Die Parlamentswahlen in Kosovo am 14 . Februar 2021 endeten mit einem erdrutschartigen Wahlsieg der linken „Bewegung für Selbstbestimmung“ Vetëvendosje (VV).
VV gewann mehr als 20 Prozentpunkte im Vergleich zur letzten Wahl 2019 und kommt neu auf über 50%. Alle bürgerlichen und rechten Parteien erlitten massive Verluste, ebenso die sozialdemokratische Partei, die nur 2,5% erzielte und damit nicht im Parlament vertreten sein wird. Nach aktuellem Stand kann VV mit 58 von 120 Sitzen im Parlament rechnen. VV-Spitzenkandidat Albin Kurti erreichte mehr als 370.000 persönliche Vorzugsstimmen. Mit einiger Sicherheit werden sie eine Regierung mit absoluter Mehrheit bilden können.
Dieser Wahlerfolg markiert einen wichtigen Umbruch nach Kurtis erster, kurzer Regierungszeit zwischen Februar und Juni 2020. Seine Regierung, die sich auf die Unterstützung konservativer Kräfte verließ, wurde damals in einem von Ex-US-Präsident Trump angezettelten Manöver gestürzt. Dadurch wurden die vorgezogenen Neuwahlen ausgelöst.
Die Wurzeln von VV liegen in der links-nationalistischen Volksbewegung, die zur Unabhängigkeit des Kosovo führte. Doch der Schwerpunkt der Politik von VV und Kurti liegt auf sozialen Fragen. Das ist auch der Hauptgrund für den grossen Zulauf.
Das VV-Programm ist linkssozialdemokratisch – ein Reformprogramm, das einige der grundlegenden Bedürfnisse der Arbeiterklasse und der Jugend aufgreift. Dazu gehören ein Ende der Privatisierung wichtiger Ressourcen und Bodenschätze Kosovos, eine Anhebung des Mindestlohns, die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung und einer Arbeitslosenversicherung, der Schutz von Arbeiterrechten am Arbeitsplatz und Kontrollen der Arbeitssicherheit, eine Erhöhung der Renten sowie gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Deshalb liegt der Anteil der jungen Frauen, die VV wählten, bei weit über 60%. VV erwies sich auch als die überwältigende Wahl der Jugend (die Hälfte der Bevölkerung in Kosovos ist unter 25 Jahre alt), der ArbeiterInnen und Kleinbauern. In allen grossen Städten gewann VV mit grossem Abstand, in der Hauptstadt Prishtina gar 64 Prozent.
All diese bescheidenen Reformforderungen sind bitter nötig: Kosovo ist das ärmste Land in Europa, der kapitalistische Privatisierungsprozess seit den 1990ern war und ist für Kosovo ein absolutes Desaster. Die Hauptinvestoren – türkische, US-amerikanische und deutsche Konzerne sowie deutsche und österreichische Banken – schlossen entweder wichtige Produktionsstätten oder führten massive Sparmassnahmen durch. Nach Angaben der Weltbank leben 30% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze (Einkommen unter 1,37 Euro pro Tag und Erwachsener) und 12% sogar unterhalb der Grenze extremer Armut (Einkommen unter 0,93 Euro pro Tag und Erwachsener). Die Preise sind bis auf Kaffee und Zigaretten weitgehend mit denen in Mitteleuropa vergleichbar. Die offizielle Arbeitslosigkeit kratzt an der 30%-Marke, in Wahrheit dürfte sie aber weit höher sein. Erziehung und Bildung sind unterfinanziert. Die Gesundheitsdaten der Bewohner gehören zu den schlechtesten in Südosteuropa. Das macht sich jetzt besonders in der Corona-Pandemie bemerkbar: Kosovo ist Corona-Hotspot. Kurti hat nun in allererster Linie «neue Jobs» und eine «bessere Bezahlung» versprochen. Dabei muss er auch gegen Mafiastrukturen kämpfen, denn Korruption und Schmiergelder bestimmen das staatliche Handeln auf allen Ebenen. Die Erwartungen in ihn sind riesig.
