Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte Russland zu den europäischen Grossmächten. Gegenüber den führenden imperialistischen Ländern England, Frankreich und Deutschland hinkte die kapitalistische Entwicklung in Russland aber weit hinterher. Die Landwirtschaft war nach wie vor der dominante Wirtschaftssektor. Erst das hineinströmende Kapital v.a. aus Frankeich brachte entwickelte Produktionsmittel ins Land. Besonders in Petrograd (heute St. Petersburg) entstand eine moderne und sehr konzentrierte Industrielandschaft. Russland war, wie Lenin es ausdrückte, das schwächste Glied in der Kette der imperialistischen Länder. Das Industrieproletariat stellte 1917 nur einen kleinen Bevölkerungsteil von etwa fünf Prozent. Dennoch war das Klassenbewusstsein stark ausgeprägt. Auch waren die russischen ArbeiterInnen durch die vielen und harten Auseinandersetzungen mit dem Staat und den Fabrikbesitzern ausserordentlich militant und kampferprobt. So entwickelten sie beispielsweise in der Revolution von 1905 (siehe anderer Artikel) das Mittel des politischen Massenstreiks und die für die spätere russische Revolution alles entscheidende Organisationsform der Arbeiterräte (Sowjets).
Warum kam es nun gerade in Russland zur ersten erfolgreichen sozialistischen Revolution? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir tiefer schürfen, als einfach festzustellen, dass es in Russland eine enorm militante und bewusste ArbeiterInnenbewegung gab, welche die Revolution durchführte. Das russische Revolutionsjahr 1917 fusste auf vielen Faktoren: der Ausweglosigkeit des Imperialismus, dem Zarentum und seiner Repression, der schwachen Bourgeoisie, dem Krieg, der nationalen Frage, der Rückständigkeit und nicht zuletzt der massiven Ausbeutung der bäuerlichen Massen. Die Antwort auf diese Frage liegt daher in der Kombination dieser Faktoren. Trotzki formulierte dies folgendermassen:
Eine Revolution bricht aus, wenn alle Antagonismen der Gesellschaft die höchste Spannung erreicht haben. Das aber gerade macht die Situation sogar für die Klassen der alten Gesellschaft, das heisst für jene, die dem Untergange geweiht sind, unerträglich.“
Kombinierte und ungleiche Entwicklung
Was ist nun das Besondere am Beispiel Russlands? Eine wichtige Erklärung liefert die Theorie der kombinierten, ungleichmässigen Entwicklung. Sie lässt folgendermassen verstehen:
Züge der Rückständigkeit paaren sich mit den letzten Worten der Welttechnik und des Weltgedankens. Endlich sind die geschichtlichen zurückgebliebenen Länder, um sich der Rückständigkeit zu entwinden, manchmal gezwungen, den übrigen vorauszueilen.“
Der russische Kapitalismus entstand als Kind des absolutistischen Staates. Seit dem 17. Jahrhundert versuchte das Zarentum mit allen Mitteln die ökonomische Entwicklung zu beschleunigen. Dazu wurden vor allem in Westeuropa Maschinen, Waffen, Technik etc. eingekauft oder später Kapital nach Russland gelockt. So kamen neue Produktionsweisen ins Land, die keinen «normalen» Entwicklungsprozess durchlaufen hatten. Sie wurden vielmehr auf die russischen Verhältnisse aufgepfropft.
Diese künstliche Entwicklung verhinderte, dass sich eine starke national-liberale Bourgeoisie herausbilden konnte. Im Gegensatz zu europäischen Ländern wurden beispielweise die Eisenbahnen und Telegraphennetze Russlands nicht von der Dynamik des bürgerlichen Aufstiegs verwirklicht. Sie dienten in erster Linie dem zentralisierten Staat und seinen Repressionstruppen, um rasch zu kommunizieren und Truppen zu verschieben.
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war ein beträchtlicher Teil der Kapitalisten-Familien, die Russlands Industrie besassen, ausländisch. Im Konflikt mit der gut organisierten ArbeiterInnenbewegung waren sie oft auf die zaristischen Truppen angewiesen. Die Folge war, dass kein klares Bestreben bestand, die Monarchie zu stürzen. Die ausländischen Kapitalisten und die russischen Liberalen der Kadetten-Partei konnten sich solange arrangieren mit dem Zaren, wie er ihre Existenz beschützte. Die treibende Kraft für die Revolution musste aus anderen Klassen kommen.
