[dropcap]Ü[/dropcap]ber das von Präsident Recep Tayyip Erdoğan angestrebte Präsidialsystem findet Mitte April ein Referendum statt. Der Wahlkampf tobt und wird auch in Deutschland und Westeuropa heftig ausgetragen. Worum geht es und was sind die Perspektiven?
Die jüngsten Terroranschläge in der Türkei wie jene in der Silvesternacht in Istanbul werden in klassischer Manier von Erdogan ausgenutzt, um politisches Kapital daraus zu schlagen. Im Namen der „Stabilisierung“ und der „Sicherheit“ werden Demokratieabbau sowie staatliche Repression befeuert. So wurde der Ausnahmezustand bereits ein zweites Mal verlängert und endet nun erst am 19. April.
Aber nicht nur Terrorakte, auch der Putschversuch im Sommer letzten Jahres kam Erdogan gelegen, um den Staatsapparat einer regelrechten „Säuberung“ zu unterziehen. 100.000 Staatsbedienstete wurden ausgewechselt oder suspendiert. Außerdem gewannen die brutalen Repressionen gegen die HDP, einer Linkspartei mit starker Verankerung unter der kurdischen Minderheit, im Dezember an Fahrt. Hunderte HDP-PolitikerInnen wurden verhaftet und Dutzende Parteibüros von der Polizei zerstört.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Einführung des Präsidialsystems zu sehen, welches Erdogan seit längerer Zeit umsetzen will. Für dieses Vorhaben konnte die regierende AKP im Parlament zusammen mit der rechtsextremen MHP eine 3/5 Mehrheit bekommen. Das macht den Weg frei für ein Referendum Mitte April.
Im Kern sollen 18 Artikel der jetzigen Verfassung abgeändert werden. Laut Erdogan und seiner Partei AKP geht es angeblich darum, die Verfassung zu „modernisieren“ und somit die Exekutive noch „handlungsfähiger“ zu machen. Seit der Gründung der türkischen Republik gibt es im Land – mit Ausnahmen und Unterbrechungen – eine Form der parlamentarischen Demokratie auf der Grundlage freier Wahlen. Lange Zeit gab es Koalitionen.
Alle Macht dem Präsidenten
Seit 2002 hat die regierende Partei AKP eine Mehrheit, die immer höher ausfiel. Bei der letzten Wahl hat sie sogar fast 50 Prozent der Stimmen erhalten. Dass die Wahlen in der Türkei allerdings nicht ohne Probleme und Manipulationsvorwürfe einhergehen, ist niemandem unbekannt. Trotzdem wurde das Wahlergebnis so auch von den Oppositionsparteien akzeptiert. Das Staatsoberhaupt R.T. Erdoğan (er war ja vorher auch der Ministerpräsident) hat sich nun zum Ziel gesetzt, nicht nur als Staatspräsident zu fungieren, sondern die wesentlichen Aufgaben der Exekutive gleich mit zu übernehmen. Seine Rolle als Staatsoberhaupt in der jetzigen Verfassung ist für ihn dabei ein Hindernis. Um sein Ziel zu erreichen kann, muss die Verfassung entsprechend geändert werden.
Obwohl der Präsident weitergehende Rechte hat als in anderen bürgerlichen westlichen Demokratien, war seine Rolle im Staatsapparat vielmehr eine mit symbolischem Charakter. Laut AKP wolle man ein Präsidialsystem einführen, ähnlich wie in den USA oder Frankreich. Wenn man die Änderungen aber näher betrachtet, wird sofort klar, dass dies alles mit einem solchen System der Gewaltenteilung nichts zu tun hat. In den genannten Ländern spielen die Parlamente und zweiten Kammern (Senat) eine systemrelevante und sehr entscheidende Rolle. Falls die vorgeschlagenen Änderungen jedoch in der Türkei eintreten, wird die Rolle des Parlaments fast nebensächlich.
So wird etwa mit der Art. 5 des Änderungsgesetzes bestimmt, dass das Kabinett und auch einzelne Ministerien nicht mehr unter parlamentarischer Kontrolle stehen. Außerdem kann nach Art. 6 ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz bei einem Veto des Präsidenten nur noch mit einer absoluten Mehrheit zu Ratifizierung geschickt werden. Laut Art. 8 sollen die Kontroll- und Informationsrechte des Parlaments abgeschafft wird. Dass die künftigen Präsidenten mehr exekutive Rechte erlangen werden, sieht man auch in der Art. 11 des Änderungsgesetzes. Demnach kann der Präsident präsidiale Verordnungen erlassen, ohne dass das Parlament dabei beteiligt wäre. In Art. 13 ist vorgesehen, dass der Präsident einen oder mehreren Vizepräsidenten ernennen darf. Weiterhin ist er als Entscheidungsorgan für das Verhängen des Ausnahmezustands vorgesehen (Art. 15). Bisher war das die Aufgabe des Kabinetts. In Artikel 16. und 17 werden die Ernennung bzw. Berufung und die Zusammensetzung von obersten Gerichtshöfen, Verfassungsgericht sowie Richter- und Staatsanwaltschaftskammer neu geregelt und dabei dem Präsidenten erhebliche Rechte zuerkannt. Somit ist er in der Lage, diese nach eigenem Ermessen besetzen zu lassen. Das ist eine endgültige Entscheidung zur Aufgabe der Gewaltenteilung in einem Land, in dem dies seit mehr als 90 Jahren mehr oder weniger nach westlichen Kriterien funktioniert hat.
