in Sachen Mässigung verlassen kann. Gantz befindet sich derzeit in der Opposition zur Regierung Netanjahu. Er setzt sich jedoch nicht für eine Beendigung des Krieges ein. Im Gegenteil, er ist der Meinung, dass Israel seinen Schwerpunkt schon früher vom Gazastreifen auf den Libanon und den Iran hätte verlagern müssen und dass «wir damit zu spät dran sind».
Vergessen wir nicht, dass sich Gantz, der Führer Partei Widerstandskraft für Israel, für den Ausbau der Siedlungen im Westjordanland einsetzt. Diese Leute mögen Meinungsverschiedenheiten über taktische Fragen haben, beispielsweise ob man über einen vorübergehenden Waffenstillstand im Gazastreifen verhandeln soll oder nicht, aber sie alle sind grundsätzlich Zionisten und sind sich einig über das langfristige Projekt, ein Gross-Israel auf Kosten des palästinensischen Volkes aufzubauen.
Im vergangenen Jahr haben Israel und die Hisbollah im Libanon nicht offiziell den Kriegszustand erklärt. Dennoch wurden seit dem Hamas-Angriff im letzten Jahr und vor dem jetzigen massiven Luftangriff bereits 433 Hisbollah-Kämpfer bei Gefechten getötet, weitere 78 Kämpfer anderer Gruppen sowie rund 150 Zivilisten.
Auf israelischer Seite starben 20 IDF-Soldaten und 26 Zivilisten. Das sind insgesamt 700 Tote, bevor der Krieg überhaupt begonnen hat. Hinzu kommen die Toten (zuletzt 37) und Verletzten (über 3000) bei den Pager- und Walkie-Talkie-Angriffen, die vor allem Hisbollah-Funktionäre und -Kommandeure trafen, sowie die über 500 Toten vom Montag. Damit steigt die Gesamtzahl der im Konflikt mit der Hisbollah getöteten Personen im vergangenen Jahr auf weit über Tausend.
Der Pager-Angriff war eindeutig eine massive Verschärfung eines schwelenden Konflikts und Teil der Vorbereitungen für eine Offensive an der libanesischen Grenze.
Am 17. September, dem Tag des Pager-Angriffs, beschloss das israelische Kabinett, die Ziele des gegenwärtigen Krieges auf die Sicherung der Grenze zum Libanon auszuweiten, mit dem Ziel, «die Bewohner des Nordens sicher in ihre Häuser zurückzubringen». Netanjahus Büro fügte hinzu, dass «Israel weiterhin so handeln wird, dass dieses Ziel erreicht wird.» So wie er die Geiseln benutzt hat, um die totale Zerstörung des Gazastreifens zu rechtfertigen, benutzt er nun auf zynische Weise die israelischen Evakuierten aus dem Norden Israels, um ein weiteres Gemetzel im Libanon zu rechtfertigen.
Das israelische Militär und die Geheimdienste hatten Informationen gesammelt, und Militärexperten sagten, dass ein überraschender Luftangriff vorbereitet werde, der die Fähigkeit der Hisbollah, vom Südlibanon aus Raketen abzuschiessen, unterbinden solle. Darauf werde eine Landinvasion folgen, um die Truppen der Hisbollah von der Grenze zurückzudrängen. Die Eskalation des Krieges im Libanon ist nun für alle sichtbar. Und das Risiko, dass der Iran – mindestens zusammen mit dem Jemen, Syrien und dem Irak – involviert wird, wächst ebenfalls.
Wie wir gesehen haben, wird sich ein Krieg zwischen den IDF und der Hisbollah in die Länge ziehen, was eine grosse Zahl von Opfern und massive Zerstörung nach sich ziehen wird. Der Likud-Abgeordnete Nissim Vaturi gab uns eine Vorstellung davon, was die IDF zu tun gedenken, als er sagte, dass der Beiruter Vorort Dahiyeh nach Ausbruch des Krieges «wie Gaza aussehen» werde. Was bedeutet es, «wie Gaza auszusehen»? Es bedeutet, dass Zehntausende von Menschen getötet und die grundlegende Infrastruktur massiv zerstört wird.
