Es waren die größten Proteste in Russland seit den Massenprotesten, im Zuge der Parlamentswahlen 2011 und Präsidentschaftswahlen 2012, bei denen Vorwürfe zu Wahlfälschungen laut wurden. Diese Proteste wurden damals brutal vom Staatsapparat niedergeschlagen und hohe Gefängnisstrafen verteilt, weshalb bis zum 26.03. keine Massendemonstrationen mehr stattfanden. Die jüngsten Proteste zeigen zwei bedeutsame Umstände. Erstens machten Schätzungen zufolge Jugendliche und junge Erwachsene, aber auch Kinder etwa 50 Prozent der Demonstrierenden aus. Des Weiteren fanden die Proteste über das ganze Land verteilt statt, insgesamt waren es mehr als 80 Protestaktionen, von denen nur 21 genehmigt waren. Der Staat wurde von dem Ausmaß der Proteste offenkundig überrascht, ließ aber auch diesmal die Polizei hart durchgreifen. So wurden allein in Moskau über 900 Personen festgenommen, darunter auch viele Jugendliche.
Alexei Nawalny
Zu den Protesten hat Alexei Nawalny aufgerufen. Er ist Gründer der Nichtregierungsorganisation „Fonds zur Korruptionsbekämpfung“, die sich damit beschäftigt, korrupte Machenschaften staatlicher Amtsträger offenzulegen. Außerdem ist er der Vorsitzende der „Fortschrittspartei“ und möchte für die Präsidentschaftswahl 2018 in Russland kandidieren. Er präsentiert sich als fortschrittlicher Kämpfer für Gerechtigkeit, der möglichst jedem russischen Staatbürger ein würdevolles Leben ermöglichen möchte. Das Parteiprogramm, mit dem Alexei Nawalny auftritt, zeichnet das Idealbild eines nationalistischen, aber humanistischen Kapitalismus.
Für die Lohnabhängigen soll ein Mindestlohn von 25.000 Rubel (ca. 410€) monatlich eingerichtet werden. Durch die Liberalisierung des Wohnungsbaus, erhofft er sich einen Anstieg von bezahlbarem Wohnraum und will durch Vergabe von billigen Krediten an Privatpersonen jedem Haushalt mit zwei Arbeitenden den Traum vom Eigenheim erfüllen.
Besondere Gunst sollen Betriebe, Kleinunternehmen aber auch mittelständische Unternehmen erfahren. Für diese sind, abhängig von ihren Einnahmen, sogar völlige Steuerfreiheit und das Wegfallen von Rechnungslegung und sonstigen Regulierungen geplant, wovon sich Nawalny einen Anstieg von Arbeitsplätzen, Wirtschaftswachstum, Wachstum der Unternehmen verspricht.
Desweiteren fordert er eine Privatisierung der öffentlichen Sektoren, damit auch diese durch erhöhte Wirtschaftlichkeit den Lebensstandard in Russland anheben. Konzerne sollen zwar hohe Steuerabgaben leisten, ihnen wird aber eine starke Annäherung, bzw. sogar Integration auf dem europäischen Markt versprochen, ebenso auch in Asien, mit dem klaren Ziel, Russland zum führenden Nationalstaat Europas und Asiens zu machen. Mit anderen Worten soll der russische Imperialismus weiter befeuert werden.
Immer wieder wird aber besonders Wert auf den Kampf gegen die Korruption gelegt. In Nawalnys Augen muss diese die Ursache allen Übels sein. Nicht die Ausbeutung der Arbeitskraft der Lohnabhängigen und das Profitstreben der Kapitalisten sind Ursache der Ungerechtigkeit, sondern korrupte Politiker, Richter und schlecht bezahlte Polizisten.
