Wir veröffentlichen hier das neuste Editorial von Revolució: der Zeitschrift der IMT in Katalonien. Die katalanischen MarxistInnen präsentieren eine Bilanz aus einem Jahr intensiven Kämpfen für eine unabhängige Republik und erklären die Aufgaben, die sich dem linken Flügel der republikanischen Bewegung stellen.
Ein Jahr nach dem Unabhängigkeitsreferendum vom ersten Oktober ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme. Ein Jahr nach den historischen Kämpfen und heldenhaften Anstrengungen der katalanischen Bevölkerung, die für ihre Rechte und Freiheiten kämpfte, müssen wir uns fragen, wo wir heute stehen. Die Situation ist alles andere als günstig. Im republikanischen Lager dominieren Demoralisierung und Verwirrung.
Die Repression des spanischen Staates ist kein bisschen geringer geworden, trotz der Abwahl von Ministerpräsident Rajoy. Die Minister der alten katalanischen Regierung (mit der Ausnahme vom ehemaligen Wirtschaftsminister Santi Vila) bleiben im Exil oder im Gefängnis, wo sie immer noch auf einen Prozess warten. Die Verlagerung der Gefangenen in katalanische Gefängnisse durch die neue Regierung des Sozialdemokraten Pedro Sánchez ist nur ein mickriges Zugeständnis. Die Repression des spanischen Staates hat Dutzende AktivistInnen getroffen, ihnen drohen jetzt Bussen und Gefängnisstrafen. Noch schlimmer ist, dass unionistische (unabhängigkeitsfeindliche) Parteien, insbesondere die neuere Rechte Partei Ciudadanos, ihre Hasskampagnen fortführen. Diese haben zum Ziel, die katalanische Bevölkerung nach nationalen Linien zu spalten. Sie fördern Gewalt und schaffen ein günstiges Umfeld für das Wachstum von faschistischen Gruppen.
Die Mängel der republikanischen Führung
Die Repression des spanischen Staats ist aber nicht die einzige Hürde, mit der die Unabhängigkeitsbewegung konfrontiert ist. Wir müssen auch mit der Führung der Bewegung scharf ins Gericht gehen. Die Wahrheit ist, dass die grössten Unabhängigkeitsparteien: der Partit Demòcrata Europeu Català (PDeCAT) und die Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) systematisch vor den Erpressungen des spanischen Staates kapituliert haben. Die aktuelle katalanische Regierung um Regierungspräsident Quim Torra ist kaum die Regierung einer autonomen Region. Sie hat de facto weniger Macht und Freiheiten als die Generalitat (die katalanischen politischen Institutionen) vor einem Jahr.
Wieder einmal haben die Unabhängigkeitsparteien PDeCAT und die ERC die Repression als eine Legitimation ihrer Untätigkeit missbraucht. Wir müssen uns aber fragen: Hat ihre feige Haltung den Gefangenen und Vertriebenen irgendetwas genützt? Nein, sie war sogar komplett kontraproduktiv. Ihre Untätigkeit hat den Spanischen Staat sogar noch gestärkt. Mittlerweile ist die republikanische Rhetorik von Regierungspräsident Torra und seinen BeraterInnen nur noch die müde, trügerische und erbärmliche Demagogie einer besiegten Regierung; verängstigt und unterwürfig gegenüber dem spanischen Staat, ohne Perspektive oder Willen zu kämpfen, klammert sie sich verzweifelt an ihre Posten.
Eine revolutionäre Aufgabe
Das heutige Bild scheint hoffnungslos. Wir müssen ehrlich sein: Unter diesen Bedingungen ist es unmöglich die Republik unmittelbar zu gründen. Nichtsdestotrotz werden die Ereignisse des letzten Jahres nicht umsonst gewesen sein, wenn die republikanischen AktivistInnen die notwendigen Schlüsse ziehen. Welche Schlussfolgerungen müssen wir aus all dem ziehen, was passiert ist? Im spanischen Staat ist das Recht auf Selbstbestimmung eine revolutionäre Aufgabe. Der Kampf dafür bringt uns nicht nur in Konflikt mit einem autoritären Staat, der gegen jeglich Selbstbestimmung ist, sondern mit dem ganzen kapitalistischen und imperialistischen System, auf dem dieser basiert. Die ökonomischen Terrorkampagnen der grossen spanischen und katalanischen Unternehmen und die zynische Einstellung der Imperialisten der Europäischen Union und der ‚internationalen Gemeinschaft‘ haben das eindeutig gezeigt.
