In den Städten des Südwestens gibt es kaum noch ein anderes Gesprächsthema ausser den anstehenden Wahlen. Am Ostersonntag tritt Jean–Luc Mélenchon vor knapp 70’000 UnterstützerInnnen und Unentschlossenen in Toulouse auf. Am Abend vorher gibt es in allen Bars nur ein Thema: Die Kandidatur von «La France insoumise».
Eindrücke aus dem Frankreich vor den Wahlen
Am Sonntagmorgen in der Bäckerei diskutieren die Rentner: „Wir sind klar für Mélenchon. Doch in Griechenland hat das nicht funktioniert. Was soll man jetzt anders machen?“
Auch Phillip Poutou, Fabrikarbeiter und Kandidat der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA), spricht am Dienstag in Toulouse. Seine Unterstützenden haben fleissig die Quartiere plakatiert. Auf den Plakaten wird die 32-Stunden-Woche gefordert. In den Umfragen liegt er kurz vor dem Urnengang bei beachtlichen 2%. Das Gesprächsthema Nummer eins ist aber klar Jean-Luc Mélenchon (JLM), dessen Umfragewerte durch die Decke gehen. In Meinungsforschungen auf Grundlage der sozialen Medien wird ihm Anfang Woche mehrfach ein Platz in der zweiten Runde vorhergesagt.
Ein Genosse unserer französischen Schwestersektion «Révolution», wohnt in einer Sozialwohnungssiedlung am Rande von Toulouse. Zusammen mit seiner France Insoumise-Gruppe (FI – frz. rebellisches Frankreich) ging er von Haustüre zu Haustüre. Viele haben erst aufgemacht, als sie die Mélenchon-Flyer gezeigt haben. Für viele gab es nur zwei Möglichkeiten: „Le Pen oder Mélenchon, alles andere kommt nicht in Frage“.
Am Dienstagabend findet Mélenchons letzte grosse Veranstaltung statt. Er spricht in einer Halle in Dijon und wird als Hologramm an sechs weiteren Orten übertragen. In ganz Frankreich sind es 35’000 Personen, die ihn kurz vor den Wahlen nochmals hören wollen. JLM hält eine Rede mit Klassencharakter, jedoch sich dem Klassenkampf-Vokabular zu bedienen. Wenngleich er sich gemässigt ausdrückt und sein linker Nationalismus immer mitklingt, gibt er sich deutlich linker als in der Osterrede.
Er erklärt die Mehrwerttheorie, indem er sagt, wie viele Tage französische Lohnabhängige ausschliesslich für Dividenden arbeiten (über 80). Dann umreisst JLM einen Ökosozialismus, ohne sich herablassend über die „unbewusst“ konsumierende ArbeiterInnenklasse auszulassen. Die Gesellschaft muss politisch ermöglichen, dass man in Frankreich ökologisch lebt. Das sei nur möglich, wenn man die Wirtschaft teilweise plant.
Weiter greift er seinen Gegner Macron an. Der Kandidat von „En marche“ musste seine öffentlichen Veranstaltungen mehrfach absagen, weil kaum jemand kam. In seinem Programm glänzt er mit Zynismus und Doppelmoral: Sein Vorschlag für eine Rentenreform will ein Punktesystem einführen, mit dem das obligatorische Rentenalter wohl auf 67 angehoben würde. Das wird natürlich mit der unsicheren Finanzierung eines tieferen Rentenalters begründet. JLM schmettert ihm in Dijon entgegen: „Wenn ich Präsident werde, setzen wir die Lohngleichheit der Geschlechter durch“. Wenn Frauen die gleichen Löhne bekommen, “ mit den zusätzlichen Abgaben müssen wir nicht mehr über Finanzierungsprobleme reden!“
Diese Rede des Hologramms hörten in Montpellier knapp 10’000 in der Expo-Halle. Die Mehrheit davon waren nicht die jüngsten, aber beim Zeitungsverkauf am Ende der Veranstaltung, trafen wir ausschliesslich Überzeugte an. Eine junge Frau war an allen Meetings der „möglichen“ Kandidaten (Poutou, Hammon, JLM), sie sagt: «Nur Mélenchon hat eine Chance weiterzukommen, und die will ich unterstützen». Einige ältere Semester zeigen Verständnis für die Kritik an der illusorischen „république sociale“. Doch ihr einzige Sorge war, ob die marxistische Strömung nicht schliesslich doch Poutou unterstützte (was wir natürlich verneinten).
Die fehlende Ausrichtung des öffentlichen Verkehrs auf Grossveranstaltungen in der Vorstadt (ein Tram alle 30 Minuten) machten sich die motivierten Mélenchon-Anhänger zunutze und feierten eine Party im vollen Tram. „Wir sind hier, wir sind hier, wir sind das rebellische Frankreich!“
In Marseille gibt es am Mittwoch vor dem ersten Wahlgang noch Wiederstand gegen die letzte Wahlkampfveranstaltung des Front National. Viele linke Organisationen sind präsent: einige Gewerkschaften (CGT, FO, Solidaires), alle Ultralinken Gruppen, aber auch die Jungkommunisten und die französische KP. Die Stimmung ist genossenschaftlich. Das macht Mut. Auch für den Fall, dass das Resultat enttäuschend wird, das hier wird die Opposition.
Caspar Oertli
JUSO Stadt-Zürich
Michael Wepf
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