Die Herrschenden versuchen mit allen Mitteln, die Krise der Marktanarchie auf die europäische Bevölkerung abzuwälzen. Die traditionellen Massenorganisationen, allen voran die europäische Sozialdemokratie, hat sich in diesem Prozess als unfähig erwiesen, diesen Angriffen entgegenzutreten. In diesem Artikel gehen wir der Frage nach: Ist der Reformismus fähig, das Kapital effektiv zu bekämpfen und einen Ausweg aus der kapitalistischen Krise zu bieten?
Wir sehen uns heute der grössten Weltwirtschaftskrise in der Menschheitsgeschichte gegenüber. Gerade im krisengeschüttelten Europa hat dies weitreichende soziale Konsequenzen. In den letzten Jahren haben sich die meisten traditionellen Massenorganisationen, allen voran die europäische Sozialdemokratie, vor den Massen diskreditiert. Die Sozialisten in Frankreich sind dabei exemplarisch. Hollandes soziale Wahlversprechen wandelten sich innerhalb von Monaten zu einem erbitterten Kampf gegen Arbeitsrechte und soziale Errungenschaften. Heute ist er der unbeliebteste französische Präsident aller Zeiten. Ebenso tragisch setzte die griechische Pasok in der Regierung ein rigides Austeritätsprogramm durch und fiel so in Ungnade. Als Konsequenz sahen wir in einigen Ländern neue Parteiformationen, wie die Podemos in Spanien und in die SYRIZA in Griechenland, und damit eine radikalere Linke auf dem Vormarsch.
Die griechische Erfahrung ist ein Lehrstück für die Linke Europas und sollte Gegenstand einer ehrlichen Analyse sein. Trotz eines Wahlprogrammes, welches sich klar gegen jegliche Sparmassnahmen wehrte und breite soziale Forderungen enthielt, trotz riesiger Unterstützung aus der griechischen ArbeiterInnenklasse und Jugend, knickte die SYRIZA-Führung letzten Sommer vor der Troika ein. Seither ist sie nicht mehr als eine Marionettentänzerin des europäischen Kapitals: Das neuste Beispiel ist ein gigantisches Privatisierungspaket der Gas-, Benzin-, Strom- und Wasserversorgung, sowie der Post und Bahn, welches zu neuerlichen Preissteigerungen und zur weiteren absoluten Verelendung der Massen führen wird.
Diese bitteren Erfahrungen der europäischen ArbeiterInnen und Jugend mit den Führungen ihrer Organisationen sollten nicht einfach mit bösen Absichten einzelner Führungsfiguren begründet werden. Viel eher gilt es, ihre Ideologie und Methode einer grundlegenden Kritik zu unterziehen.
Reformismus oder Revolution
Der Reformismus als Ideologie lässt sich auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurückführen, als in der deutschen Sozialdemokratie ein Ideenstreit um das Erbe und die Tradition von Marx’ Theorien entbrannte. Die Revisionisten um Eduard Bernstein versuchten zu beweisen, dass der Kapitalismus durch Sozialreformen innerhalb des kapitalistischen Rahmens abgeschafft und so ein langsames Hinüberwachsen in den Sozialismus erreicht werden kann. Rosa Luxemburg zeigte in ihrem Werk «Sozialreform oder Revolution», wohin Bernsteins «Entwicklung des Marxismus» führen würde: «Der unversöhnliche, schroffe Klassenstandpunkt, der nur im Hinblick auf eine angestrebte politische Machteroberung Sinn hat, wird immer mehr zu einem bloßen Hindernis, sobald unmittelbare praktische Erfolge den Hauptzweck bilden. Der nächste Schritt ist also eine ‚Kompensationspolitik’ – auf gut deutsch – eine Kuhhandelspolitik – und eine versöhnliche, staatsmännisch kluge Haltung».
Die Notwendigkeit der Revolution zur Erreichung des Sozialismus ist kein abstraktes Prinzip, sondern entspringt der Analyse des Kapitalismus, welche Marx bereits vor über 150 Jahren vorgelegt hat. Marx erklärte im Vorwort zu seiner Schrift «Zur Kritik der politischen Ökonomie»: «Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte [natürlichen, technischen, organisatorischen und wissenschaftlichen Ressourcen, A.d.V.] der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen […] innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein».
