Grigori Sinowjew hat mit seinen undemokratischen Methoden aus der demokratischen Kommunistischen Internationale einen bürokratischen Apparat gemacht, der dem Stalinismus den Weg bereitet hat. Der «Sinowjewismus» schadet auch heute noch dem Aufbau von sozialistischen Organisationen. 

«Die MarxistInnen von heute müssten aus der Geschichte lernen, dann würden sie sehen, dass der Sozialismus nie funktioniert hat», werfen uns liberale und konservative TheoretikerInnen vor. Doch der Marxismus ist die einzige Methode, die wirklich aus der Geschichte lernt. Er ist nämlich die Verallgemeinerung der Erfahrungen der Arbeiterklasse. Eine der wichtigsten Lektionen: Der Kampf für den Sozialismus kann nur mit einer gesunden demokratischen Organisationskultur erfolgreich sein. 

Die Komintern und ihre Degenerierung
Nach dem Verrat der Zweiten Internationalen durch die Sozialdemokratie schlossen sich Revolutionäre aus der ganzen Welt zur Gründung der dritten Arbeiterinternationale (die «Komintern», 1919-1943) zusammen. Die Komintern hatte anfangs die internationale sozialistische Revolution zum Ziel, die bereits überall auf der Welt zum Vorschein kam. So sollte auch die dringend notwendige Befreiung der Russischen Revolution von 1917 aus der Isolierung erfolgen.

In ihren ersten Jahren war die Komintern eine demokratische, lebendige Organisation. Politische Diskussionen standen über organisatorischen Prozeduren und bürokratischen Details. Doch mit dem Scheitern der Weltrevolution geriet die isolierte Sowjetunion und mit ihr die Komintern mehr und mehr unter Druck. Sie degenerierte zum Stalinismus (siehe: «Warum scheiterte die sozialistische Revolution?» auf www.derfunke.ch). Der sogenannte Sinowjewismus war eine wichtige Etappe in dieser Degenerierung. Er war die Brücke zwischen der echten Parteidemokratie der frühen Komintern und der vollständigen Unterdrückung der Demokratie im bürokratisierten Stalinismus.

Grigori Sinowjew
Grigori Sinowjew war bis zu seiner Ausschaltung 1926 durch Stalin der Vorsitzende der Komintern. Der Sinowjewismus beschreibt in erster Linie die Methoden, mit denen Sinowjew die Komintern führte. Sinowjew war ein jahrelanger naher Vertrauter von Lenin. Er stützte sich immer auf Lenins Theorien und Analysen. Doch hatte er nie gelernt, die marxistische Methode selbst richtig anzuwenden.

Trotzki und Lenin, die beiden führenden Figuren der Revolution 1917, hatten bereits ab 1922 begonnen, gemeinsam gegen die Bürokratisierung in der Sowjetunion zu kämpfen. Mit dem Tod von Lenin 1924 begann Sinowjew, die politische Arbeit von Leo Trotzki zu sabotieren. Er sah sich als rechtmässigen Nachfolger Lenins. In seiner Suche nach persönlichem Prestige benutzte er übelste Methoden, um all jene zu delegitimieren und zu schwächen, in denen er eine Gefahr für die eigene Position sah.

Die Lügenkampagne gegen den sogenannten «Trotzkismus» ist beispielhaft für die Methoden des Sinowjewismus. Anstatt auf Trotzkis politische Kritik der Bürokratie zu antworten, wurde dieser als Person angegriffen. Politische Diskussionen wurden mit administrativen Tricks unterbunden. Die weitere Isolierung und Bürokratisierung der russischen Revolution gaben diesen undemokratischen Methoden der Verleumdung und der Unterdrückung von politischen Diskussionen eine Grundlage: Sinowjews Methoden dienten den materiellen Interessen der russischen Partei- und Staatsbürokratie.

