Die bürgerliche Geschichtsschreibung versucht häufig, eine direkte Kontinuität zwischen der Oktoberrevolution 1917 und der bürokratisch-totalitären Diktatur unter Stalin der 1930er und 40er-Jahre herzustellen. Doch die Revolution hatte tatsächlich eines der demokratischsten politischen Systeme der Weltgeschichte hervorgebracht: Die politische Macht lag 1917 in den Händen der Sowjets, den Räten der Arbeiter- und Bauerndeputierten. Deren VertreterInnen waren jederzeit wähl- und abwählbar und wurden aus Fabrikkomitees, Stadtvierteln und Dörfern gewählt. Eine aktivere und direktere Partizipation der Massen am politischen Leben kennen wir aus keinem anderen politischen System.
Der Aufstieg Stalins
Allerdings erhielt dieses System der ArbeiterInnen- und BäuerInnendemokratie rasch harte Schläge versetzt: Unter den Bedingungen des 1918 ausgebrochenen Bürgerkriegs mussten autoritäre Kommandostrukturen hergestellt werden. FunktionärInnen wurden immer häufiger von oben herab eingesetzt, statt, wie nach dem Prinzip der Sowjetdemokratie, von der Basis her gewählt zu werden. Ehemalige zaristische Offiziere und Beamte verdrängten die VertreterInnen des revolutionären Proletariats. Eben jenes Proletariat wiederum, welches während der Russischen Revolution zum politischen Leben erwacht war und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen begann, zog an vorderster Front für die Bolschewiki in den Bürgerkrieg gegen die konterrevolutionären Weissen und wurde dabei dezimiert: Nach und nach starben die Sowjets also einfach aus. Unter diesen Bedingungen hatte sich ein autoritäres, bürokratisches politisches System quasi über die Sowjetdemokratie «übergestülpt». Ausserdem waren alle grösseren Oppositionsparteien verboten worden, so dass sich faktisch ein Einparteiensystem etabliert hatte. Die offiziellen Organe der Sowjets, d.h. die eigentliche Staatsmacht, verschmolz fast vollständig mit den Organen und der Hierarchie der bolschewistischen Partei.
Dies war die Ausgangslage, auf der sich Stalin in der Parteihierarchie und im Sowjetstaat hocharbeitete. Durch seinen Posten als Generalsekretär der Partei nutzte er die Kompetenzen, lokale Parteifunktionäre ein- und absetzen zu können, um seine eigene Stellung durch den Aufbau eines Netzwerks von loyalen Apparatschiks abzusichern. Stalins Aufstieg war somit Ausdruck einer einsetzenden Degeneration des jungen Sowjetstaates.
Die Anfänge der Opposition
Die Formierung der sogenannten «Linken Opposition» kann auf den Oktober 1923 datiert werden. Am 15. Oktober 1923 formulierten 46 Mitglieder des bolschewistischen Zentralkomitees eine Erklärung an das Politbüro, in der sie das autoritäre Parteiregime, die bürokratischen Methoden im Umgang mit KritikerInnen und die Bürokratisierung des Sowjetstaates kritisierten. Federführend hinter dieser Gruppe dissidenter Parteikader waren Leo Trotzki und Jewgeni Preobraschenskij.
1925 schlossen sich auch die namhaften alten Bolschewiki Sinowjew und Kamenew der Opposition an. Sinowjew nutzte seine Autorität in der Leningrader Parteiorganisation, um diese zu einem Bollwerk gegen den neuen herrschenden Block um Stalin, Bucharin und Rykow umzufunktionieren. In dieser «Leningrader Opposition» spielte übrigens auch Nadeshda Krupskaja, die Witwe Lenins, eine führende Rolle.
