Koalitionsverträge sind erst einmal Papier voller Absichtserklärungen der beteiligten Parteien. Die von CDU, CSU und SPD vorgelegten 184 Seiten sind voller fauler Kompromisse und verheissen bis auf wenige Bonbons insgesamt keinen fortschrittlichen Politikwechsel und keine Verbesserung des Lebensverhältnisse, sondern ein „Weiter So“ mit Kanzlerin Merkel.
Es ist ein Vertrag der Superlative, der 130 Prüfaufträge, 484 mal das Wort „wollen“, 109 mal das Wort „sollen“ und 15 mal „sollte“ enthält. Klar ist auch: „Finanzierungsvorbehalt“ und Bekenntnis zur „konsequenten Einhaltung der Schuldenbremse“ könnten viele versprochene Vorhaben rasch zur Makulatur machen. Schliesslich hat die SPD schon vor den Koalitionsverhandlungen ihre Forderung im Wahlprogramm nach mehr Steuereinnahmen und Steuergerechtigkeit etwa durch Einführung einer Vermögenssteuer und einen höheren Spitzensteuersatz sang- und klanglos begraben. Zwar beschrieb schon der Reichtums-und Armutsbericht der alten Bundesregierung, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich in den letzten 10 Jahren deutlich vergrössert hat. Doch dies bleibt folgenlos.
Mindestlohn
Die SPD-Führung richtete während der Verhandlungen alle Aufmerksamkeit auf die Themen Mindestlohn und Doppelte Staatsbürgerschaft. Ohne diese zwei Punkte werde er keinen Vertrag unterschreiben, versprach SPD-Chef Gabriel. Wie sieht dieser gesetzliche Mindestlohn nun aus? Auf jeden Fall löchrig: „Wir werden das Gesetz im Dialog mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern aller Branchen, in denen der Mindestlohn wirksam wird, erarbeiten und mögliche Probleme, z.B. bei der Saisonarbeit, bei der Umsetzung berücksichtigen.“ Für viele soll der Mindestlohn 2015 kommen, nach dem Auslaufen von Ausnahmeregelungen soll er offiziell für alle erst ab 2017 gelten. Welche Kaufkraft werden dann 8,50 Euro noch haben? Seine Höhe kann erstmals zum 1. Januar 2018 „von einer Kommission der Tarifpartner überprüft, gegebenenfalls angepasst“ werden. „Existenzsichernd“, wie im Vertrag behauptet, sind 8,50 Euro übrigens bei weitem nicht (siehe Seite 11). Eine Mindestausbildungsvergütung wird es ebenso wenig geben wie ein Ausbau des BaföG.
Auch bei der längst überfälligen Doppelten Staatsbürgerschaft hat es wieder nur für einen halbherzigen Schritt gereicht: „Für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der Optionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert“, so der Vertrag. Warum haben nur die hier geborenen Kinder Anspruch auf die doppelte Staatsbürgerschaft und nicht auch ihre Eltern, die vielfach seit Jahrzehnten in diesem Land leben und arbeiten? Somit dürfen Millionen Menschen weiterhin auch nicht an Wahlen teilnehmen und bleibt es bei der Ungleichbehandlung zwischen zugezogenen EU-Bürgern, die beim Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft ihre alte behalten dürfen, und etwa Türken geben, die ihren alten Pass abgeben müssen.
Statt der auch im SPD-Wahlprogramm geforderten „solidarischen Bürgerversicherung“ legt der Vertrag für die Gesetzliche Krankenversicherung fest: „Der allgemeine paritätisch finanzierte Beitragssatz wird bei 14,6 Prozent festgesetzt, der Arbeitgeberanteil damit bei 7,3 Prozent gesetzlich festgeschrieben.“ Das heisst im Klartext, dass sich die Arbeitgeber weiter aus der paritätischen Finanzierung ausklinken dürfen und die Masse der Versicherten und abhängig Beschäftigten in Form von einseitigen Zusatzbeiträgen für drohenden Kostensteigerungen aufkommen müssen. Von einer paritätischen und solidarischen Beitragsfinanzierung sind wir meilenweit entfernt. Es bleibt bei der Zwei-Klassen-Medizin.