Eine revolutionäre Aufgabe braucht eine revolutionäre Führung. Sie kann nicht von reformistischen und kleinbürgerlichen Parteien wie der PDeCAT oder der ERC durchgeführt werden. Ein revolutionärer Kampf muss eine entscheidende Mehrheit der Bevölkerung begeistern und mobilisieren, im Grunde nämlich die revolutionärste Klasse der Gesellschaft: die ArbeiterInnenklasse. Es ist notwendig, die republikanische Führung wieder aufzubauen, sie nach links und zur ArbeiterInnenklasse hin zu verschieben. Wie erreichen wir das?
Die Aufgabe der Verteidigungskomitees
Aufgrund ihrer Breite, Militanz und der politischen Autorität, die sie sich verdient haben, obliegt diese Aufgabe unsere Meinung nach den republikanischen Verteidigungskomitees. Eine nationale Konferenz der Verteidigungskomitees – mit Delegierten, die in jedem Komitee gewählt werden, die debattieren und Dokumente verabschieden, eine nationale Führung mit einem demokratischen Mandat, das der Bewegung eine gemeinsame Identität gibt – würde helfen, die Fragmentierung und Verwirrung zu überwinden. Die Bedingung dafür ist die komplette Unabhängigkeit und das grösstmögliche Misstrauen gegenüber dem PDeCAT-ERC-Block. Die Verteidigungskomitees müssen ihre Aufgabe nicht darin sehen, Druck gegenüber der Generalitat aufzubauen, sondern eine Alternative zu ihr anzubieten. Politisch und organisatorisch gestärkt und zentralisiert, würden die Verteidigungskomitees im Zuge der Ereignisse wieder rasch anwachsen. Viele RepublikanerInnen suchen nach Antworten und Alternativen und könnten sie in den Verteidigungskomitees finden.
In diesem Sinn hat die Candidatura d’Unitat Popular (CUP), die konsequenteste republikanische Partei, eine wichtige Rolle zu spielen. Ihre Mitgliedschaft war und ist sehr aktiv in den Verteidigungskomitees. Sie hat diese in vielen Regionen aufgebaut und angeführt, wodurch sie viel Autorität errang. Die CUP soll nicht zögern und ihre Ansichten, Slogans und Perspektiven in den Verteidigungskomitees einbringen. Dort soll sie nicht nur organisatorische, sondern auch politische Arbeit verrichten und die besten republikanischen AktivistInnen in ihre Ränge gewinnen.
Eine Klassenfrage
Die Aufgabe, das republikanische Lager zu vereinen und um eine neue Führung herum zu gestalten, ist jedoch nicht die grösste Hürde, die uns bevorsteht. Es ist notwendig, die Spaltung in der katalanischen ArbeiterInnenklasse nach Nationalitäten, die grösstenteils vom Gift der Ciudadanos herrührt, zu durchbrechen. Das kann nur durch eine Politik erreicht werden, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützt. Adecco zufolge sind die Durchschnittslöhne seit 2016 um €400 gesunken, und das mitten in einer Phase der ökonomischen «Erholung». Gleichzeitig stieg die Anzahl katalanischer Millionäre zwischen 2015 und 2016 um 577. Das Mass an Ausbeutung und Ungleichheit ist so gross wie noch nie. Wenn der ganze Frust von 10 Jahren Krise in Massenmobilisierungen kanalisiert würde, wäre der Staat am Ende. Man muss die Klassenbedeutung der Politik des Vorsitzenden von Ciudadanos, Albert Rivera, und des Anführers des rechten Partido Popular, Pablo Casado, verstehen. Die soziale Ungerechtigkeit in Spanien ist so gross, dass die obszönen Privilegien der KapitalistInnen nur erhalten werden können, wenn die Ausgebeuteten nach ethnischen Grenzen und eben auch nach Nationalitäten gespalten werden.