Die Produktionsverhältnisse beschreiben nichts Anderes als die Eigentums- oder eben auch Klassenverhältnisse: Auf der einen Seite die Besitzer der Produktionsmittel, von Kapital und Boden, auf der anderen die übergrosse Mehrheit mit keinem oder kaum Besitz, welche ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um vom Lohn den Lebensunterhalt finanzieren zu können. Im Artikel «Organische Krise: Zukunft auf Messers Schneide» haben wir diese Widersprüche im kapitalistischen Systems herausgearbeitet, die zu immer wiederkehrenden Krisen des gesamtem Systems und zum Aufbrechen der Klassenwidersprüche führen. Die Notwenigkeit der revolutionären Umgestaltung dieser Besitzverhältnisse liegt genau im Verständnis um diese Unvereinbarkeit der Interessen des Kapitals mit denen der ArbeiterInnenklasse. Sozialreformen, welche immer ein Kompromiss zwischen den zwei Klassen darstellen, bewegen sich notwendigerweise im Rahmen dieser Klasseverhältnisse und sind folglich niemals im Stande, diese zu überwinden.
Was sind die Voraussetzungen für Sozialreformen?
Heisst das nun, dass revolutionäre SozialistInnen dem Kampf für Sozialreformen keine Bedeutung beimessen? Im Gegenteil. Luxemburg dazu: «Die große sozialistische Bedeutung des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes besteht darin, dass sie die Erkenntnis, das Bewusstsein des Proletariats sozialisieren, es als Klasse organisieren.» Luxemburg sah Sozialreformen als «Erziehungsmittel der Arbeiterklasse zur proletarischen Machtergreifung.» Der Kampf für Reformen ist also genau nicht Selbstzweck, sondern schafft erst das Bewusstsein für die Grenzen solcher Reformen und damit für die Notwendigkeit der revolutionären Umwälzung der Produktionsverhältnisse.
Wir sehen den Kampf um Sozialreformen dann als fortschrittlich an, wenn dieser den Organisations- und Bewusstseinsgrad der Klasse stärkt. Heute versuchen die SP-BundesrätInnen uns faule Deals mit den Bürgerlichen als progressive Reformen zu verkaufen (Bersets Reformpläne zur Krankenkasse und Rente, sowie Sommarugas opportunistische Asylpolitik). Sie haben kein Verständnis dafür, was die Bedingungen für Sozialreformen in der Vergangenheit waren. Grosse Zugeständnisse wie die AHV oder das Frauenstimmrecht konnten nur in jahrzehntelangen Kämpfen mit starken und kämpferischen ArbeiterInnenorganisationen errungen werden.
Auch ist der Spielraum des Kapitals für solche Zugeständnisse an die Lohnabhängigen nicht immer vorhanden. In wirtschaftlichen Boomzeiten vermochte der Druck der ArbeiterInnenbewegung verschiedene Reformen durchzusetzen – so insbesondere im Nachkriegsaufschwung mit dem Auf- und Ausbau des Sozialstaates. Die wichtigste Voraussetzung für Zugeständnisse ist aber die Angst der Bürgerlichen vor ihrer Entmachtung. Nach dem 2. Weltkrieg war die Existenz der Sowjetunion ausschlaggebend, um die gesamte kapitalistische Welt ob einer sozialen Revolution in Angst und Schrecken zu versetzen. Der Sowjetunion durch soziale Zugeständnisse die Unterstützung in den eigenen Arbeiterreihen zu entziehen und schlussendlich ihren Niedergang vorzubereiten, prägte die gesamte Politik der Nachkriegszeit in den kapitalistischen Ländern.
Reformismus in der Krise – Griechenland
In der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung ist das zentrale Wesensmerkmal des Reformismus der Mangel an Vertrauen in die Fähigkeit der ArbeiterInnenklasse, für eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft zu kämpfen. Und da die ArbeiterInnenklasse die Gesellschaft ja nicht zu verändern vermag, hätten die linken PolitikerInnen stellvertretend für eine Reformierung des Kapitalismus zu sorgen. Dies aber ist nur möglich, wenn sich die Wirtschaft im Aufschwung befindet. Daher trachtet der Reformismus in Krisenperioden nach einem Weg, wie „Stabilität“ und „Wachstum“ wiederhergestellt werden können, um damit die Basis für Reformen legen zu können. Genau das bestimmt auch das Denken des ehemaligen griechischen Finanzministers Varoufakis.