Leiharbeit
Der „Missbrauch von Werkverträgen“ soll verhindert werden. Warten wir die Taten ab. Leiharbeiter sollen künftig immerhin „spätestens nach neun Monaten hinsichtlich des Arbeitsentgelts mit den Stammarbeitnehmern gleichgestellt werden“, so der Vertrag. Warum nicht sofort und ab der ersten Stunde gleicher Lohn für gleiche Arbeit? Warum keine Gleichstellung bei den übrigen Arbeitsbedingungen und Übernahme in die Stammbelegschaft? Warum ist aus der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen und anderen Forderungen gegen prekäre Arbeit nichts geworden? Es ist zu befürchten ist, dass viele Leiharbeiter vor Ablauf der ersten neun Monate wieder auf der Strasse stehen.
Auch wenn der Vertrag gleich 14 mal das Wort „Daseinsvorsorge“ enthält, öffnet er doch die Tür für weitere Privatisierungen. Dies geschieht unter dem modernen Mäntelchen einer „Fortentwicklung von Öffentlich-Privaten-Partnerschaften (ÖPP)“ und dem Ziel, die „Möglichkeiten der Zusammenarbeit von öffentlichen und privaten Geldgebern oder Infrastrukturgesellschaften als zusätzliche Beschaffungsvariante“ zu nutzen. Auch Begriffe im Zusammenhang mit dem Eisenbahnwesen wie „diskriminierungsfreier Marktzugang“ und „Chancen privater Bahnen im Wettbewerb weiter stärken“ sind nichts anderes als Kampfparolen der Privatisierungslobby. Einen Kurswechsel in der Aussen-, Europa- und Militärpolitik und eine parlamentarische Kontrolle und Beschränkung von Rüstungsexporten wird es nicht geben. Damit haben Kanzlerin und Finanzminister weiterhin freie Hand für die brutalen Krisendiktate gegenüber Griechenland und anderen Ländern. Im Vertrag findet sich auch kein Wort zum Freihandelsabkommen mit den USA. Eine Neuorientierung der Flüchtlingspolitik der EU fndet nicht statt.
Natürlich enthält der Vertrag auch einzelne Bonbons und Häppchen, mit denen man die Gewerkschaftsspitzen und die SPD-Basis beruhigen und ins Boot zu ziehen will. So soll es ab Juli 2014 für alle ab 63 Jahren nach 45 Beitragsjahren eine abschlagsfreie Rente geben. Der haken dabei: Sie kommt nur einer überschaubaren Zahl von Menschen zugute und soll parallel zur „Rente 67“ rasch auf 65 angehoben werden. So ändert sich nichts an der heftig kritisierten Rente erst mit 67 und den Verschlechterungen im Zuge des Einstiegs in die Privatisierung der Rentenversicherung (Riester-Rente).
Im Vertrag findet sich auch kein Wort über eine Begrenzung der Managergehälter, bundesweite Volksentscheide, die Einführung eines Lobbyregisters, die Begrenzung von Parteispenden und die Offenlegung von Nebentätigkeiten der Abgeordneten auf Euro und Cent.
Taten statt Worte
„Lieber den Spatz in der Hand“, argumentiert die SPD-Spitze. Tatsache ist aber, dass sie mit ihrem Schielen auf Ministerposten die Chance ausgeschlagen hat, in all diesen Bereichen ganz ohne Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU weitaus bessere Gesetze herbeizuführen. Am 1. März 2013 beschloss der Bundesrat auf Antrag von sieben (SPD-regierten) Bundesländern ein Mindestlohngesetz. Im Wahlkampf versprach die SPD im „100-Tage-Programm“, dass der allgemeine, bundeseinheitliche gesetzliche Mindestlohn zum 01.01.14 in Kraft tritt. Das hätten wir jetzt auch mit der neuen Bundestagsmehrheit aus SPD, LINKE und Grünen haben können – genau so wie den Einstieg in eine solidarische Bürgerversicherung, eine uneingeschränkte doppelte Staatsbürgerschaft, Vermögenssteuer, höheren Spitzensteuersatz und etliche andere Schnittmengen und fortschrittliche Ansätze im Programm der drei Parteien.