«Bolschewisierung» der Komintern
1924 lancierte Sinowjew die sogenannte Bolschewisierung der Komintern. Sie fällt ins Übergangsstadium zwischen Demokratie und bürokratischer Degenerierung. Sinowjew verfolgte zwei Zwecke, die rein gar nichts mit dem wirklichen Bolschewismus von Lenin zu tun hatten: Erstens die Ausschaltung des «Trotzkismus» und allen anderen «Abweichungen» von der Linie der Bürokratie und zweitens die bedingungslose Unterordnung der anderen Sektionen der Komintern unter die Autorität der russischen Führung.

Abweichende Linien wurden als «Bruch der Parteidisziplin» betrachtet und bestraft durch Absetzung aus führenden Positionen oder gar Ausschlüssen aus der Partei. Sinowjew ersetzte die Parteiführung verschiedener kommunistischer Parteien einfach von oben herab – ohne demokratischen Prozess. Eingesetzt wurden Mitglieder, die nach Treue zur russischen Bürokratie ausgewählt wurden und nicht nach der politischen Qualität und entsprechenden Autorität in der Parteibasis. Sinowjews Methoden haben das Innenleben der Sektionen der Komintern völlig zerstört. Das legte die Basis für die Stalinisierung der Komintern, in der die Führungen der Kommunistischen Parteien aller Länder nur noch Marionetten der Moskauer Bürokratie waren.

Sinowjewismus als Methode
Statt politische Differenzen auszudiskutieren, wurden emotionale Mittel (wie Bedrohung, Mobbing, Schmeicheleien, Bestechung) und organisatorische Mittel (wie Disziplinarmassnahmen oder die simple Unterdrückung von Diskussionen) benutzt, um die Linie der Führung durchzusetzen. Die sinowjewistische Methode charakterisiert sich durch die Verwendung von organisatorischen und bürokratischen Mitteln, um fehlende politische Autorität zu kompensieren und Gehorsam gegenüber der Führung zu erzwingen.

Solche Methoden waren Lenin und Trotzki völlig fremd. Für sie – und für uns heute! – ist die einzige legitime Autorität der Führung in einer revolutionären Organisation ihre politische und moralische Autorität. Die Führung einer gesunden Organisation muss in politischen Diskussionen die Basis mit korrekten politischen Argumenten überzeugen können und sich stets von neuem vor den anderen Mitgliedern rechtfertigen. Das ist der einzige Weg zum stabilen und gesunden Aufbau einer politischen Organisation.

Zur Revolution gibt es keine Abkürzungen
Das Verständnis des Sinowjewismus ist nicht von bloss historischem Interesse. Solche Methoden sind auch heute in linken Organisationen weit verbreitet. Oft werden organisatorische Manöver benützt oder Diskussionen abgewürgt, um politische Differenzen aus dem Weg zu schaffen, ohne sie zu klären.

Das ist in erster Linie Ausdruck von fehlendem politischem Niveau und Ungeduld. Wer die Gegenseite nicht mit politischen Argumenten überzeugen kann, greift zu Tricks und Manövern. Doch eine revolutionäre Bewegung muss geduldig aufgebaut werden: Es gibt keine Abkürzungen zur Revolution! Wenn es politische Differenzen gibt, müssen wir sie als solche erkennen, ernstnehmen und ausdiskutieren. Wenn einem die Argumente fehlen, dann ist die Lösung nicht, die Diskussion zu unterbinden, sondern auf die Hebung des politischen Niveaus hinzuarbeiten.

Niemand darf sich zu Schade sein, sich einer politischen Diskussion zu stellen aus Angst, die eigene Position könnte in Frage gestellt werden. Für MarxistInnen haben Prestigepolitik und persönliche Ambitionen absolut nichts in einer revolutionären Organisation verloren. Denn wir verpflichten uns der höchsten Sache: der sozialistischen Revolution, die alle Menschen befreien soll. Das ist ein gemeinsames Ziel, in dem die schädliche Suche nach dem eigenen Ruhm keinen Platz hat.

Vita R.
JUSO Genf

Bild: Public Domain; Wikimedia commons