Es ist klar, dass die israelische herrschende Klasse in Gaza ihr historisches Ziel verfolgt, die Palästinenser vollständig aus den Gebieten zu vertreiben, die Israel für sich beansprucht. Das Problem ist, dass ein solcher Plan nicht leicht zu erreichen ist. Es gibt ein ganzes Volk, das sich diesem Ziel widersetzt und bereit ist, zu kämpfen und zu sterben, um das zu behalten, was von seiner historischen Heimat übrig geblieben ist. Das erklärt, warum Netanjahus Krieg gegen Gaza nicht das erklärte Ziel erreicht, die Sicherheit Israels zu gewährleisten.
Die israelische Armee kann die Infrastruktur in Gaza zerstören, sie kann viele Hamas-Kämpfer töten, aber sie schafft damit die Voraussetzungen für eine neue Generation von Kämpfern. Mit seinem barbarischen Angriff auf den Gazastreifen, mit seinen verstärkten Übergriffen auf das Westjordanland und mit der fortgesetzten Kolonialisierung palästinensischen Landes drängt Israel breitere Schichten palästinensischer Jugendlicher dazu, sich freiwillig dem Kampf anzuschliessen. In der Tat deutet alles darauf hin, dass die Hamas nach dem Rückzug der israelischen Armee aus den zuvor eingenommenen Gebieten des Gazastreifens das Ruder übernimmt.
Das Gleiche wird im Libanon gelten. Sie können bombardieren, sie können töten und sie können die Infrastruktur zerstören. Aber alles, was sie damit erreichen, ist, den Unmut im gesamten Libanon zu vergrössern. Diejenigen, die derzeit im Libanon bombardiert werden, werden in Zukunft zu potenziellen neuen Rekruten für die Kampftruppen, die sich gegen Israel stellen.
Bereits im Juni erklärte der Chef der IDF-Sprechereinheit, Konteradmiral Daniel Hagari, in einem Interview mit dem israelischen Fernsehsender Channel 13: «Die Vorstellung die Hamas zu zerstören, sie verschwinden zu lassen – das ist einfach nur Augenwischerei für die Öffentlichkeit. Die Hamas ist eine Idee, die Hamas ist eine Partei. Sie ist in den Herzen der Menschen verwurzelt – jeder, der glaubt, wir könnten die Hamas beseitigen, liegt falsch.» Er erklärte, dass eine politische Lösung gefunden werden müsse. Als führender militärischer Vertreter Israels weiss Hagari, wovon er hier spricht.
Das Problem ist, dass Netanjahu nicht so denkt wie das Militär, und dass er selbst gute Gründe hat, auf eine Eskalation des Krieges zu drängen. Bereits Ende August lieferten sich das israelische Militär und die Hisbollah den heftigsten Schusswechsel seit Oktober des letzten Jahres. Die Washington Post beschrieb dies als «eine dramatische, aber begrenzte Eskalation, die kurz vor einem umfassenden Krieg Halt machte». Seitdem hat sich die Situation weiterentwickelt.
Sollte sich der Angriff auf den Libanon zu einem langwierigen Krieg auswachsen, hätte dies schwerwiegende Folgen sowohl für Israel als auch für die gesamte Region. Die israelische Gesellschaft steht unter enormem Druck. Einige Zahlen genügen, um dies zu verdeutlichen.
Die israelische Wirtschaft befindet sich in einem starken Abschwung. Nach einem steilen Rückgang von 4,1% des BIP in den Wochen nach dem 7. Oktober ging es in den ersten beiden Quartalen 2024 weiter bergab, wobei für das Jahr insgesamt nur ein Wachstum von 1,5% prognostiziert wird. Die Israels Zentralbank geht davon aus, dass die Gesamtkosten des Krieges bis 2025 67 Milliarden US-Dollar erreichen werden, was die Regierung zwingen könnte, die Ausgaben für Sozialleistungen, Bildung und andere Dienstleistungen zu kürzen, während gleichzeitig ihr Haushaltsdefizit weiter wächst.