Anstatt nach der Konstituierung des neuen Bundestags im Oktober zügig die neue Mehrheit zu nutzen und Tatsachen zu schaffen, haben CDU/CSU und SPD jedoch die Rechte des Parlaments übergangen und „auf Eis gelegt“. Dabei hat selbst Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in seiner Eröffnungsrede im Oktober 2013 darauf hingewiesen, dass der Bundestag unabhängig von der neuen Regierung arbeitsfähig ist. Alles, was nicht verfassungsändernd ist und auch keine Zwei-Drittel-Mehrheit benötigt, hätte der Bundestag im November und Dezember mit seiner Mehrheit gegen die Union auch ohne Koalitionsvertrag beschliessen können. Der SPD-Führung fehlte der Mut, sofort „Verbesserungen für die Menschen“ durchzusetzen.
Papier ist geduldig, auch das Papier, auf dem Koalitionsvereinbarungen stehen. Vergessen wir nicht die Erfahrung von elf Jahren SPD-Regierungsbeteiligung in der rot-grünen Bundesregierung von 1998 bis 2005 und der letzten Grossen Koalition 2005 bis 2009. So vollzog die Regierung Schröder 1999 schon wenige Monate nach ihrem mit grossen Hoffnungen der arbeitenden Bevölkerung begleiteten Antritt einen abrupten Kurswechsel und stellte die Weichen für eine deutsche Beteiligung am Angriffskrieg gegen Jugoslawien, für Finanzmarkt-Liberalisierung, Steuersenkungen, Privatisierungen, Riester-Rente und vieles mehr. Die Lobbyisten lassen auch jetzt nicht locker, wie die Medienkampagne gegen den Mindestlohn zeigt. Obwohl das im Papier nicht drinsteht, verlangte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sofort nach Abschluss des Koalitionsvertrags Ausnahmen beim Mindestlohn und damit niedrigere Löhne für Auszubildende und Langzeitarbeitslose.
Wer die von der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vorgegebenen „Sachzwänge“ akzeptiert, der macht gewollt oder ungewollt oftmals sein eigenes Wahlprogramm zur Makulatur. Das ist die Erfahrung früherer SPD-Regierungsbeteiligungen und zeigt sich derzeit auch in Frankreich, wo der sozialdemokratische Präsident François Hollande und seine Regierung rasch zwischen allen Stühlen gelandet sind. Auch die längst nicht überwundene Banken- und Wirtschaftskrise könnte viele Pläne durchkreuzen. Mit der Zustimmung zur Schuldenbremse in Grundgesetz und Landesverfassungen hat sich SPD selbst ein Bein gestellt und „Sachzwänge“ für massive Haushaltskürzungen geschaffen. Gleichzeitig fehlt ihr der Wille zur stärkeren Besteuerung hoher Vermögen. Darauf kann es nur eine fortschrittliche Antwort geben: Grossbanken und Grosskonzerne gehören in die öffentliche Hand und unter demokratische Kontrolle. Das war übrigens in früheren Jahrzehnten Beschlusslage von Jusos und einigen SPD-Landesverbänden und ist jetzt aktueller denn je.
Wozu Grosse Koalition? Im Grund wiederholen ihre sozialdemokratischen Befürworter immer wieder gebetsmühlenartig drei Hauptargumente, die so oder ähnlich klingen:
Diese drei Argumente sind absolut nicht stichhaltig:
Ohne die Duldung und Loyalität ihrer Basis könnten Gabriel und seiner Führungscrew ihre Karrierepläne schnell an den Nagel hängen. Daher der Versuch, die Grosse Koalition als „alternativlos“ und zum Wohle der Arbeiterklasse darzustellen.
Die SPD-Basis ist gut beraten, wenn sie sich wieder auf die sozialistischen Ideen der alten SPD besinnt. Und DIE LINKE ist gut beraten, wenn sie keine programmatischen Abstriche um einer vermeintlichen „Regierungsfähigkeit“ willen macht. Die Basis beider Parteien sollte sich auf die gemeinsamen Traditionen besinnen. Dazu gehört auch der konsequente Antimilitarismus und sozialistische Internationalismus von Karl Liebknecht, der SPD-Reichstagsabgeordneter sowie Mitbegründer der sozialistischen Jugendbewegung und später auch der KPD war. Aktuell geblieben ist auch August Bebels Grundsatz „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“.
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