Verschiedene Sektoren der Arbeiterklasse in der Romandie sind in die Offensive getreten. Die ersten Erfahrungen dieser Mobilisierungen und Kämpfe sind von Bedeutung für den Schweizer Klassenkampf. Welche Lehren können wir aus daraus ziehen?
Die Romandie erlebte einen heissen Herbst mit Arbeitskämpfen und Mobilisierungen. Diese gehören zur ersten Offensive der Schweizer Arbeiterbewegung seit Beginn der Pandemie, zusammen mit dem Streik am Universitätsspital in Lausanne und den Mobilisierungen am Flughafen Genf bereits früher im Jahr. In den letzten Wochen traten die Beschäftigten der Stadt Genf in einen Streik gegen die Sparmassnahmen und Angriffe auf ihre Lebensbedingungen. Weiter mobilisierten sich die Angestellten des öffentlichen Dienstes auf kantonaler Ebene gegen das Budget, nachdem sie bereits seit mehreren Jahren gegen Sparmassnahmen ankämpfen. Die Studierenden der Universität Genf besetzten während zwei Wochen die Mensa der Universität und kochten für die StudentInnen, um Mahlzeiten für 3 Franken zu fordern. Und dazu kommt eine wochenlange Streikwelle der Smood-Lieferanten in der ganzen Romandie.
Wir sehen neue Schichten der Arbeiterklasse, diein den Kampf treten – entweder um Angriffe abzuwehren oder sich bessere Bedingungen zu erkämpfen. Dass die Kämpfe jetzt in der Romandie ausbrechen, können wir einerseits durch die schwierigeren Lebensbedingungen erklären, vor allem in den Grenzkantonen wie Genf, jedoch vor allem durch die relativ fortgeschritteneren Kampftraditionen der Gewerkschaften und von gewissen Sektoren wie dem öffentliche Dienst in Genf. Doch auch Sektoren ohne gewerkschaftliche Verankerung und Kampftraditionen wie die Smood-Lieferanten streiten für bessere Bedingungen. Diese Mobilisierungen sind nicht überraschend, wenn wir den allgemeinen Kontext betrachten: Der (Schweizer) Kapitalismus ist in der Krise und die Arbeiterklasse bezahlt dafür einen hohen Preis.
Dies zeigt sich am besten bei Smood. Dieses Genfer Unternehmen für Essenslieferungen, im Stil von Ubereats, erlebte während der Pandemie einen Boom. Die aktuelle Streikbewegung des Lieferdienstes zeigt jedoch, unter welchen Bedingungen diese Lieferungen durchgeführt werden. Viele Aussagen der streikenden Smood-Beschäftigten beschreiben Arbeitsbedingungen, die für die Beschäftigten völlig untragbar sind. Ein Lieferant notierte seit Beginn seiner Anstellung bei Smood sämtliche Arbeitsstunden und die notwendigen Ausgaben, um die Lieferungen durchzuführen. Die Berechnung ergab, dass sich der Stundenlohn auf mickrige 5 bis 7 Franken begrenzte. Die Forderungen beschränken sich auf ein absolutes Minimum: Das bezahlt zu bekommen, was der Vertrag verspricht.
Der Streik verbreitete sich wie ein Lauffeuer zuerst auf Yverdon und dann auf die ganze Romandie. Ein Teil der Lieferanten stand mehr als vier Wochen im Streik und nahm täglich an Streikposten teil, die in allen Städten organisiert wurden. Auf die Forderung nach Verhandlungen für bessere Bedingungen zeigte die Smood-Geschäftsführung ihren Angestellten die kalte Schulter. Und mit dem Entscheid der Genfer Mediationsstelle CRCT musste der Streik in allen Kantonen automatisch eingestellt werden. Der Streik hatte Schwächen: Nur ein Teil der Angestellten war wirklich im Streik und das Geschäft konnte weiterlaufen. Das Kräfteverhältnis war klar zugunsten von Smood (was sich auch in ihrer Arroganz widerspiegelte). Doch der Mut der Smood-Streikenden zeigt das Potenzial, in die Offensive zu gehen. In vier Wochen entwickelte sich in einem unorganisierten Sektor mit isolierten LieferantInnen eine Streikbewegung in verschiedenen Städten und 12’000 Unterschriften der Solidarität. Was das Beispiel Smood zeigt: Wenn sogar prekarisierte LieferantInnen in diesem Sektor streiken, geht das auch in den anderen!
