Personalmangel, Stress und gesundheitliche Folgen: Gemäss Unia sind über zwei Drittel des Pflegepersonals davon betroffen. Doch offensive Lösungsansätze fehlen fast völlig. Für Veränderungen braucht es den Bruch mit der Sozialpartnerschaft.
Ihr müsst nicht warten, weil wir im Streik sind – wir sind im Streik, weil ihr warten müsst!»
An PatientInnen gerichteter Slogan von Streikenden in französischen Notaufnahmen.
Was passiert, wenn in einem Altersheim drei diplomierte Pflegepersonen in drei Monaten kündigen? BewohnerInnen müssen innert 15 Minuten gewaschen werden, die Spätschicht macht im Notfall gleich noch die Nachtschicht und eine Lernende im zweiten Lehrjahr ersetzt eine ausgebildete Pflegeperson. Alle Angestellten bemühen sich verzweifelt, den Personalmangel irgendwie aufzufangen. Um auf die BewohnerInnen einzugehen, bleibt keine Zeit. Dies ist die Realität des sogenannten Pflegenotstands in der Schweiz.
Pflegenotstand in der Schweiz
Die Probleme der Branche sind überall dieselben. Gemäss einer Studie der Gewerkschaft Unia leiden 72% der Befragten regelmässig unter körperlichen Beschwerden, 70% fühlen sich während der Arbeit ständig gestresst und 87% gaben an, sie hätten nicht genügend Zeit für ihre PatientInnen. Fast die Hälfte der Pflegenden wollen frühzeitig aus ihrem Beruf aussteigen.
Die Bedingungen treffen die Arbeiterklasse als Ganzes: Nicht nur die Arbeitenden in der Pflege leiden, sondern auch ihre PatientInnen aus der Arbeiterklasse. Reiche Pflegebedürftige hingegen können sich ohne weiteres eine 24-Stunden-Pflege zu Hause leisten.
Angriffe des Kapitals
Bis 2030 werden 30’000 neue Pflegefachkräfte gebraucht. Der Bedarf an Pflege wird in der Schweiz zunehmen. Der «Pflegenotstand» entpuppt sich als Resultat des Sparkurses der KapitalistInnen: Seit dem Ausbruch der Krise 2008 bemühen sie sich verstärkt, ihre Profite zu steigern.
In privaten Einrichtungen wird durch höhere Arbeitszeiten und durch höhere Arbeitsbelastung (mehr PatientInnen pro Pflegende) mehr Profit aus den Pflegenden herausgepresst. In öffentlichen Einrichtungen treten diese Angriffe als Sparmassnahmen oder Privatisierungen in Erscheinung. Durch Privatisierungen werden staatliche Einrichtungen direkt der Profitlogik der KapitalistInnen unterstellt. Durch Sparmassnahmen steht weniger Geld u.a. für den Gesundheitsbereich zur Verfügung. Diese Einsparungen sind nötig, um den Unternehmen und Reichen Steuersenkungen zu ermöglichen. Für die ausfallenden Staatseinnahmen bezahlt die Arbeiterklasse, in Form von schlechten Arbeitsbedingungen und durch Kürzungen staatlicher Leistungen.
Gewerkschaften im Bann der Sozialpartnerschaft
Die beiden grossen Gewerkschaften Unia und vpod wollen beide die Branche organisieren. Mit dem Manifest für eine gute Pflege und Betreuung hat die Unia einen umfassenden Forderungskatalog, der an den Bedürfnissen der Pflegenden ansetzt. In einer Branche mit so prekären Arbeitsbedingungen sollten Gewerkschaften regen Zulauf finden. Dennoch beträgt der Organisierungsgrad in der Pflege über alle Verbände hinweg nur 7%.
Die grösste Schwäche der Gewerkschaften besteht in ihrer sozialpartnerschaftlichen Ausrichtung: Statt durch offensives Auftreten eine Verankerung in den Betrieben aufzubauen und in Arbeitskämpfen bessere Arbeitsbedingungen zu erringen, setzen sie auf Appelle an die KapitalistInnen. So schrieb die Unia an den Verband der Pflegeeinrichtungen: «In einer funktionierenden Sozialpartnerschaft können wir auch gemeinsam auf eine faire Pflegefinanzierung … hinarbeiten.»