Es gibt ein ‘Privileg der Rückständigen’. Nicht jede Entwicklungsstufe muss nachgeholt werden, manchmal können Etappen übersprungen werden. Der Technikimport ist eine Möglichkeit dafür. Das soziale Pendant dazu war, dass nicht unbedingt die Bourgeoisie die Revolution machen musste. Diese Aufgabe verschob sich unter den russischen Verhältnissen hin zum Proletariat und den BäuerInnen.
Stadt und Land
Die Kombination von moderner Industrie mit einer militanten ArbeiterInnenbewegung und Verhältnissen in der Landwirtschaft, die Westeuropa um fast drei Jahrhunderte hinterherhinkte (erst 1861 wurde die Leibeigenschaft abgeschafft und die Überwindung der Dreifelderwirtschaft in Gang gesetzt) konnte nicht ewig mit Repression kontrolliert werden. Die kleinen Bauern waren nach ihrer «Befreiung» oft verarmt und in eine Schuldenfalle gestürzt. Gleichzeitig kämpfte das Industrieproletariat wie seine internationalen KlassengenossInnen für eine sozialistische Gesellschaft. Dabei erfuhr die ArbeiterInnenbewegung immense Repression. Die Stärke der staatlichen Überwachung, der sie ausgesetzt war, zeigte sich beispielsweise daran, dass bei Kriegsausbruch drei von sieben Mitglieder des bolschewistischen Parteikomitees im Dienste der Geheimpolizei Ochrana standen.
Als absolutistischer Herrscher hatte Nikolaus II. Romanov uneingeschränkte Macht. Diese setzte er auch oft entgegen den Interessen des Kapitals. Wie aus dem Tagebuch des Zaren ersichtlich wird, interessierte er sich allgemein mehr für seine eigene Freizeitbeschäftigung als die Regierungsgeschäfte. Der verheerende Krieg ist nur ein Beispiel für grobe Fehler in seinen Entscheidungen.
Der Zar mit seiner Sipp- und Gefolgschaft war ein gemeinsamer Feind von ArbeiterInnen, Bauern und BäuerInnen und der Bourgeoisie. Sogar innerhalb des Adels und der Armeebürokratie gab es Pläne für eine Palastrevolution. Diese zielten aber nur darauf, den Kopf auszutauschen und das System beim Alten zu belassen. Denn der Zar begriff den Ernst der Lage bis zuletzt nicht und beschäftigte sich lieber mit Ruderbootfahrten als dem revolutionären Potenzial in «seinem» Land.
Imperialismus und 1. Weltkrieg
Der Kapitalismus erlebte Mitte des 19. Jahrhunderts einen grossen Aufschwung und breitete sich aus. Es kam immer wieder zu Krisen und in den 1870er-Jahren zu einer grossen Depression, ohne aber die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung zu stoppen. In dieser Zeit entwickelten sich riesige Monopole – eines der zentralen Merkmale des Imperialismus. Sie beherrschten den entstehenden Welthandel, traten in scharfe Konkurrenz zueinander und es kam zu einem wahren Wettlauf um die letzten freien Gebiete auf der Erde und neue Märkte.
In der imperialistischen Führungsriege, im Kampf um die grossen Teile, standen Grossbritannien, Frankreich und Deutschland, dahinter weitere westeuropäische Länder. Wenn auch auf niedriger Stufenleiter, gehörte aber Russland genauso dazu. Das Zarenreich beherrschte Gebiete vieler «Völker» und drängte auf Ausbreitung. Auch dies ist eine der spezifischen Bedingungen Russlands: Es war selbst imperialistische Macht der zweiten Reihe. Trotzdem dringt v.a. der französische Imperialismus in sein Inneres.
Die freien, unbesetzten Regionen und Märkte waren irgendwann erschöpft. Die Monopolkapitale und deren Nationalstaaten wurden folglich dazu gedrängt, um die bereits besetzten Märkte zu kämpfen. Und als die ökonomischen, diplomatischen und politischen Mittel ausgeschöpft waren, konnte der Konflikt zwischen den Imperialisten nur noch militärisch geführt werden. Es kam zum Ersten Weltkrieg, den nur die organisierte ArbeiterInnenklasse zu verhindern fähig gewesen wäre. Mit Massenaktionen gegen die Mobilisierung und Generalstreiks hätte sie Alternativen gehabt.
