Lange schien das Bewusstsein der herrschenden Klasse ziemlich lernresistent. Die Weltwirtschaft ist seit 2008 in einer tiefen Krise und die etablierten politischen Parteien verlieren eine nach der anderen das Vertrauen der Massen. Trotzdem haben die Kapitalisten nicht eingestanden, dass sie mit ihrem Latein am Ende sind.
Ihre Privatsphäre riegeln sie aber immer stärker ab. Das Independent-Magazin schrieb, dass die Milliardäre Revolten durch die Bevölkerung fürchten, weil durch die Digitalisierung enorm viele Arbeitsplätze vernichtet werden würden. Natürlich verschwinden diese Jobs nicht von heute auf morgen, aber die Ersetzung von Menschen durch vollautomatisierte Maschinen wird – unter kapitalistischen Bedingungen – zu grosser Arbeitslosigkeit führen.
Die grossen Angriffe auf die Errungenschaften der Lohnabhängigen seit den 80er Jahren und die intensivierte Austeritätspolitik seit Ausbruch der Krise haben in grossen Teilen der Welt zu erhöhter Arbeitslosigkeit, niedrigen Löhne sowie unzureichenden Renten geführt. Die angestammten Parteien, ob bürgerlich oder reformistisch-sozialdemokratisch, hatten und haben keine Antworten darauf. Sie tragen die bürgerliche Krisenpolitik mit und verlieren zunehmend das Vertrauen der Massen. Das drückt sich im Massenbewusstsein zweiseitig aus, denn das politische Pendel schlägt sowohl nach rechts als auch nach links aus. Der rasche Aufstieg von rechtsbürgerlichen und linken Anti-Establishment-Parteien und Bewegungen ist die direkte Folge davon.
Die herrschende Klasse beginnt zu verstehen
Diese seit mehreren Jahren andauernden Entwicklungen haben im Jahr 2016 zu einer plötzlichen Einsicht der Bourgeoisie geführt. Als Christine Lagarde, Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), am WEF 2013 davor gewarnt hatte, dass “populistische Parteien die Konsequenz von steigender Ungleichheit” sein können, nahm das niemand ernst. Heute ist das anders: Die Wahlsiege der AfD, Trumps oder dem Ja-Lager beim Brexit rühren nicht von der Dummheit der Wählenden her, sondern von deren Frustration und Ablehnung gegenüber der bestehenden Politik. Das wurde im vergangenen Jahr auch anderen WEF-Teilnehmenden klar. Diese sorgten sich um die politischen Entwicklungen in der westlichen Welt. So schreibt zum Beispiel die “Financial Times”:
Der richtige Handlungsweg wäre es aufzuhören, die Wähler zu beschuldigen, und noch wichtiger, die Probleme eines ausser Kontrolle geratenen Finanzsektors, eines unkontrollierten Flusses von Menschen und Kapital und einer ungleichen Einkommensverteilung, zu lösen.
Die Financial Times zeigt hier sehr schön die Probleme des ausgewachsenen Kapitalismus auf. Sie erkennt völlig richtig, dass die Anarchie der freien Marktwirtschaft nicht fähig ist, sich den Problemen und Bedürfnissen der Menschen anzunehmen. Die bürgerlichen Ideologen beginnen zu begreifen, dass diese Auswüchse der kapitalistischen Produktionsweise und der bürgerlichen Herrschaft und die Weltwirtschaftskrise seit 2008 die Massen langsam in Bewegung bringt.
Aber die einzigen Antworten gegen die Krise, welche sich abzeichnen, sind Steuersenkungen und Protektionismus. Weniger Steuerabgaben entlasten zwar die Unternehmen, greifen aber die Lebensbedingungen der Massen durch die daraus folgenden Sparpakete direkt an. Lagarde hat trotz ihrer Vorahnung keine andere Lösung gekannt, als Griechenland ins Elend zu stürzen. Auch der Protektionismus wird – durch Vergeltungs-Zölle zum Beispiel – die export- und importorientierten Branchen in arge Bedrängnis bringen.
Alle kurzfristigen Lösungsansätze der Bourgeoisie sind mittelfristig nur Öl, welches ins Feuer gegossen wird. Das Bürgertum versteht nicht, dass es der Kapitalismus an und für sich ist, welcher diese Probleme verursacht. Sie sehen die Risse, die die Baumwurzeln in den Asphalt sprengen und denken, dass sie das Problem lösen können, indem sie die Risse flicken. Doch es ist die tieferliegende Wurzel, welche immerfort neue Risse produzieren wird.
Jonas Nerú
JUSO Winterthur
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