Mehr Kampferfahrung hat der öffentliche Dienst in Genf. Die Angestellten des Kantons treten seit ein paar Jahren regelmässig gegen Sparmassnahmen in den Kampf. Sie wehren Angriffe auf ihre Arbeitsbedingungen ab, zum Beispiel in Form von Lohnkürzungen. Ende September traten zusätzlich die Angestellten der Stadt Genf gegen das Budget 2022 in den Kampf. Dabei streikten neue Schichten von ArbeiterInnen wie die Feuerwehr oder die Müllabfuhr. Diese Mobilisierung ist eine Fortsetzung der Bewegung, die wir bereits im letzten Jahr auf kantonaler Ebene gesehen hatten. Bereits im Rahmen des Budgets 2021 hatte der Staatsrat grosse Einschnitte beim öffentlichen Dienst beschlossen. Durch Lohnkürzungen und das Einfrieren von Lohnstufen liess der Staat die Staatsangestellten für die Covid-Krise bezahlen. Ein Strassenreiniger erzählte:
«Wenn die Angriffe weitergehen, können die jüngeren Kollegen bald nicht mehr essen. In Genf sind die Löhne im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten oft zu niedrig».
Eine wichtige Schlussfolgerung, welche die Angestellten des öffentlichen Dienstes schon vor ein paar Jahren gezogen haben: Nur wer kämpft, kann gewinnen. An der Vollversammlung forderten daher gewisse Schichten wie die Strassenreinigung, einen Schritt weiter zu gehen. Sie sprachen sich für einen mehrtägigen Streik für die nächste Mobilisierung im November aus. Bereits nach dem Streiktag im September wurde ein Teilsieg erreicht: Die Blockierung der Lohnanpassung wurde fallen gelassen. Doch in der Folge sagte die Gewerkschaft weitere Streiktage ab. Bezüglich den weiteren Angriffen auf die Arbeitsbedingungen gab es keine Stellungnahme. Das definitive Budget wird erst im Dezember verabschiedet. Auch auf kantonaler Ebene gab es Mobilisierungen der Angestellten gegen die Sparmassnahmen und Angriffe auf ihre Arbeitsbedingungen. Die späte Mobilisierung ergab jedoch im Vergleich zum letzten Jahr nur eine relativ kleine Demonstration der Angestellten, allerdings mit Aktivisten der Mensa-Besetzung an der Uni Genf und Smood-Lieferanten, die ihre Solidarität mit dem Kampf der Kantonsangestellten zeigten.
Die Romandie zeigt: Kämpfen ist möglich! Verschiedene Sektoren werden durch ihre Bedingungen in den Kampf getrieben – ob im privaten oder im öffentlichen Sektor. Hinzu kommen die StudentInnen, welche gegen ihre prekären Bedingungen kämpfen. Doch Potenzial und Kampfbereitschaft reichen nicht, es braucht die richtige Methode und Strategie, um die Bedingungen langfristig zu verbessern.
Der Kapitalismus steckt in der Krise. Seit Jahren sinken die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen und dazu kommen jetzt noch Angriffe. Der öffentliche Dienst muss heute ausgebaut werden, um den Lebensstandard zu heben und die Folgen der gesundheitlichen und sozialen Krise zu bekämpfen. Die Abwehr der Lohnkürzungen von Funktionären genügt nicht, um die Bedingungen der ArbeiterInnen langfristig zu sichern und vor allem zu verbessern. Die Schulen, Spitäler oder der Sozialbereich benötigen schon seit Jahren einen Ausbau des Personals, Arbeitszeitkürzung und Lohnerhöhungen. Wir brauchen heute Verbesserungen für die gesamte Arbeiterklasse.
Doch dies liegt nicht im Interesse der Kapitalisten. Denn diese müssen auf dem Rücken ihrer Angestellten ihre Profite sichern – egal ob auf betrieblicher oder politischer Ebene. Sparmassnahmen sind eine Notwendigkeit der kapitalistischen Krise. Die vergangenen Kämpfe zeigen auf, dass es bei den Kapitalisten nichts geschenkt gibt. Alles muss hart erkämpft werden! Die Gewerkschaften machen dabei korrekte Schritte, indem sie einerseits die Notwendigkeit eines Streiktages im Betrieb verteidigten. Dies zum Beispiel im Unispital Lausanne (CHUV) oder im öffentlichen Dienst in Genf. Andererseits helfen die Gewerkschaften die Kämpfe auszuweiten, wie im Beispiel von Smood. Doch die Beispiele von Smood und CHUV zeigen auch, dass man den Betrieb wirklich lahmlegen muss – im Spital zumindest alles, was verzichtbar ist – um seine Forderungen durchsetzen zu können. Denn keine dieser Streikbewegungen konnten bis heute ihre Forderungen durchbringen, obwohl diese bitter nötig sind. Doch wie können wir bessere Arbeitsbedingungen erkämpfen?
Dazu braucht es ein klares politisches Programm. Es stellt sich die Frage: Wer bezahlt? Die Kapitalisten werden nicht von selbst bezahlen, sie lassen die Arbeiterklasse bezahlen durch Lohnkürzungen (öffentlicher Dienst) oder mit miesen Arbeitsbedingungen (CHUV). Um Verbesserungen der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu erreichen, müssen wir die Kapitalisten zwingen zu bezahlen. Wir müssen dem ganzen System den Kampf ansagen, das nicht imstande ist, gute Bedingungen für die Mehrheit der Gesellschaft zu garantieren. Der Kampf für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen ist der Kampf gegen den Kapitalismus.