Für Russland, das als Teil der «Triple Entente» (Grossbritannien, Frankreich und Russland) in den Krieg eintrat, war der Krieg ein Desaster. Militärisch war das Zarenreich völlig unterlegen. Der vom deutschen Heer teils angewandte «Schlieffen-Plan» sah vor, dass Russland fast ein Jahr brauchen würde, um zu mobilisieren und dann leichte Beute wäre. Obwohl das grobe Fehlkalkulationen waren, musste die Armee des Zaren ab Kriegsbeginn Niederlage um Niederlage einstecken.
Widerstand und die soziale Frage
Innenpolitisch nährte der Krieg den bereits bestehenden Unmut: Vor dem Kriegsausbruch gab es 1914 in Russland eine massive politische Streikwelle mit ca. 1’059’000 Teilnehmenden. Nachdem auch in Russland bei Kriegsbeginn eine gewisse Kriegseuphorie auszumachen war, stellte sich diese, befördert durch die Niederlagen, schnell wieder ein. Trotzki formulierte dies folgendermassen:
«Der Krieg hatte jedenfalls anfänglich dem Prozess einen rückläufigen Gang verliehen, um ihn dann um so mächtiger zu beschleunigen und ihm einen überwältigenden Sieg zu sichern.“
Zu Beginn des Krieges gab es kaum Widerstand im Land. Die ArbeiterInnenbewegung wurde trockengelegt. Ihre Presse wurde zerschlagen und stark verfolgt und die revolutionärsten Elemente von der Fabrik an die Front geschickt. Schliesslich hat sich sogar die Parlamentsfraktion der Bolschewiki, fernab von Lenins revolutionärem Defätismus, zur Landesverteidigung bekannt. Eine Position, die später korrigiert wurde.
In Stadt, Land und an der Front sank die Moral rasch in den Keller. Doch während die ArbeiterInnen bereits im Frühling 1915 wieder zu neuen Streiks mobilisierten, fehlten in den ländlichen Regionen die nötigen Impulse. Die politisch aktiven Bauern waren an der Front und wurden meist nicht ersetzt.
In Russland hatte bislang keine echte Agrarreform stattgefunden, welche die feudalen Eigentumsverhältnisse und die Grossgrundbesitzer beseitigt hätte. In anderen Ländern war das Bauerntum dazu auf die Führung des Bürgertums angewiesen. Doch gerade diese Klasse – verkörpert durch die Partei der Kadetten – scheute das explosive Potenzial in der russischen Landbevölkerung.
Der Weg zur Revolution
Die Kriegsindustrie und die Gewinne daraus führten zu massiven Preisanstiegen. Trotzki beschreibt die Situation treffend:
Gegen Ende 1916 steigen die Preise sprunghaft. Zu Inflation und Transportzerrüttung gesellt sich direkter Warenmangel. […] Mit dem Oktober tritt die Bewegung in Petrograd in das entscheidende Stadium ein und vereinigt alle Arten der Unzufriedenheit: Petrograd nimmt den Anlauf zur Februarrevolution. Eine Versammlungswelle rollt durch die Betriebe. Die Themen sind: Ernährung, Teuerung, Krieg, Regierung.“
Die wiederbelebte russische ArbeiterInnenbewegung liess sich ab diesem Punkt nicht mehr wie bei Kriegsbeginn durch Repression zurückdrängen. Auch dem liberalen Bürgertum wurde die Revolutionsgefahr immer bewusster. Doch umso grösser ihre Kriegsgewinne gegen Ende des Krieges anstiegen, desto weniger wollten sie etwas riskieren. Denn mit dem Schluss eines Separatfriedens drohten alle Dämme zu brechen.
Schlussendlich nützte dem alten Regime gegen Ende 1916 auch jedes Lavieren nichts mehr, wie das Beispiel der Einberufung einer neuen Duma (russisches Parlament) zeigte. Das hilflose um sich schlagen der zaristischen Polizei und der Militärtruppen förderte nur Meutereien und spornte die aufständischen ArbeiterInnen zu noch mehr Disziplin und revolutionärem Elan an. Das Zarentum hatte seine Tage gezählt und die Gewaltexzesse des Adels kurz vor seinem Ende, waren nur mehr das letzte Aufflackern einer Flamme, bevor sie erlischt.
Michael Wepf
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