Die Debatte über die Personenfreizügigkeit ist ein politisches Minenfeld für die Linke. Die Gewerkschaften und die SP suchen vergeblich Verbündete bei den verschiedenen Kapitalfraktionen. Nur ein konsequenter und internationalistischer Klassenstandpunkt gibt uns die Eigenständigkeit, um in die Offensive zu gehen.
In Wahrheit stagnieren die Löhne eines grossen Teils der Lohnabhängigen in der Schweiz seit Jahrzehnten. In den letzten beiden Jahren sind die durchschnittlichen Reallöhne sogar gesunken. Die Unzufriedenheit nimmt zu und trifft auf das alltägliche und krasse Lohndumping auf Baustellen, in der Industrie und im Gastgewerbe. Ein giftiger Mix, wenn niemand eine Alternative aufzeigt.
Für den Schweizer Kapitalismus spielte der Import von migrantischen Arbeitskräften immer eine wichtige Rolle. Um diesen abzusichern, schüren sie seit jeher Rassismus. Seit 2004 bildet die Personenfreizügigkeit den Rahmen dieser Entwicklungen.
Die SVP gibt Millionen für Kampagnen aus, welche die falschen Schuldigen anschwärzen. Mit der Masseneinwanderungsinitative oder in Bälde der Kündingungsinitiative will die SVP erneut die Arbeiterklasse gezielt auf rassistische Weise spalten. Die Leier ist immer die gleiche. Zugezogene würden die Löhne senken und Mieten steigen lassen (neu sind sie auch für die Klimakrise verantwortlich). Gleichzeitig verteidigt die SVP knallhart die Interessen derer, die wirklich die Löhne senken, migrantische ArbeiterInnen ausbeuten und die Mieten erhöhen: die Kapitalisten.
Um in diesem Minenfeld aus der Defensive treten zu können, braucht die Linke eine von allen Kapitalfraktionen unabhängige Position. Wie man einen solche Standpunkt, einen Klassenstandpunt, verteidigt, erklären wir am aktuellen Streitpunkt des Rahmenabkommens mit der EU.
Von der Personenfreizügigkeit zum Rahmenabkommen
Aus der Sicht der Kapitalisten ist der heutige Zustand mit den Bilateralen Abkommen ein Kompromiss, einerseits zwischen der Schweizer Finanzbourgeoise und dem Exportkapital und andererseits mit der EU. Für die Exportindustrie stand der Zugang zum riesigen EU-Markt im Zentrum. Der Bankenplatz musste verhindern, dass die Schweiz gleichzeitig dem Euro-Raum beitritt, weil für sie die unabhängige Währung eine Existenzbedingung ist. Und für die EU war die Bedingung, die «vier Freiheiten» zu garantieren (freier Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr, sowie der freie Kapitalverkehr – mit der Ausnahme der eigenen Währung). Mit diesem Kompromiss konnten alle Kapitalfraktionen leben.
Stellte sich die Frage: wie verkauft man das den Schweizer Lohnabhängigen, welche die Gefahr des Lohndumpings im freien (kapitalistischen) Personenverkehr erkannten? Die Antwort bestand in den FlaM, einer Serie von Massnahmen zur Kontrolle der Löhne. Die FlaM vereinfachten unter anderem die Ausdehnung der Gesamtarbeitsverträge und ermöglichte härtere Kontrollen. Dazu gehören die Anmeldefristen für «Entsendete» (Lohnabhängige von ausländischen Firmen) und die «Kaution». Das ist eine Geldsumme, welche diese Firmen deponieren müssen, um in gewissen Kantonen aktiv zu werden. Die Unterstützung der SP und der Gewerkschaften zur Vorlage war zentral, weil sie über das Referendum eine Art Veto hatten.
Bereits im Vorfeld der Abstimmungen war klar, dass diese Massnahmen ungenügend waren, um alle neuen Möglichkeiten zum Lohndumping, welche die Personenfreizügigkeit für die Kapitalisten schuf, zu verhindern. Trotzdem verteidigten die SP und die Gewerkschaften die neuen Mittel und damit auch die Personenfreizügigkeit. Nur so fand der Kompromiss der Bourgeoisie eine Mehrheit (gegen die SVP). Seither verteidigen SP und Gewerkschaften weiterhin beides unkritisch.