Zur gleichen Zeit bildeten sich weitere Oppositionsgruppen wie die «Gruppe Demokratische Zentralisten» oder eine Neuformation der bereits 1918 gegründeten «Arbeiteropposition». Als sich diese verschiedenen Gruppen 1926 mit der «Leningrader Opposition» und der Gruppe um Trotzki zur sogenannten «Vereinigten Opposition» zusammenschlossen, bildete sich nun eine breite antistalinistische Front, der fast ausnahmslos die ganze alte bolschewistische Führungsschicht von 1917 angehörte.
Die Kritik der Opposition konzentrierte sich auf folgende Punkte: Die Forderung nach einer beschleunigten Industrialisierung und die Einführung einer umfassenden Planwirtschaft, die Bekämpfung der zunehmenden sozialen Ungleichheit (v.a. auf dem Land), die Eindämmung der bürokratischen Auswüchse und die Wiederherstellung der Sowjetdemokratie.
Der Entscheidungskampf
Die Vereinigte Opposition hatte auf ihrem Höhepunkt (1926) zwischen 4000-8000 Mitglieder, bei einer geschätzten aktiven Parteimitgliedschaft von 20’000 (bei einer Gesamtmitgliedschaft von 750’000). Nichtsdestotrotz beschränkte sich die Kritik der Opposition bis 1926 beinahe ausschliesslich auf die Kanäle und Organe der Parteiführung, in denen Stalin aber durch loyale Mehrheiten abgesichert war. Die Kritik der Opposition prallte daher ohne Effekt an den stalintreuen Apparatschiks ab. Dies erzwang ab 1926 einen Strategiewechsel der Opposition: Sie wandte sich ab dem Frühjahr 1926 von den höheren Parteigremien ab und richtete sich nun offen an die Parteizellen, die Überbleibsel der Sowjets und die Gewerkschaften. Der monolithische Parteiapparat konnte nicht überzeugt werden – die Opposition musste also direkt von der sowjetischen ArbeiterInnenklasse her aufgebaut werden.
Die Parteiführung schlug Alarm: Solange sich die Opposition innerhalb der Partei bewegte, drohte für die herrschende Schicht keine Gefahr. Doch wenn es die Opposition geschafft hätte, die sowjetische ArbeiterInnenklasse gegen die Bürokratie zu mobilisieren, wäre Stalins Stellung ernsthaft in Gefahr gebracht worden. Daher wurden die Veranstaltungen der Opposition sofort von Provokateuren und Agenten des Geheimdienstes GPU unterwandert und die Versammlungen entweder auseinandergeprügelt, die RednerInnen niedergebuht oder TeilnehmerInnen denunziert.
Im Juli 1926 wurden namhafte Mitglieder der Opposition aus dem ZK ausgeschlossen und die Funktionäre der Leningrader Partei komplett ausgewechselt durch loyale Apparatschiks. Nadeshda Krupskaja und andere führende Oppositionelle wurden gezwungen, ihre Positionen in der Öffentlichkeit zu widerrufen. Im Oktober musste die Opposition zusichern, ihre Kritik auf die Kanäle der Partei zu beschränken. Trotzki und Sinowjew wurden zudem aus dem Politbüro ausgeschlossen.
Niedergang der Opposition
Im Anschluss zerfiel die Vereinigte Opposition; die radikaleren Gruppierungen wie die «Arbeiteropposition» weigerten sich, das Ultimatum der Parteiführung zu akzeptieren und wurden folglich zerschlagen. 1927 versuchten die Überbleibsel der Opposition, eine eigene Plattform von Delegierten mit einem alternativen Programm für den XV. Parteitag aufzustellen. Aufgrund der Befürchtung, die Opposition könne wieder Fuss in der Parteibasis fassen, griff die Parteiführung wieder zum Mittel der Repression. Im September liess das ZK die Plattform unter dem Vorwand, diese habe mit ehemaligen zaristischen Elementen konspiriert, verbieten. Trotzki, Sinowjew und Preobraschenskij, die führenden Köpfe der Opposition, wurden daraufhin aus der Partei ausgeschlossen. Während Trotzki im Anschluss ins Exil verbannt wurde, beugten sich die anderen beiden dem Druck der Bürokratie und passten sich der stalinistischen Politik an – nur um dann in den 30er-Jahren während den «Moskauer Prozessen» hingerichtet zu werden.