Er begeht den klassischen reformistischen Denkfehler, zu glauben, dass es in Zeiten der Krise möglich sei, die Lebensverhältnisse der ArbeiterInnen und der KapitalistInnen gleichzeitig zu verbessern, dass es eine gemeinsame Vernunft zwischen Kapital und Arbeit gebe. Varoufakis sagt im Prinzip, er würde gerne eine radikale Alternative anbieten, doch die ArbeiterInnen seien für ein solches Programm nicht bereit. Die Erfahrungen der letzten Zeit beweisen jedoch das Gegenteil. Als die Tsipras-Regierung eine herausfordernde Haltung gegenüber der Troika einzunehmen schien, schossen ihre Umfragewerte durch die Decke. Das starke OXI (NEIN) gegen die Austerität bei der Volksabstimmung vom 5. Juli 2015 widerspricht Varoufakis‘ These ebenfalls. Genau dann, wenn alle objektiven Bedingungen für einen radikalen Wandel existieren, sagt Varoufakis, der Moment sei nicht der richtige. Tatsächlich müsste in Griechenland folgendes getan werden: Die Schulden einseitig streichen, die Banken verstaatlichen und große Konzerne unter ArbeiterInnenkontrolle und -verwaltung stellen sowie eine demokratische Planwirtschaft einführen. Der Reichtum für alle nötigen Reformen existiert bereits; er ist jedoch in den Händen der kapitalistischen Oligarchie!
Minimal- und Maximalforderungen
Natürlich sind wir in der Schweiz noch nicht an diesem Punkt der Zuspitzung der Klassenwidersprüche. Die Strategie der Bürgerlichen ist aber auch hierzulande der zunehmende Frontalangriff auf den erkämpften Lebensstandard der Lohnabhängigen, Jugendlichen und PensionärInnen. Steuererleichterungen für das Grosskapital (USR II und III), der Abbau des Sozialstaates mittels Privatisierungen (Preissteigerungen), Personal- und Leistungsabbau, sowie Massenentlassungen und Lohnkürzungen in der Industrie sind inzwischen an der Tagesordnung.
Wenn die JUSO-Präsidentin Tamara Funiciello auf die Frage «Reform oder Revolution?» antwortet, es brauche beides, hat sie damit absolut recht. Doch viel wichtiger als diese abstrakte Erkenntnis ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Reform und Revolution: Sozialreformen müssen unbedingt mit dem Ziel der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft verbunden werden. Ansonsten wird der Sozialismus, wie wir gesehen haben, in eine unbekannte Zukunft verschoben. Für uns als JUSO muss deshalb klar sein, dass Initiativen und andere Reformvorschläge kein Selbstzweck sind. Unser Ziel muss die Diskussion um den Sozialismus und die Organisierung der Schweizer Jugend für dieses Ziel sein. Mangels einer schlagkräftigen Linken müssen wir als progressivste und grösste sozialistische Kraft die Führung in den gesellschaftlichen Kämpfen übernehmen und diese miteinander verbinden. Der Kampf gegen die Sparmassnahmen muss dabei der Ausgangspunkt sein. Wir müssen den Widerstand in den Schulen und Universitäten, wo möglich auch in den Betrieben, organisieren und auf der Strasse zusammenführen. Mit unserem Aktionsprogramm haben wir dabei ein Werkzeug, um die Verbindung des Kampfes gegen bürgerliche Angriffe mit einem offensiven Angriff unsererseits auf die Profit- und Eigentumsbedingungen der Kapitalistenklasse voranzutreiben. Nur so ziehen wir die Lehren aus über 150 Jahren ArbeiterInnenbewegung und sind nicht dazu verdammt, die gleichen Fehler zu wiederholen.
Olivia Eschmann
JUSO Basel-Stadt
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