Überwindung nationaler Hürden: Klassenpolitik
Es muss eine Priorität sein, die nationale Selbstbestimmung mit sozialen Rechten zu verbinden und zu erklären, dass der Staat, der die Unabhängigkeitsbewegung unterdrückt derselbe ist, wie derjenige, der Rechte und öffentliche Dienste beschneidet; dass «Spanien» nicht denen gehört, die die spanische Fahne von ihren Balkonen hängen, sondern den Oligarchen der spanischen Börse IBEX-35. Die CUP, die grösste sozialistische Partei Kataloniens, hat das mit ihren «Dekreten über die Würde» sehr gut erklärt. Das Problem ist, dass die CUP eine Minderheitspartei bleibt. Zusätzlich hat die CUP sich leider diskreditiert, indem sie den letzten Jahren im Parlament immer wieder für Abbaubudgets gestimmt hatte, den Preis dafür bezahlt sie immer noch.
Wir müssen sehen, dass die meisten ArbeiterInnen mit einer spanischen Identität in Katalonien Unabhängigkeit mit Quim Torra und co. assoziieren: Das heisst, mit einem identitären Nationalismus, der sich nicht grossartig von Ciudadanos unterscheidet, wenn es um Sozialpolitik geht. Das macht es noch notwendiger, ein neues republikanische Bollwerk rund um die Verteidigungskomitees aufzubauen, um mit dem PDeCAT-ERC-Block zu brechen und sich mit einem klar sozialen und klassenkämpferischen Programm zu bewaffnen – einem sozialistischen Programm.
Aktiver Internationalismus
Aber die nationale Spaltung der katalanischen ArbeiterInnen kann nicht durch Klassenpolitik alleine überwunden werden. Der Internationalismus ist genauso wichtig. Mit dem Klassenkampf und der militanten Linken im ganzen spanischen Staat Brücken zu bauen sollte zur Priorität werden. Das würde uns unseren natürlichen Verbündeten näher bringen, der ArbeiterInnenklasse und der Jugend vom Rest der Halbinsel. Das würde uns helfen das Misstrauen, das die spanische Rechte gegen Katalonien säht, zu überwinden und das Regime von innen zu schwächen.
Das wichtigste ist eine aktive internationalistische Politik von der CUP und den Verteidigungskomitees. Dies würde den ArbeiterInnen in Katalonien, die sich spanisch fühlen, klar zu verstehen geben, dass der katalanische Republikanismus den identitätsbasierten Nationalismus ablehnt und die Verbindung mit den ArbeiterInnen ausserhalb von Katalonien sucht. Die Reise nach Madrid des CUP-Abgeordneten Vidal Aragonés und einer Delegation der Verteidigungskomitees am 14. April, dem Tag der Republik, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Das genügt aber nicht. Wir müssen die militante spanische Linke offen aufordern, eine gemeinsame Front gegen das 1978er-Regime aufzubauen. Man könnte damit anfangen, dass die CUP und die Verteidigungskomitees den Forderung nach einer Demonstration gegen Repression und die neofranquistische Bewegung aufwerfen.
Eine trügerische Ruhe
Wegen der Passivität der PSOE und dem Opportunismus und der Initiativlosigkeit von Unidos Podemos, scheint die Stimmung in ganz Spanien momentan ruhig. Unter der Oberfläche akkumulieren sich aber die Widersprüche, die Empörung gegen Prekarisierung, die Ausbeutung und Ungleichheit und der Ekel über den reaktionären Charakter des Staats. Der Frauenstreik am 8. März, die RentnerInnendemonstrationen, die Bewegung von Altsasu gegen Repression und die Streiks bei Amazon und Ryanair sind Ausdrücke der wirklichen Stimmung in Spanien. Wir müssen uns auf weitere solche Ausbrüche vorbereiten und ihnen eine freundliche Hand aus Katalonien anbieten.
Kein Vertrauen in den PDeCAT-ERC Block!
Stärkt die CUP durch einen proletarischen Klassenstandpunkt!
Baut die Verteidigungskomitees auf und bewaffnet sie politisch!
Für eine gesamtkatalonische Konferenz der Verteidigungskomitees!
Lasst uns die nationalen Spaltungen mit Sozialismus und Internationalismus überwinden!
Für die Verbindung mit den Kämpfen in ganz Spanien!
Um die Republik zu gründen, brauchen wir eine Revolution!
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