Unser Autor hat im Sommer einen Monat in einem Sprachkurs in Russland verbracht. Wir veröffentlichen hier einige seiner Eindrücke, die sich um den Zustand der Jugend, Wahlergebnisse und Street Art drehen und nicht um die vielen Lenin-Denkmäler, Kirchen, Polizisten und die grandiose Moskauer U-Bahn.
Mit eineinviertel Millionen Einwohnern ist Nizhnij Novgorod, kurz Nizhnij, die fünftgrösste Stadt Russlands. Von 1932 bis 1991 hiess die Stadt Gorkij, benannt nach Maxim Gorkij, dem von Stalin zur sowjetischen Ikone verklärten Schriftsteller. Die erste Autofabrik der Sowjetunion wurde 1930 hier gebaut inklusive einem eigenen neuen Stadtteil für ArbeiterInnen. Heute wird dort für Suzuki und VW gearbeitet.
Wie fast jeden Morgen während dieses Aufenthalts werde ich geweckt durch die viel zu früh viel zu hoch stehende Sonne und das Dröhnen der Autos. Wie fast jeden Morgen reicht es knapp für eine Dusche an den Nachbarn vorbei. Wir wohnen zu dritt in einem der renovierten Zimmer des Wohnheims. Zusammen verlassen wir das Gebäude und grüssen beim Hinausgehen die ältere Frau von der Eingangskontrolle, die uns mit steinerner Miene anschaut. Wie viel von ihrer zwölfstündigen Schicht noch bleibt wissen wir nicht. Je nachdem reicht es uns noch, etwas im neuen Laden nebenan zu holen. Sonst wartet der Magen eben bis am Mittag. Es folgen drei Stunden Sprachunterricht Russisch zu sechst. Unsere Lehrerin, ist selber nur wenig älter als ich und lässt ab und zu auch ihre Meinung auf gewisse Dinge durchblicken. Bei einer Übung, wie man sich zu Partnerschaften äussert, wollen gleichgeschlechtliche Vorstellungen nicht so recht in ihr Weltbild passen. Konservatismus, oft begleitet vom russisch-orthodoxen Glauben, ist zwar nicht selten anzutreffen bei der russischen Jugend, trifft jedoch längst nicht auf alle zu. Ähnlich verhält es sich mit dem Thema Politik, wo das Gefühl, angesichts der herrschenden Zustände nichts verändern zu können, stark verbreitet ist, und nicht nur bei der Jugend.
Wahlen ohne Wahl
Einen Indikator für diese Stimmung boten die Wahlen zur Staatsduma, dem russischen Parlament, Mitte September. Zum Zeitpunkt meiner Abreise waren es noch gut drei Wochen bis dahin und doch boten weder Nizhnij Novgorod noch Moskau das Bild von Städten, in denen ein heisser Wahlkampf läuft. Alte und jüngere Männer lächeln von Hauswänden und Billboards, vereinzelt gibt es Strassenaktionen mit Extrazeitungen und Give-aways. Im ganzen Land beteiligten sich denn auch lediglich 48% der Bevölkerung mit ihrer Stimme an den Wahlen. Die gleichgültige bis pessimistische Sicht auf die Politik hat sich durch die Wahlen wohl noch verstärkt. Oder waren sie vielmehr Ausdruck dieser Begeisterungslosigkeit? Beides, könnte man sagen. Denn Ursache und Wirkung sind wie so oft nicht getrennte Dinge, sondern die Kehrseite des jeweils anderen. „Im Osten nichts Neues“ wäre auf den ersten Blick ein passender Titel für den Urnengang. EinigesRussland, die Partei von Putin und Medvedev, wurde noch stärker, während die Opposition dahindümpelt oder absackt. Die Kommunistische Partei, die ihren Wähleranteil vor allem durch UdSSR-Nostalgie, Populismus und Forderungen nach mehr staatlicher Kontrolle der Ressourcen hatte halten können, verlor gleich 5% Stimmen. Schlechter ging es den Linksliberalen von „Gerechtes Russland“, die sogar 7% verloren. Typischerweise versuchte nicht nur die KPRF mit roter Nostalgie zu punkten. Die nationalistischen Liberaldemokraten versprachen den Wählern die Grenzen der Sowjetunion zurück. Die neoliberalen Kleinstparteien vermochten mit ihren Versprechen von Aufschwung durch Liberalisierung und mehr Demokratie nach westlichem Vorbild nicht zu überzeugen. Wer kann es den Menschen übel nehmen? Die Erfahrungen der Perestrojka und die Krise der bürgerlichen Demokratie sind nicht gerade ein guter Motivator.
Und wählt man eine Partei, von der man nicht glaubt, dass sie etwas verändern kann? Beim Resultat mitgespielt hat aber auch die Drangsalierung von oppositionellen Parteien und Medien durch den Staat. Es scheint, ein quasi-Einparteiensystem sei für die herrschende Klasse in Russland der einzige Garant für Stabilität. Damit könnten sich die Mächtigen aber selbst übertölpeln. Solange die Situation so bleibt, schafft sie den einbeinigen Balanceakt. Sollte jedoch ein tiefgehender Schock eintreten, wird der normale Wähler wohl mit eher wenig Mitleid auf die Fallenden schauen.
Folgen der Krise
Der scharfe Fall des Erdölpreises und des Rubels im letzten Jahr hat ebenso seine Spuren hinterlassen wie die Sanktionen der EU und das Embargo des Kreml dagegen. Die Geldentwertung, die Touristen einen besseren Wechselkurs beschert, lässt die Preise für normale Waren ansteigen und den Wert der Ersparnisse, besonders der Renten, sinken. Die Regierung erliess deshalb diesen Sommer einen einmaligen Rentenzustupf, was vielleicht auch ein Grund für den Stimmenanstieg von ER sein könnte. Denn ältere Leute sind überwiegend vertreten bei den Wählenden. Wie mir eine Studentin in Nizhnij erklärt, geht man(n) in Russland schon mit 60 in Rente (Frauen mit 55). Wenn die Rente aber nicht reicht und die Familie einen nicht unterstützen kann, versucht man sich eben irgendwie über Wasser zu halten. Eine Folge davon ist, dass nachts um zehn noch Grossmütter vor dem MacDonalds stehen und Blumen verkaufen.
Kunst von Unten
Um dem normalen Alltag zu entkommen, entwickeln junge Menschen verschiedene Strategien. Eine davon, wenn auch eine aussergewöhnliche, ist Kunst. Und Nizhnij ist die inoffizielle Street-Art- Hauptstadt Russlands. An einem Samstag machen wir uns auf eine Tour durch die Stadt mit Jakov Chorev, der selbst Kunst auf Wände malt. Er zeigt uns die wichtigsten Orte der lokalen Street-Art- Szene. Der erste Stopp ist am Ufer der Wolga, wo wir an einem grossen, verlassenen Gebäude mit riesigen Silos vorbeikommen. In dieser Fabrik sei früher Mehl für die ganze Region hergestellt worden, erzählt uns Jakov. Auf der Spitze haben er und seine Crew ihren Namen hinterlassen. Auf dem weiteren Weg zeigt er uns das Bild eines Humanoiden, der das Haus durch Wand, auf die er gemalt ist, zu stützen scheint. Der Künstler hatte es mit den Anwohnern zusammen erarbeitet und mit ihrem Einverständnis durchgeführt. Die Leute, so Jakov, denken, das sei eine Chance, um zu zeigen, dass sie gegen diesen leidvollen Prozess des Verfalls sind.
Silvan Degen
Juso Basel-Land
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