Das sind nur einige der Forderungen – aber diese, wie optimistisch sie auch formuliert sein mögen, sind offenkundig Angriffe auf die Arbeiterklasse. Wenn eine weitere Liberalisierung des Marktes (an einer Stelle seines Programms wird vom „verabsolutierten freien Markt“ gesprochen,) erfolgen, dann bedeutet dies für die russische Arbeiterklasse eine weitere Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen und höhere Gewinne für die Kapitalisten. Eine Befreiung der klein- und mittelständischen Unternehmen von jeglicher Reglementierung wird zur weiteren Verschlechterung des Arbeitsschutzes, der Löhne und anderer Errungenschaften der Arbeiterklasse führen. Ebenso ist ein liberalisierter Immobilienmarkt, gepaart mit billigen Krediten an Privatpersonen, wie wir am Beispiel der USA sehen und fühlen durften, eine tickende Zeitbombe. Es wird unausweichlich zu einer Blasenbildung kommen, die, wenn die Blase dann platzt, zu schweren Wirtschaftskrisen nicht nur in Russland führen wird. Auch das wird in erster Linie eine drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse nach sich ziehen. Last but not least ist Imperialismus stets ein Angriff auf die Lebensumstände der Arbeiterklasse anderer Nationalstaaten. So entlarvt sich das optimistisch geschriebene Parteiprogramm als heimtückische Kriegserklärung gegen die Arbieterklasse.
Die Demonstrierenden
Nawalny nutzt einen professionellen Internetauftritt, um sowohl die Arbeit des „Fonds zur Korruptionsbekämpfung“ publik zu machen, als auch für seine Kandidatur zu mobilisieren. Dabei präsentiert er sich wissenschaftlich, ehrlich, ehrgeizig und kämpferisch, was besonders durch die Aufmachung der Internetauftritte die junge Generation anlockt. Von großer Bedeutung für die jüngsten Proteste waren Korruptionsvorwürfe an die Adresse des Premierministers Dmitiri Medwedew durch den „Fonds zur Korruptionsbekämpfung“ in Form der Dokumentation „On vam ne Dimon“ („Für euch heißt er nicht Dimon“), zu denen Medwedew keine Stellung genommen hat. Im Rahmen dieser Ereignisse hat Nawalny zu Demonstrationen mobilisiert. So sind viele Demonstrierende mit dem Anliegen auf die Straße gegangen um gezielt Medwedew aber auch gegen die in Russland vorherrschende Korruption im Allgemeinen ein Zeichen zu setzten. In Interviews äußern sie sich deutlich, „Die da oben gegen uns“, „Die da oben fürchten uns, seht nur das Polizeiaufgebot“, „Schande“, „Wenn wir so weitermachen, dann werden sie auf unsere Forderungen eingehen müssen“. Die Forderungen sind eine sichere Zukunft, Leben in Würde, Arbeit, freie Bildung, um nur einige zu nennen.
Die Jugend hat insbesondere über die Sozialen Netzwerke zu den Demonstrationen mobilisiert. Das Internet stellt für sie eine wichtiges Informations- und Austauschmedium für politische Bildung und Diskussion dar, da eine starke Abneigung gegenüber dem gleichgeschalteten Fernsehen besteht.
Die Demonstrierenden sind äußerst heterogen, sowohl was ihre Vorstellungen, als auch was ihre soziale Stellung in der Gesellschaft betrifft. Sie äußern zu großen Teilen einen starken Nationalismus und empfinden das Vorgehen der Mächtigen als Schande und Verrat am Volk. Eins aber eint die meisten: Der Gedanke, dass sich etwas ändern muss. Für viele bedeutet dies, dass die Partei „Vereinigtes Russland“ und die Clique um Putin abdanken muss. Deswegen ist es notwendig, dass linke und insbesondere marxistische Kräfte diese allgemeine Wut, Unsicherheit und den Durst nach Veränderung in eine klare Richtung bewegen und für einen Kampf für die Befreiung der Menschen vom Schrecken des Kapitalismus einen, damit sich nicht nationalistische und liberale Kräfte dies zunutze machen. Denn dann würden Ausbeutung und Elend der Massen erhalten und nur die Gesichter der Herrschenden ausgetauscht werden.
Nah-Ost — von der Redaktion von marxist.com — 07. 11. 2024
Nordamerika — von Revolutionary Communists of America — 05. 11. 2024