Einmal an der Macht, wird Kurti schnell unter Druck kommen, sein Reformprogramm aufzugeben. Selbst bescheidene Reformen im Interesse der Jugend und der ArbeiterInnen sind im schwachen Kosovo-Kapitalismus nicht durchsetzbar, ohne auf den massiven Widerstand der imperialistischen Kräfte zu stossen. Um also Reformen durchsetzen zu können, muss mit der kapitalistischen Logik gebrochen werden – doch dazu ist die linkssozialdemokratische Partei nicht bereit.
Druck, ihr Programm umzustossen, wird es auch von den konservativsten Elementen innerhalb der Partei geben. Offiziell wird behauptet, dass es in der VV keine Flügel gebe. Das entspricht aber nicht der Wahrheit: Sie ist ein Bündnis zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kräften. Doch wenn sie die Partei der Arbeiterklasse und der Jugend bleiben soll, dann ist es dringend notwendig, den linken Flügel zu stärken, marxistische Ideen zu verankern und eine marxistische Strömung aufzubauen.
VV will, wie der Name sagt, Selbstbestimmung für den Kosovo, und Kurti forderte im Wahlkampf die Vereinigung mit Albanien. Für MarxistInnen ist das nationale Selbstbestimmungsrecht ein demokratisches Recht, welches wir insbesondere gegen imperialistische Kräfte verteidigen. Sie bevorzugen die Kleinstaaterei auf dem Balkan, weil sie über Mini-Staaten besser herrschen können. Doch die Frage der nationalen Selbstbestimmung kann nicht unter rein ethnischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Eine Vereinigung von Kosovo und Albanien auf kapitalistischer Basis würde die Probleme der Arbeiterklasse weder im Kosovo noch in Albanien lösen. Nur ein Bruch mit dem Kapitalismus kann sie aus der Zwickmühle der Abhängigkeit von den Imperialisten und der ethnischen Konflikte befreien. Die Basis dafür muss ein revolutionäres Programm der Arbeiterklasse der ganzen Region sein. Was die Ausbeuter am meisten fürchten, ist die Vereinigung der Arbeiterklasse und linken Kräfte in Albanien, im Kosovo und auf dem gesamten Balkan, rund um ein sozialistisches Programm.
Der Wahlsieg von VV kann für die ganze Region ein wichtiger Schritt werden, denn seit langem hat wieder eine Partei mit einem fortschrittlichen Reformprogramm eine Wahl gewonnen. Das trifft auf eine Situation, wo es seit einigen Jahren, sei es in Serbien, Bosnien oder anderswo, eine gewisse Reaktivierung und Radikalisierung der Arbeiterklasse und auch der Gewerkschaftsbewegung gibt. Die Kapitalisten, ebenso wie die imperialistischen Plünderer des Reichtums dieser Länder, werden sich mit Händen und Füssen dagegen wehren, dass wirkliche progressive Reformen durchgeführt werden. Die Zeichen stehen also auf eine Verschärfung des Klassenkampfes. Die Arbeiterklasse der Region wird nur erfolgreich sein, wenn sie über Landes- und ethnische Grenzen hinweg vereint kämpft. Das kann sie nur auf der Grundlage eines revolutionären Programms.
Die SP-Führung um Meyer/Wermuth unterstützt zurecht Kurti und VV öffentlich. Die ArbeiterInnen in der Schweiz und im Kosovo haben die gleichen Interessen und werden beide für die Krise zur Kasse gebeten. Darunter werden auch die wichtigen Zahlungen aus der Diaspora der ganzen Welt in den Kosovo leiden, die rund 20% des BIPs ausmachen – vor allem, weil MigrantInnen zu den von der Krise am härtesten getroffenen Schichten gehören. Internationalismus bedeutet deshalb nicht nur Unterstützung in Worten, sondern den bedingungslosen Kampf für die Interessen der Arbeiterklasse, in der Schweiz wie im Kosovo. Konsequenterweise bedeutet das den Bruch mit dem Kapitalismus. Davor schrecken die ReformistInnen zurück – und deshalb müssen wir die marxistische Strömung aufbauen. In der Schweiz, im Kosovo, auf dem ganzen Balkan und in der ganzen Welt!
Max Brym
International Marxist Tendency
Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, von AgronBeqiri
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