Doch die Kapitalisten haben kein Interesse daran, attraktive Arbeitsbedingungen zu gewähren. Sie ziehen Profit daraus, möglichst wenige Angestellte lang und viel arbeiten zu lassen. Dass fast die Hälfte der Pflegenden den Beruf verlassen will, beweist, dass auch die Arbeitenden in der Sozialpartnerschaft keinen Ausweg sehen.
Für streikfähige Gewerkschaften
Auch auf den Frauenstreik hin wurden keine grossflächigen Arbeitsniederlegungen in der Pflege organisiert, obwohl viele Pflegende an den Aktionen teilnahmen. Ein oft genanntes Argument der Gewerkschaften gegen Streiks war, dass die Pflege nicht streiken könne: das gefährde die Gesundheit der PatientInnen.
Die Pflegenden sind sich ihrer grossen Verantwortung gegenüber ihrer PatientInnen bewusst. In vielen Fällen arbeiten sie so über das ertragbare Mass hinaus. Dieses Argument missbraucht ihr Pflichtbewusstsein zynisch und spielt den Bürgerlichen in die Hände: Es hindert die Lohnabhängigen daran, überhaupt zu kämpfen. So werden sie sich auch nie ihrer eigenen Stärke im organisierten Kampf bewusst.
Nicht eine Arbeitsniederlegung der Pflegenden gefährdet die Gesundheit der PatientInnen. Sondern der untragbare Personalmangel, Privatisierungen und Überarbeitung – kurz die Unterfinanzierung der Pflege durch die KapitalistInnen. Der Frauenstreik hat gezeigt, dass auch Pflegende zum Kampf bereit sind. Wie diese Kämpfe zu organisieren sind, zeigen internationale Beispiele.
«Wir streiken, weil ihr wartet!»
Aktuell zeigen die Streikenden in über 240 französischen Notaufnahmen auf, dass der Kampf von Pflegepersonal und PatientInnen gemeinsam geführt werden muss. Sie wenden sich direkt an ihre PatientInnen: «Ihr müsst nicht warten, weil wir im Streik sind – wir sind im Streik, weil ihr warten müsst.»
Die Berliner Charité zeigt, dass Arbeitskämpfe gegen Verschlechterungen und sogar für Verbesserungen gewonnen werden können – ohne die PatientInnen zu gefährden . Es wurde eine Notdienstvereinbarung erkämpft, die die Spitalleitung verpflichtete, Betten und ganze Stationen zu evakuieren: «Wo kein Patient ist, kann auch keiner gefährdet werden.»
Einen Kampf so organisiert zu führen, setzt eine aktive und kämpferische Gewerkschaftsbasis voraus. Die Kämpfenden selbst müssen die Verantwortung tragen. Bei Arbeitskämpfen müssen Betriebsversammlungen über Weiterführen oder Abbruch der Kampfmassnahmen entscheiden.
Für ArbeiterInnenkontrolle
Der Aufbau dieser Basis mit kämpferischen Methoden darf nicht aufgeschoben werden. Seit über zehn Jahren bezahlen die ArbeiterInnen für die Krise des Kapitalismus. Daran ändert auch die Pflege-Initiative des Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner nichts. Zwar sind ihre Forderungen nach genügend Fachpersonal, Gewährleistung der Pflegequalität und besseren Arbeitsbedingungen unterstützenswert. Doch die KapitalistInnen bereiten weitere Angriffe vor: So rechnet beispielsweise der bürgerliche Think Tank Avenir Suisse vor, dass man durch «effizientere Organisation» von Pflegeheimen und Spitex 14’000 Stellen einsparen könnte. Selbst im Falle einer Annahme der Initiative läge die Umsetzung beim bürgerlichen Staat – derselbe Staat, der fleissig Sparpakete schnürt und privatisiert. Dem Kapital unliebsame Initiativen werden zahnlos gemacht oder erst gar nicht umgesetzt.
Solange die KapitalistInnen die Produktionsmittel – Pflegeeinrichtungen, Material und Geräte – besitzen, opfern sie unsere Arbeitsbedingungen und das Wohl der Kranken ihrer Suche nach immer mehr Profit. Arbeitende müssen für die demokratische Kontrolle ihrer Betriebe und der ganzen Gesellschaft kämpfen. Nur so können wir sicherstellen, dass Ressourcen für die Ausbildung von Pflegenden und für gute Arbeits- und Pflegebedingungen zur Verfügung gestellt werden.
Flo D.
Marxist Society Uni Basel
Bilder: T. Lentsch zvg
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