Das Baugewerbe befindet sich wegen Arbeitskräftemangels in einer Krise – es fehlen 140’000 palästinensische Arbeiter aus dem Westjordanland. Auch die Landwirtschaft hat einen schweren Schlag erlitten. Bis zu 60’000 Betriebe müssen möglicherweise noch vor Jahresende schliessen, weil ein Großteil ihrer Arbeitskräfte für die Armee eingezogen wurde.
Das erklärt die enormen Spannungen in der israelischen Gesellschaft als Ganzes. Rund die Hälfte der israelischen Technologieunternehmen haben 5-10% ihrer Mitarbeiter entlassen. 22% der israelischen Obst- und Gemüseernte wurde beschädigt. Zehntausende von Geschäften haben geschlossen. Der Tourismus ist nahezu zusammengebrochen. Die Bevölkerung lebt mit der Gefahr einer Eskalation des Krieges, bei der ihre Wohnviertel von Raketen getroffen werden könnten. All dies erklärt, warum der Konsum von Suchtmitteln und Schlaftabletten im letzten Jahr massiv zugenommen hat. Und die Zahl derer, die das Land verlassen, ist weit höher als die derer, die einreisen.
Dies erklärt auch die tiefen Gräben, die die israelische Gesellschaft durchziehen. Diese kamen deutlich in den massiven Protesten gegen Netanjahu zum Ausdruck wegen der Art und Weise, wie er die Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln führt. Vielen wurde klar, dass Netanjahu kein wirkliches Interesse an der Rettung der Geiseln hat.
Seine sture Position in Bezug auf den Philadelphi-Korridor zeigt, dass die Geiseln ihn nicht kümmern. Dies ist Teil seiner Gesamtstrategie, jede Art von Verhandlungen zu vermeiden, die einen Waffenstillstand beinhalten könnten. Wie wir sehen, ist Netanjahu weit davon entfernt, ein Abkommen anzustreben, das den Krieg beenden könnte. Stattdessen drängt er auf einen viel grösseren Flächenbrand. Dafür wird er später einen hohen Preis zahlen müssen, aber im Moment geht seine Strategie auf.
Netanjahu kümmert sich nicht um die Geiseln. Das ist offensichtlich. Er kümmert sich auch nicht um die äusserst destabilisierende Wirkung, die seine Kriegstreiberei im gesamten Nahen Osten hat. Aber Millionen von Arbeitern in der ganzen Region sehen das Gemetzel in Gaza, die Angriffe auf das Westjordanland und jetzt den eskalierenden Krieg im Libanon. Sie haben auch zugesehen, wie Israel ungestraft Angriffe in Syrien und im Iran durchgeführt hat.
Dies führt zu einer enormen Wut unter den arabischen Massen in der ganzen Region. Dazu kommt die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in ihren eigenen Ländern.
Zwei Nachbar-Regime Israels, Ägypten und Jordanien – beides Länder, die seit langem diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu Israel pflegen – sehen sich einem wachsenden Druck aus den Tiefen der Gesellschaft ausgesetzt. Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen verschlechtern sich von Tag zu Tag und die Krise des Weltkapitalismus reisst sie in den Abgrund.
Im März gewährte der IWF Ägypten ein 8-Milliarden-Dollar-Kreditpaket, das laut einem Bericht von Anfang dieses Jahres «…auf ein liberalisiertes Devisensystem im Rahmen eines flexiblen Wechselkurssystems, eine deutliche Straffung des Policy-Mix, eine Kürzung der öffentlichen Investitionen und eine Angleichung der Wettbewerbsbedingungen abzielt, damit der Privatsektor zum Wachstumsmotor werden kann.»
In der Praxis bedeutet dies Privatisierungen und Kürzungen der öffentlichen Subventionen für lebenswichtige Güter, was zu höheren Preisen für die breite Masse der Bevölkerung führt. Die Inflation liegt bei über 30%. Die Strompreise wurden im August im Rahmen einer Vereinbarung mit dem IWF um bis zu 50 Prozent erhöht. Auch die Subventionen für Treibstoff wurden gekürzt. Die Gas- und Wasserrechnungen steigen, und der Preis für Brot hat sich im Juni vervierfacht. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung waren auf subventioniertes Brot angewiesen, um zu überleben. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen, da die Regierung gezwungen ist, strenge Sparmassnahmen durchzusetzen. Millionen von Familien können so kaum noch überleben.