Wenn man bedenkt, dass auch die Minister vom Präsidenten ernannt werden und er durch Erlassen der präsidialen Verordnungen in der Lage ist, das exekutive Recht auszuüben und somit die Kontroll- und Überprüfungsrechte des Parlaments beschnitten werden, zeigt sich vor allem eins: Diese Änderungen haben mit einem klassischen bürgerlich-demokratischen Präsidialsystem sehr wenig am Hut. Demgegenüber herrscht etwa in den USA oder in Frankreich ein strenges Gewaltenteilungsprinzip.
Die Frage nach den Ursachen dieses Prozesses ergibt sich von selbst, wenn man die Entwicklung der letzten Jahre in der Türkei beobachtet. Das Land hat sich unter Erdoğan nach und nach in ein totalitäres Regime umgewandelt. Das Referendum ist der letzte Schritt, um das Land nach seinen Vorstellungen zu regieren und dies auch in der Verfassung zu verankern. Somit wird ihm nichts mehr im Wege stehen, um eine bürgerliche Demokratie in einen diktatorialen Staat umzuwandeln und seine Rolle als alleiniger Herrscher zu verfestigen.
Es sollte festgehalten werden, dass einige dieser Punkte jetzt schon Realität sind. So herrscht seit Sommer Ausnahmezustand und Angestellte und Funktionäre in Politik, Justiz, Militär, Medien und Bildungswesen werden nach Erdogans Willen ausgetauscht. Die Verfassungsänderungen sollen in dieser Situation als demokratische Legitimierung des neuen Status Quo in der Türkei dienen.
Was nun?
Die Entwicklung in der Türkei kann die Region und die Welt erschüttern. Die Türkei ist ein territorial großes, aber auch geopolitisch sehr wichtiges Land. Wenn das Land irgendwann mal im Chaos versinkt, wird das fatale Folgen für Europa und für die Welt haben. Darüber hinaus darf man die Menschen dort einfach nicht diesem Schicksal überlassen. Die türkische Wirtschaft befindet sich in einer tiefen Rezession.
Als der Krieg in Syrien losging, viele hunderttausend Menschen getötet und die Städte kaputt bombardiert waren, wollte keiner in Europa wahrhaben, was dies alles für Folgen haben würde. Es interessierte sowohl die Politiker als auch die Menschen hier nicht so großartig, was da passierte. Weil eben das sehr fern von hier und „nicht unser Problem“ war. Als aber die schutzsuchenden Menschen vor der Festung Europa standen, änderte sich alles. Plötzlich wurde Erdogan ein intimer Verbündeter der EU. Er sollte die Flüchtlinge zurückhalten und wurde dafür vom Westen gehätschelt.
Nun könnte sich der „Sultan“ aber verrechnet haben und könnte das Referendum durchaus scheitern. Nach einer aktuellen Umfrage lehnen 58 Prozent der Bevölkerung Erdogans Plan ab. Das zeigt das Potenzial auf, das eine entschlossen geführte Nein-Kampagne hätte. Wichtig ist dabei, die Frage der Demokratie mit der immer schlechter werdenden wirtschaftlichen Situation in Verbindung zu bringen. So könnte das Referendum, das Erdogans Macht zementieren soll, genau zum Gegenteil führen. Entschlusslosigkeit und rein abstrakte „Demokratie“-Appelle wird Erdogan aber nur dafür nützen, dem Volk die Pistole auf die Brust zu setzen und sich wie schon bei den letzten Parlamentswahlen als einzige Alternative zum Chaos zu präsentieren.
Die anhaltende Krise führt dazu, dass Erdogan sich immer weniger auf breite Schichten der Bevölkerung stützen kann, sondern seine Herrschaft mehr und mehr auf direkte Unterdrückung durch den Staatsapparat, in letzter Instanz Polizei und Militär, begründen muss. Wenn Erdogan reihenweise Zeitungen verbietet und immer mehr Macht in seinen Händen konzentriert, ist das kein Zeichen der Stärke, sondern der extremen Instabilität und der Widersprüche des Kapitalismus. Die steigende gesellschaftliche Dynamik, die jetzt Erdogan zu nutzen versucht, sich zum Diktator aufzuschwingen, wird in der Zukunft erneut Kräfte von unten auf die Straßen und in den Kampf treiben. Eine zentrale Rolle wird hier die Arbeiterklasse in der Türkei spielen, die die stärkste in der Region ist und stolze klassenkämpferische und revolutionäre Traditionen hat.
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