Fazit nach fünfzehn Jahren
Heute muss klar festgestellt werden, dass die FlaM das Lohnniveau nicht verteidigen können. Die Kontrolleure stellen bei Schweizer Firmen bei 20% der Kontrollen und bei Entsendebetrieben bei 26% der Kontrollen Verstösse fest. Das ist nur die Spitze des Eisberges, denn nur 7% der Betriebe werden kontrolliert. Eines steht fest: die Kapitalisten, egal welcher «Nationalität» drucken massiv die Löhne.
Das heisst nicht, dass wir die FlaM ablehnen sollen. Doch es zeigt sich einmal mehr, dass für die Lohnabhängigen kein Verlass ist auf die Instrumente des Staates alleine. Der erfolgreiche Kampf gegen den Lohndruck kann nur von allen in der Schweiz aktiven Lohnabhängigen gemeinsam geführt werden. Dabei müssen die Gewerkschaften die aktive Rolle spielen.
Es ist die Aufgabe der Gewerkschaften, für diese Einheit zu kämpfen und ausnahmslos alle Lohnabhängigen, unabhängig ihres Aufenthaltsstatus, ihrer Arbeitsbewilligung oder Nationalität zu organisieren. Der Zweck jedes kapitalistischen Migrationsregimes ist es, den Bedarf an Arbeitskräften kostengünstig zu befriedigen. Deshalb darf die Linke niemals dieses Regime verteidigen. Der Gewerkschaftsbund tat jedoch genau dies, als er den sogenannten «Inländervorrang» forderte. Dieser soll «inländische ArbeiterInnen» bevorzugen und ist somit nichts anderes als (schlecht) versteckter Rassismus, welcher die Argumentation der SVP vollständig akzeptiert. Eine solche Politik kann keine Verbesserung bringen.
Der Angriff des Rahmenabkommens
Diese Altlasten der Linken belasten auch die Diskussion um das vorliegende Rahmenabkommen. Über den Umweg des Europäischen Gerichtshofes wird ein Teil der FlaM – die oben erwähnte Frist für Entsendete und die Kaution – abgeschaft werden. Die Linke muss sich entscheiden. Verteidigt sie den bestehenden Lohnschutz oder nicht? Heute, wo der Lohndruck bei den Lohnabhängigen tägliche Realität ist, hat die Linke in einem Referendum noch viel triftigere Argumente, nämlich für einen Ausbau des Lohnschutzes! Doch sie verspielt diese Chance.
Gerade vor dem Horizont der kommenden Abstimmung über die SVP-Initiative, stellt sich die Frage umso klarer. Entweder beweist die Linke, dass sie die Lohnabhängigen verteidigt, das heisst die FlaM schützt, und lehnt deshalb das Rahmenabkommen ab. Oder sie verteidigt die Interessen der Kapitalisten (der Schweiz und der EU) und opfert den Lohnschutz auf dem Altar der «harmonischen Beziehungen» zum wichtigsten Exportmarkt.
Für die Linke ist dies eine Frage der Glaubwürdigkeit. Und Glaubwürdigkeit baut man auf, indem man eine klare, kohärente Position offen verteidigt. Sozialisten verteidigen von der Personenfreizügigkeit die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit für Lohnabhängige – unter der Bedingung, dass für ihre gewerkschaftliche Organisation und für gleicher Lohn am gleichen Ort gekämpft wird. Gleichzeitig kämpfen wir gegen die Abschottung gegenüber Drittländern («Festung»). Das bedeutet aber nicht, dass wir die Bilateralen oder jede Annäherung an die EU verteidigen. Die EU ist ein Konstrukt der europäischen Kapitalisten und dient ihren Interessen. Solange das Rahmenabkommen die Situation der Lohnabhängigen schwächt – was der Fall ist – müssen wir es entschieden bekämpfen. Gleichzeitig kämpfen wir mit aller Kraft gegen die demagogische Kampagnen der SVP gegen die Personenfreizügigkeit. Nicht weil wir die EU verteidigen, sondern weil wir die Speerspitze sind im Kampf für eine geeinte Arbeiterklasse und den proletarischen Internationalismus am konsequentesten verteidigen. Weil er heute unsere einzige Waffe ist.
Caspar Oertli,
JUSO Stadt Zürich
Bild: UNIA/SGB
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