In Jordanien haben wir eine ähnliche Situation: In den letzten zehn Jahren hat die Regierung – ebenfalls auf Druck des IWF, da die Staatsverschuldung in die Höhe geschossen ist – die Subventionen für Treibstoff und Brot gestrichen, die Steuern erhöht und den Strompreis angehoben. Infolgedessen stieg die Armutsquote zwischen 2018 und 2022 von 15 auf 24 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei rund 22 Prozent.
Im oben zitierten Bericht erklärt der IWF: «Das schwierige aussenwirtschaftliche Umfeld, das durch den Krieg Russlands in der Ukraine entstanden ist, wurde in der Folge durch den Konflikt im Gazastreifen und in Israel sowie durch die Spannungen am Roten Meer noch verschärft.» Der Krieg in der Ukraine hat die Getreidelieferungen stark beeinträchtigt und sowohl zu Engpässen als auch zu Preiserhöhungen geführt. Das zeigt, wie sich der Krieg auf den Lebensstandard von Millionen einfacher Arbeiter in der arabischen Welt auswirkt.
Die Auswirkungen des Krieges sind jedoch nicht nur wirtschaftlicher Natur. Er hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Bewusstsein. Die arabischen Massen sehen, wie dieselben Regierungen, die ihnen Sparmassnahmen aufzwingen, de facto Israel unterstützen in dessen Krieg gegen ihre palästinensischen Brüder und Schwestern.
Bereits im April, als der Iran gegen einen israelischen Angriff Vergeltung übte, beteiligte sich das jordanische Militär aktiv am Abschuss der iranischen Raketen und Drohnen über seinem Luftraum. In den Monaten nach dem 7. Oktober kam es in Jordanien zu Massenprotesten, gegen die die Regierung hart vorging. Das führte nur dazu, den jordanischen Monarchen als De-facto-Verbündeten Israels und des US-Imperialismus zu entlarven.
All dies hat sowohl in Jordanien als auch in Ägypten zu einer äusserst instabilen Situation geführt. Beide Regime stehen am Rande des Abgrunds und könnten mit massiven revolutionären Umwälzungen konfrontiert werden, wenn der Krieg weiter eskaliert. Im April veröffentlichte die Zeitschrift Foreign Affairs einen Artikel mit dem Titel «Die bevorstehende arabische Gegenreaktion», in dem es heisst: «Da fast alle arabischen Länder ausserhalb der Golfstaaten unter extremen wirtschaftlichen Problemen leiden und dementsprechend ein Höchstmass an Repression ausüben, müssen die Regimes noch vorsichtiger auf Themen wie den israelisch-palästinensischen Konflikt reagieren.» Der Artikel ruft den Lesern den Arabischen Frühling 2011 ins Gedächtnis und unterstreicht die Tatsache, dass sich dieser wiederholen könne. Sehr wahre Worte.
Die Auswirkungen der Situation in Gaza und nun im Libanon gehen jedoch weit über den Nahen Osten hinaus. Überall in der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt, von den USA über Europa bis nach Australien und vielen weiteren Ländern, haben wir Massenproteste in Solidarität mit den Palästinensern erlebt.
In London gab es Kundgebungen mit über einer Million Menschen. An vielen Universitäten kam es zu Besetzungen. Und wir haben gesehen, wie in vielen Ländern der Krieg in Gaza zu einem Schlüsselelement der lokalen Politik geworden ist. In Grossbritannien hat er das Wahlverhalten vieler Leute beeinflusst, und er ist auch ein Faktor dafür, wie bestimmte Swing States bei den bevorstehenden US-Wahlen abstimmen werden.
