Du machst eine Lehre in einer Kita – dein Traumberuf?
Eigentlich schon. Das professionelle Betreuen von Kindern macht mir viel Freude und ist gesellschaftlich sehr sinnvoll. Für eine gesunde Entwicklung der Lebens- und Entdeckungsfreude der Kinder ist eine qualitativ hochwertige Betreuung zentral. Für die Eltern, vor allem Mütter, ist es eine grosse Entlastung. Deshalb sollte ein gutes Kita-Angebot allen zugänglich sein. Doch das ist überhaupt nicht der Fall: Nur 13 Prozent der Kinder können in Kitas. Die wenigen Plätze sind für die meisten Eltern unbezahlbar. Kein anderes OECD-Land gibt so wenig für Kitas aus wie die Schweiz (0,1 % des BIP). Der Kita-Sektor wurde nie wirklich aufgebaut und seit Jahren weggespart.
Als Folge davon sind laut dem VPOD 80 % der Betreuer gestresst, 40 % wollen den Job wechseln. Wie erlebst du die Arbeitsbedingungen?
An Tagen mit weniger Kindern kann man recht gut auf ihre Bedürfnisse eingehen. Aber insgesamt verunmöglichen die Bedingungen genau das. Stress, Personalmangel und zu wenig Lohn sind für alle in meiner Schulklasse schon lange Realität. Alle Betreuer, speziell wir Lehrlinge, bezahlen den Preis dafür: Wir müssen mehr Kinder und mehr Aufgaben übernehmen als unsere Ausbildung es erlaubt. Oftmals monatelang ohne Berufsbildner, weil qualifiziertes Personal davonläuft. Deshalb passieren Burnouts und Unfälle. Einige wollen nach der Lehre lieber als Nanny für reiche Familien arbeiten. Ich verstehe sie, so hat man weniger Stress und verdient mehr. Aber durch individuelles Flüchten wird professionelle Kinderbetreuung noch mehr zu einem Privileg für Reiche und es ändert sich nichts an den Arbeitsbedingungen.
Mehr Lohn und mehr Personal: Im Kanton Waadt gibt es im öffentlichen Sektor eine Streikbewegung dafür. Braucht es das auch in der Deutschschweiz?
Auf jeden Fall. Alle wissen, dass der Kita-Sektor ein Scherbenhaufen ist. Die Solidarität ist stark, viele Eltern bedanken sich für unsere Arbeit. Aber diese gesunde Solidarität der Arbeiterklasse – das Bedürfnis nach wirklichen Verbesserungen – ist der Schein-Besorgnis der bürgerlichen Politik entgegengesetzt. Die nicht umgesetzte Pflegeinitiative hat bewiesen, dass sie uns nichts schenken. Sie spenden Mitleid und Applaus und sparen dann weiter. Der Berner Regierungsrat Schnegg war letztes Jahr auch dafür, dass Kita-Lehrlinge «besser geschützt» werden. Sein Vorschlag war aber nicht mehr Personal und Lohn. Nein, er hat uns verboten, in den ersten Jahren alleine mit Kindern in einem Raum zu sein. Das bedeutet noch mehr Stress für alle. Deshalb: Kein Vertrauen in die bürgerliche Politik und den Staat. Sie lösen die Probleme nicht, sondern verschlimmern sie. Wir können uns nur auf uns selbst verlassen. Wenn sie uns nichts schenken, müssen wir sie zwingen. Das heisst: Verbesserungen selbst erkämpfen.
Ist eine Streikbewegung bei den Kitas denn realistisch?
Sie ist unvermeidbar. Nicht morgen, aber früher oder später. Die Angestellten brauchen dringend bessere Bedingungen, die Kantone und der Bund brauchen dringend noch mehr Sparmassnahmen. Das ist die allgemeine Situation, die allgemeine Sackgasse der kapitalistischen Krise. Aus dieser gibt es nur einen Ausweg: Die Arbeiter müssen kämpfen, wie im Kanton Waadt. Einige in meinem Umfeld sprechen bereits jetzt davon, dass es «eigentlich einen Streik braucht». Die meisten versuchen, einfach durch den nächsten Tag zu kommen, was verständlich ist. Aber an einem gewissen Punkt geht das nicht mehr. Klar ist: Auch hier ist die Situation zunehmend explosiv, auch hier wird es zu Kämpfen kommen müssen.
Jeder Kampf für Verbesserungen wirft die Finanzierungsfrage auf. Wer soll für eine gute Kinderbetreuung bezahlen?
Genau darauf gibt die Kita-Initiative der SP keine Antwort. Sie fordert ein flächendeckendes Angebot mit besseren Arbeitsbedingungen. Das ist richtig, das braucht es. Aber zur Finanzierung wird nur gesagt, dass Eltern maximal 10 Prozent des Einkommens ausgeben sollten. Wer bezahlt den Rest? Käme die Initiative durch, läge die Umsetzung beim Bundesrat. Dieser würde wie bei der Pflege-Initiative möglichst nichts umsetzen. Und er würde wie bei der AHV-Reform die Kosten auf die Arbeiterklasse durch Steuererhöhungen und Kürzungen abwälzen. Es gibt kein Geld, deshalb müssen die Eltern oder Steuerzahler für Kitas bezahlen, das ist die Position der Bürgerlichen. Die Antwort der SP müsste lauten: Es gibt mehr als genug Reichtum in der Gesellschaft. Ein qualitativ hochwertiges, kostenloses Kita-Angebot bei gleichzeitig besseren Löhnen und weniger Arbeit für alle ist heute voll möglich. Aber nur im Kampf gegen die Kapitalisten. Wir müssen ihnen die Privat-Kitas, den Reichtum und die Macht entreissen und die ganze Wirtschaft unter demokratische Planung stellen. Nur durch die sozialistische Revolution wird Kinderbetreuung wirklich zu einer gesellschaftlichen und erfüllenden Aufgabe.
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