ArbeiterInnen feiern die Russische Oktoberrevolution, legen das Land mit einem Generalstreik lahm und werden von Soldaten beschossen. Der Landesstreik von 1918 ist bis heute der wichtigste Klassenkampf der Schweizer Geschichte. Bis in die Gegenwart wirkt die Kraftprobe zwischen Proletariat und Bourgeoisie.
Bürgerliche und die Bauern strichen während des Krieges hohe Gewinne ein. Für die Arbeitenden verschlimmerten sich die Bedingungen: Die realen Löhne sanken um ein Drittel. Soldaten und ihre Familien erhielten keinen Wehrpflichtersatz. Der Bundesrat lockerte Arbeitsschutzgesetze und intensivierte Zensur und Überwachung. Die Arbeitenden reagierten mit Streiks und Hungerrevolten.
Die Bürgerlichen beobachteten die revolutionäre Bewegung in ganz Europa. Sie nahmen die Gefahr einer sozialistischen Revolution ernst – im Gegensatz zur Leitung von SP und Gewerkschaften. Diese drohten zwar gegen Kriegsende mit einem schweizweiten Generalstreik (Landesstreik), hatten aber nicht ernsthaft vor, ihn durchzuführen. Dementsprechend sassen sie in der Klemme, als das Schweizer Militär am 6. November Zürich besetzte. Diese Provokation konnten die Arbeitenden nicht hinnehmen. Um die Kontrolle zu behalten, riefen SP und der Gewerkschaftsbund SGB über das Oltener Aktionskomitee am 11. November den Landesstreik aus.
Mehr als 250’000 beteiligten sich am Streik – die mächtigste Bewegung, die die Schweiz je gesehen hatte. Als der Bundesrat mit dem Eingreifen der Armee drohte, gab das Oltener Komitee klein bei und brach den Streik bedingungslos ab. Nur mit Mühe gelang es, dies den Arbeitenden begreiflich zu machen. Die Verzweiflung war besonders unter den klassenbewussten ArbeiterInnen gross. Mancherorts kam die Nachricht zum Streikabbruch zu spät: In Grenchen wurden drei Arbeiter von Soldaten erschossen. Der Streik war vorbei.
Die Niederlage veränderte die Linke. SP und Gewerkschaften verloren in den folgenden Jahren mehr als ein Drittel ihrer Mitglieder. Interne Richtungskämpfe eskalierten. Der linke Flügel der SP spaltete sich ab, um die Kommunistische Partei zu gründen. Die herrschende Klasse rückte zusammen, organisierte sich ebenfalls neu. Sie erhielt mit dem Aufstieg des bäuerlichen BGB (heute SVP) und rechtsradikalen Bürgerwehren neue Verbündete. Andererseits waren sie von der Machtdemonstration des Proletariats beeindruckt. Um die ArbeiterInnenbewegung langfristig in Schach zu halten, sollte ihre Führung für die herrschende Ordnung gewonnen werden. Im neuen Proporzwahlsystem gewann die SP an Stimmen und über die Regierungsbeteiligung wurde laut nachgedacht. Die SP biss an und versuchte bald nicht mehr den Kapitalismus zu bekämpfen, sondern lediglich ihn zu verwalten. Unternehmen begannen systematisch mit Gewerkschaften zu verhandeln und legten so den Grundstein für die Sozialpartnerschaft. Im Gegenzug verzichteten die Gewerkschaften auf Kampfmassnahmen im Betrieb.
Heute interpretiert die reformistische Linke den Landesstreik als erfolgreiche Aktion. Sie nutzt das Jubiläumsjahr aber nicht, um die Klassenherrschaft frontal anzugreifen: Im Gegenteil betont sie ihre staatstragende Rolle. Die SP habe schon damals gewusst, welche Institutionen es brauche, um den inneren Frieden zu sichern. Das habe der Landesstreik unterstrichen, wenn die Bürgerlichen auch noch Jahrzehnte benötigt hätten, um zur Vernunft zu kommen. SP-Nationalrat Wermuth geht noch weiter und ruft zum Kompromiss mit den Liberalen auf. Nur durch den Streikabbruch habe man den Bürgerkrieg verhindert!
Wermuth und Co. erheben die Fehler der SP im Generalstreik zur Tugend. Der rechte Flügel gewann den internen Machtkampf und verhinderte eine politische Vorbereitung des Streiks. Insbesondere die Agitation im Militär und unter den Bauern war mangelhaft. Zu untersuchen ist, ob nicht doch mehr möglich gewesen wäre, sogar eine Revolution? Hatte der spätere SP-Bundesrat Nobs recht als er 1918 schrieb: «Niemals ist schmählicher ein Streik zusammengebrochen. Zusammengebrochen […] an der feigen und treulosen Haltung der Streikleitung»?
Wir stellen uns diesen Fragen im kommenden Jahr mit Artikeln und Veranstaltungen. Denn es sind nicht historische, sondern politische Themen, um die es heute zu kämpfen gilt! Wie verankern wir uns in der arbeitenden Klasse, um die Machtfrage zu stellen? Wie bereiten wir uns auf eine Konfrontation mit dem Militär vor, die nicht in einem Blutvergiessen endet? Wer sich nicht damit abfinden kann, hundert Jahre reformistische Buckelei zu rechtfertigen, sollte nicht nur Landesstreikanalysen aus reformistischer Feder lesen.
Perspektive — von der Redaktion — 20. 12. 2024
Nah-Ost — von Hamid Alizadeh, marxist.com — 08. 12. 2024
Nordamerika — von Alan Woods, marxist.com — 27. 11. 2024
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024