Das alles beschäftigt die seriösen bürgerlichen Berater, die immer wieder vor den Folgen einer Eskalation des Krieges im Nahen Osten warnen. Doch Netanjahu kümmert das alles nicht. Er denkt nur an seine engstirnigen persönlichen Interessen und an seine eigene politische Karriere. Eines seiner Ziele ist, wie wir gesehen haben, irgendwie die USA mit reinzuziehen. Sollte der Krieg eskalieren und den Iran miteinbeziehen, wären die USA gezwungen, Israel zu unterstützen.
Sollten die USA direkt in den Krieg involviert werden, könnte das vor ihrer eigenen Haustür einen Effekt wie beim Vietnamkrieg auslösen. Es würde die Jugend Amerikas weit mehr radikalisieren als bisher. Ähnliches würde in ganz Europa passieren.
All dies geschieht vor dem Hintergrund des laufenden Krieges in der Ukraine. Dieselben Politiker, die Israel unterstützen, drängen auch auf eine Verschärfung des Ukraine-Kriegs und fordern, dass das ukrainische Militär das Recht erhält, vom Westen bereitgestellte Waffen einzusetzen, die tief ins Innere von Russland vordringen können.
Millionen von Menschen auf der ganzen Welt erleben ein Schauspiel, bei dem diese sogenannten «Anführer» bereit sind, mit dem Risiko einer grossen militärischen Konfrontation zwischen den NATO-Ländern und Russland zu spielen und damit das Leben ihrer eigenen Bevölkerung in Gefahr zu bringen. Personen wie Netanjahu und Zelensky sind bereit, die ganze Welt in Richtung Untergang zu treiben und dabei das Leben von Hunderten von Millionen Menschen zu riskieren. Und das alles für ihre eigenen kurzfristigen Interessen.
Der Krieg im Nahen Osten verbindet sich also mit dem Krieg in der Ukraine. Es sind zwei separate Fronten, aber an beiden ist dieselbe imperialistische Macht beteiligt: die USA und ihre NATO-Verbündeten. Auf der anderen Seite haben wir an der ukrainischen Front Russland. Aber Russland ist auch in einem De-facto-Bündnis mit dem Iran, und wenn die Lage eskalieren würde, müsste China Russland unterstützen. China ist sich bewusst, dass die USA versuchen, ihren Zugang zu den Weltmärkten zu erschweren.
Israels Krieg hat also weltweite Auswirkungen. Kurzfristig wird eine Ausweitung des Krieges auf den Libanon, der auch andere Länder mit hineinziehen könnte, unmittelbare wirtschaftliche Konsequenzen haben. Viele Länder befinden sich entweder bereits in einer Rezession oder stagnieren und stehen kurz davor. Eine Ausweitung des Krieges würde die ohnehin schon taumelnde Weltwirtschaft in eine tiefe Krise stürzen, wie dies bereits 1973/74 der Fall war.
Viele Leute mögen denken, dass Israel weit weg ist und dass die Ereignisse dort sie nicht betreffen. Aber es ist näher, als sie denken. Und sie werden die Auswirkungen bald spüren. Die kommende Gegenreaktion wird nicht nur die arabische Welt betreffen. Die Arbeiter und Jugendlichen weltweit leiden unter den Auswirkungen von Inflation, niedrigen Löhnen, fehlenden Arbeitsplätzen und Kürzungen im öffentlichen Dienst. Und sie sehen, dass dieselben Regierungen, die ihnen all das aufbürden, gleichzeitig Kriege schüren und dafür Milliarden von Dollar ausgeben.
Der Kampf für die Befreiung des palästinensischen Volkes, für die Verteidigung des Libanon gegen Israels Angriffe und gegen eine weltweite Ausbreitung des Krieges beginnt zu Hause, gegen unsere eigenen Regierungen. Solange diese Leute an der Macht sind, werden sie weiter mit dem Leben von Millionen Menschen spielen. Unsere Aufgabe ist es, sie zu stürzen, und mit ihnen das ganze verrottete System, das sie repräsentieren. Wenn du Frieden zwischen den Nationen willst, musst du aktiv werden im Krieg zwischen den Klassen.
Arbeiterbewegung — von Martin Kohler, Bern — 10. 10. 2024
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