Die Interessen der ArbeiterInnen müssen den Kapitalisten aufgezwungen werden und dazu muss es denn Kapitalisten wehtun: Man muss direkt ihre Profite angreifen. Das heisst, es muss gestreikt werden, bis die Bosse bereit sind, die Forderungen der Belegschaft zu akzeptieren. Wenn sie das nicht tun, dann wird weiter gestreikt. Wenn sie sagen, es gibt nicht genug Geld, um die Forderungen umzusetzen, sollen sie uns das beweisen und die Geschäftsbücher öffnen. Doch dazu braucht es gewerkschaftliche Verankerung: Die ArbeiterInnen müssen sich am Arbeitsplatz organisieren, denn nur organisiert kann man streiken. Die ArbeiterInnen müssen ihre Forderungen demokratisch beschliessen und ihren Kampf ausweiten – auf andere Abteilungen, Betriebe oder Sektoren. Die Gewerkschaften müssen ihre Verankerung in den Betrieben aufbauen. Und diese fehlte im Kampf von Smood und im CHUV, und diese fehlt auch jetzt im öffentlichen Dienst in Genf. Die Organisierung der Lohnabhängigen kann nicht in jedem Kampf und bei jeder Mobilisierung bei Null beginnen.
Jeder Kampf muss ein Schritt vorwärts sein, der die Lektionen aus dem letzten verinnerlicht und eine stärkere Verankerung hat. Das heisst auch, dass die Absage des zweiten Streiks der Stadtangestellten von Genf der Bewegung geschadet hat. Der Teilsieg hätte genutzt werden müssen, um aus dem Defensivkampf ein Offensivkampf zu machen. Das heisst, die Mobilisierung gebrauchen, um nicht nur die restlichen Angriffe abzuwehren, sondern auch bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Der Kampf kann nur auf weitere Abteilungen und Sektoren ausgeweitet werden, wenn er weiter in der Offensive geführt wird. Aber dazu müssen die Kämpfe und Mobilisierungen auch dazu genützt werden, die Organisierung der Arbeitenden in ihrem Betrieb zu stärken. Das heisst, Betriebsgruppen in allen Abteilungen bilden. Nur eine organisierte Belegschaft schafft es, alle Angestellten vom Streik zu überzeugen, den Betrieb lahmzulegen und so die Forderungen durchsetzen zu können.
Ein Hindernis für die langfristige und offensive Organisierung der ArbeiterInnen am Arbeitsplatz ist die Sozialpartnerschaft, die Illusionen schürt und die Kämpfe und Mobilisierungen in falsche Bahnen lenkt. Die Interessen der Kapitalisten sind den Interessen der Lohnabhängigen entgegengesetzt. Und besonders in einer Krisenzeit ist die Grundlage für einen Kompromiss zwischen den beiden Klassen nicht vorhanden. Das haben wir in allen vergangenen Kämpfen beobachten können. Um die Forderungen der ArbeiterInnen umzusetzen, können wir weder den Bossen noch dem Staat vertrauen. Die ArbeiterInnen können nur auf ihre eigene Kraft setzen. Deshalb muss mit der Logik der Sozialpartnerschaft gebrochen werden. Das heisst nicht, dass wir Verhandlungen aus Prinzip ablehnen. Aber diese müssen durch die organisierten ArbeiterInnen bestimmt und kontrolliert werden. Keine faulen Deals zwischen den Gewerkschaftssekretären und den Bossen im Hinterzimmer! Die ArbeiterInnen müssen durch demokratische Organe am Arbeitsplatz und in den Gewerkschaften selbst darüber entscheiden, welche Forderungen in den Verhandlungen durchkommen müssen und welche man bereit ist, am Verhandlungstisch aufzugeben. Nur mit demokratischen Gewerkschaften kann eine schlagkräftige Bewegung aufgebaut werden, in der die ArbeiterInnen auch einen Nutzen sehen, sich aktiv einzubringen und zu kämpfen.
Die Erfahrungen der Romandie zeigen, dass Kämpfen möglich und nötig ist. Das Potenzial, die Kämpfe auf ein höheres Niveau zu heben, ist da. Gewisse Schichten gehen schon offensiv in den Kampf, und diese Schichten müssen aufgebaut und ausgeweitet werden. Was fehlt, ist nicht die Kampfbereitschaft der ArbeiterInnen, sondern eine mutige Strategie im Klassenkampf mit einem sozialistischen Programm – und das bedeutet, mit der Sozialpartnerschaft zu brechen. Weitere Kämpfe und weitere Niederlagen werden kommen, doch wir müssen daraus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen und sie verallgemeinern. Nur so können wir die Arbeiterbewegung weiterbringen im Kampf für bessere Bedingungen und gegen den Kapitalismus.
Die Redaktion, Der Funke
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