Der Weg in den Stalinismus
Die Opposition war zwar ausgeschaltet, doch Stalin übernahm nun ihr Programm, wenn auch in einer völlig verzerrten Form: Die Landwirtschaft sollte in den Folgejahren zwangskollektiviert werden, wobei die Kollektive unter Verwaltung völlig inkompetenter Bürokraten gestellt wurden, was zu verheerender Misswirtschaft und Hungersnöten führte. Die Planwirtschaft wurde eingeführt, aber mit brutalsten Methoden und nicht als bewusste, demokratische Planung der Wirtschaft durch die ArbeiterInnen, sondern als hyperzentralistische Kommandowirtschaft einer bürokratischen Clique.
Damit legte die bürokratische Kaste unter Stalin zwar die Grundpfeiler einer sozialistischen Wirtschaft, aber unter eiserner Hand der Bürokratie und unter völliger politischer Entmündigung der ArbeiterInnenklasse. Unter den Bedingungen der nationalen Isolation und der wirtschaftlichen Rückständigkeit konnte diese Form des Sozialismus nichts anderes sein als die Verwaltung des allgemeinen Mangels, wodurch für die bürokratischen Spitzen der Anreiz bestand, ihre materiellen Privilegien durch autoritäre bis terroristische Herrschaftsmethoden aufrecht zu erhalten. Ausserdem hatten die Strapazen des Bürgerkriegs und die Niederschlagung der revolutionären Welle in Europa die sowjetische ArbeiterInnenklasse in einen Zustand der Demoralisierung und der Apathie versetzt. Unter dieser Bedingung erlahmte das politische Leben und die Passivität der ArbeiterInnen erlaubte der Bürokratie die autoritäre Verselbständigung. Stalin war nun genau der Mann, der die Interessen dieser Bürokratie durch seine Politik verkörperte, aber erst die Niederschlagung der Linken Opposition erlaubte die Festigung dieses neuen Herrschaftssystems.
Bolschewismus vs. Stalinismus
Die Linke Opposition versuchte, die revolutionären Traditionen des Bolschewismus fortzusetzen und die bürokratische Degeneration des Sowjetstaates aufzuhalten. Allerdings unterschätzte die Opposition das Ausmass, in dem die bolschewistische Partei bereits zu einem Werkzeug der Bürokratie mutiert war. Sie hatte nichts mehr mit der revolutionären Partei von 1917 gemein, sondern war ein Verwaltungsorgan von Stalins Bürokratie geworden. Die Kritik der Opposition innerhalb der Parteiführung blieb daher wirkungslos.
Das Regime, das sich in den Folgejahren endgültig festigen sollte, hatte nichts mehr mit der jungen Sowjetrepublik von 1917 zu tun. Die ArbeiterInnenklasse war politisch entmachtet und die Sowjetdemokratie war einer totalitären Diktatur gewichen. Analog zu dieser Transformation des politischen Regimes ging der komplette personelle Wandel der politischen Führung einher. 1936 waren bis auf wenige Ausnahmen sämtliche Mitglieder des bolschewistischen Zentralkomitees von 1917 entweder hingerichtet oder verbannt. Dass Stalin gezwungen war, die gesamte alte Garde der Bolschewiki, welche sich fast ausschliesslich in der Opposition der 20er-Jahre organisiert hatte, zunächst politisch, und in den 30er-Jahren schliesslich auch physisch auszuschalten, ist der gewichtigste Beweis gegen die angebliche Kontinuität des Bolschewismus zum Stalinismus.
Die Linke Opposition stellt für uns daher bis heute ein wichtiger Bezugspunkt für eine revolutionäre marxistische Tradition dar, die nicht durch die entarteten Regimes des Stalinismus verzerrt und entstellt wurde. Es ist diese Tradition, an die der heutige Marxismus anknüpfen muss.
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