Der Landesstreik hatte bei den Bürgerlichen Angst und Paranoia ausgelöst. Dies trieb Teile des Klein- und Grossbürgertums in den Faschismus. Für diese Entwicklung steht ein Name besonders exemplarisch: Emil Sonderegger.
Erdrückt von den Entbehrungen des Ersten Weltkriegs rufen die Zürcher ArbeiterInnen für den 10. November 1918 zu einem Streik zur Feier des ersten Jubiläums der Russischen Revolution auf. Obwohl ein Versammlungsverbot herrscht, finden sie sich am besagten Tag auf dem Fraumünsterplatz ein. Lange wird der Ungehorsam nicht toleriert. Mit Kriegsgerät bewaffnete Truppen laufen auf, um die Versammlung aufzulösen. Angeführt vom unzimperlichen Emporkömmling Oberst Emil Sonderegger wird die Versammlung mit Drohungen und Warnschüssen aufgelöst. Aber schon am nächsten Tag wird von Oberst Sonderegger eine Botschaft in Zürich verbreitet, worin er den Zürcher ArbeiterInnen androht, beim nächsten Mal nicht in die Luft, sondern direkt auf streikende ArbeiterInnen zu schiessen. Dieses Ereignis sollte zu einem kritischen Faktor für den späteren Ausbruch des Landesstreiks werden. Sozialdemokratische Parlamentarier brüskieren sich über die ruchlose Art Sondereggers, bürgerliche schützen ihn, doch nach dem Streik wird er vom gesamten Bürgertum als “Retter des Vaterlandes” gefeiert. Die Angst vor einem erneuten Aufbegehren der ArbeiterInnen sitzt jedoch tief im bürgerlichen Bewusstsein. In manchen Kreisen sollte sie sich zu einer Paranoia steigern, die Idealvorstellungen eines autoritären Staates Auftrieb gibt.
Bürgerliche Gegenwehr und Paranoia
Schon während des Landesstreiks beginnen sich in mehreren Städten paramilitärische Bürgerwehren zu bilden. Sie sind Ausdruck der verbreiteten Furcht vor einem revolutionären Umsturz. Obwohl die formal-rechtliche Grundlage für diese Organisationen dünn ist, drücken die Behörden nicht nur ein Auge zu, sondern nehmen diese noch unprofessionellen Truppen unter ihre Fittiche und stellen ihnen Ausbildungs- und Rüstungsmaterial zur Verfügung. Auch der „Retter des Vaterlandes“ Emil Sonderegger begrüsst die Bürgerwehren. Er sieht in ihnen ein erstes Repressionsinstrument, das vor dem Eintreffen der Armee schnell eingesetzt werden kann.
Sondereggers Weg vom Militär zum Faschismus
In den Folgejahren beginnt wieder Ruhe in die bürgerliche Ordnung einzukehren. Während sich das bürgerliche Establishment wieder dem Tagesgeschäft zuwendet, sorgt die Stimmung der Beruhigung bei denjenigen Unzufriedenheit, die die akute Bedrohung einer Revolution noch im Nacken spüren. So gerade auch beim Vorzeigemilitär Oberst Emil Sonderegger, der in den folgenden Jahren eifrig an technischen Verbesserungen für die Schweizer Armee tüftelt. Diese Pläne werden von der Armeeführung, die nun andere Prioritäten hat als maximale Aufrüstung, grösstenteils ignoriert. Nachdem sich die Führung 1923 entschliesst, eine Füsilierkompanie aufzulösen, kündigt der kompromisslos aufrüstungsbessene Sonderegger jäh seinen prestigeträchtigen Militärposten und geht zur privaten Rüstungsindustrie.
Auf einer Geschäftsreise beginnt der Ex-Militär, erstmals öffentlich politische Meinungen zu äussern. Diese offenbaren ein paranoides Weltbild voller Feinde, vor denen man sich nur mit einem hochentwickelten Militär schützen könne. Die Paranoia geht einher mit rassistischen, antisemitischen und antikommunistischen Vorstellungen. Aber auch das Schweizer Parlament ist ihm ein Dorn im Auge, weil es nach ihm ein Klotz am Bein der Regierung sei, das die Verantwortungslosigkeit der Politiker und Trägheit des Regierungsapparates fördere. Deshalb solle die gesamte Macht wenigen „hervorragenden“ Männern übergeben werden, die, wenn alle Hindernisse einmal aus dem Weg geräumt sind, endlich effektiv regieren könnten.
Der Faschismus erschien als opportunistische Schreckreaktion der herrschenden Klasse.“
Mit diesen klaren Bekenntnissen zum Faschismus erregt Sonderegger die Aufmerksamkeit Schweizer FaschistInnen und mutiert so innert kürzester Zeit zu einem angesehenen Ideologen der aufkeimenden faschistischen Bewegung in der Schweiz. Anfang 1933, anlässlich der faschistischen Machtübernahme in Deutschland, erleben faschistische Gruppierungen, meist mit der Bezeichnung „Front“, überall in der Schweiz eine kurze Blütezeit. Jetzt distanziert sich aber das Bürgertum von Sonderegger, der mit seinen paranoiden Vorstellungen maximaler Aufrüstung und Umkrempelung der Regierung für das inzwischen wieder fest im Sattel sitzende Bürgertum nur ein Risiko darstellt.
Faschismus als opportunistische Schreckreaktion der herrschenden Klasse
Dass sich gerade der gefeierte „Retter des Vaterlandes“ als Faschist entpuppte, sollte nicht allzu sehr überraschen. Denn der Faschismus ist nichts als eine vom Kleinbürgertum getragene Massenbewegung, die sich das Grosskapital dankend zunutze macht, wenn seine Herrschaft bedroht ist. Durch eine aufbegehrende Arbeiterschaft in die Defensive gedrängt bedient sich das „liberale“ Bürgertum nur allzu gern maximaler Repression, autoritärer Ideologien und paranoider Scharfmacher wie Sonderegger, um die ArbeiterInnenbewegung zu zerschlagen. Wenn diese Bedrohung jedoch vorbei ist, wird auch der Faschismus eine Gefahr für die Kontrolle des Bürgertums über seinen Staat. Dieser Widerspruch zeigt sich exemplarisch in der wandelnden Beziehung des Bürgertums zu ihrem Idol, Emil Sonderegger.
Die Lehren des Landesstreiks
Der Landesstreik zeigt, welch enorme Kraft in der arbeitenden Bevölkerung der Schweiz schlummert. Dafür spricht der verzweifelte Griff der bürgerlichen Ordnungshüter zum stärksten ihnen zur Verfügung stehenden Repressionsinstrument, der Armee. Er beweist auch, dass sich die revolutionäre Frage auch in der Schweiz stellen kann. Was uns heute, 100 Jahre später, mit 1918 verbindet, ist das Fortbestehen der Ausbeutungsverhältnisse der bürgerlichen Ordnung. Solange diese bestehen bleiben, bleibt die Frage der Revolution aktuell. Die Aufgabe, die sich den ArbeiterInnen also nach wie vor stellt, egal ob im Kampf gegen kapitalistische Exzesse oder faschistische Tendenzen, liegt im Sturz der bürgerlichen Klassenherrschaft.
Sonu Sabris
JUSO Aargau
Bild: SRF, Szene aus «Generalstreik 1918»
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