Die rein bürgerliche Februarregierung war zerbrochen. In die neugebildete Regierung traten Sozialrevolutionäre und Menschewiki ein. Sie war aber ebenfalls unfähig, eines der grossen sozialen Probleme anzupacken. Auch diese Regierung bekam schnell den Umschwung in der Stimmung der Arbeiter- und Soldatenmassen zu spüren, die sich enttäuscht von „ihren“ Parteien abwendeten.
Unter dem Eindruck einer Radikalisierung und zunehmender Bauernrevolten auf dem Land beschloss Anfang Juni der Allrussische Rätekongress gegen die Stimmen der nur ca. 15% Bolschewiki eine Offensive an der Kriegsfront. Mit der Offensive hoffte die Regierung unter dem Sozialrevolutionär und Kriegsminister Kerenski, die radikalen Regimenter aus den Städten durch eine Verlegung an die Front loszuwerden. Als die Pläne bekannt wurden, brach ein gewaltiger Proteststurm los. Streiks und Drohungen mit bewaffnetem Widerstand waren die Antwort aus den Fabriken und Kasernen. Die Bolschewiki wurden bestürmt, die Pläne der Regierung zu Fall zu bringen. Eine geplante Demonstration wurde vom Sowjetkongress verboten. Der Stimmungsumschwung wurde jetzt erstmals deutlich: Die Massen gehorchten dem Kongress nicht mehr. Erst der Aufruf der Bolschewiki, nicht zu demonstrieren, wurde befolgt, wenn auch nicht ohne Proteste.
Die Kongressmehrheit aus Versöhnlern, wie die Sozialrevolutionäre und Menschewiki inzwischen genannt wurden, trat die Flucht nach vorn an. Für den 18. Juni erfolgte der Aufruf zu einer Demonstration unter den verharmlosenden Losungen „Allgemeiner Friede“ oder „Demokratische Republik“. Über die Regierung oder die Offensive wurde kein Wort verloren.
Die Demonstration offenbarte, was das Petrograder Proletariat dachte: 400.000 marschierten unter roten Fahnen und bolschewistischen Parolen wie „Nieder mit den Minister-Kapitalisten“, „Nieder mit der Offensive“ und „Alle Macht den Sowjets“. Die Massen waren dem Aufruf des Kongresses gefolgt und hatten unmissverständlich ihre Meinung zum Ausdruck gebracht. Auch in anderen Städten enthüllten die Demonstrationen den gewaltig angewachsenen Einfluss der Bolschewiki.
Die Offensive an der Front brach zusammen, Truppenteile meuterten und Regimenter weigerten sich auszurücken. Die Versorgungslage in den Städten verschlechterte sich weiter und die Geduld der Petrograder Soldaten und Arbeiter ging zu Ende. War die Zeit des Aufstandes nun gekommen?
Teile des Proletariats wären bereit gewesen, die Macht zu übernehmen. Doch die Aufgabe der Bolschewiki war es, wie Lenin forderte, in der jetzigen Situation nicht die Macht zu ergreifen, sondern „die Massen zu erobern“. Nach wie vor ist Petrograd isoliert und die Aufgabe der Partei sei es durch „geduldiges Erklären“ die Köpfe der politisch nicht bewussten Massen vor allem in der Provinz und in der Armee zu gewinnen, die immer noch Illusionen in die reformistischen Führer der Menschewiki und Sozialrevolutionäre hatten.
Juliaufstand
In einigen Betrieben und Garnisonen Petrograds wurde Anfang Juli dennoch der Aufstand gefordert. Weil die Massen sich nicht von den Aktionen abbringen liessen, stellten sich die Bolschewiki an die Spitze der Bewegung, um sie möglichst friedlich verlaufen zu lassen. Zwei Tage und Nächte lang, die als „Julitage“ in die Geschichte eingingen, strömten Hunderttausende in die Stadt und hielten Versammlungen ab. Die Regierung rief den Ausnahmezustand aus und forderte Truppen an. In verschiedenen Teilen der Stadt kam es zu Unruhen. Als die Menschen am Ende wieder müde abzogen, trafen Truppen von der Front ein. Ein heftiger Rückschlag setzte ein. Linke Arbeiter wurden verhaftet, Waffen beschlagnahmt, ein Stadtteil nach dem andern durchkämmt. Die Zeitungen der Bolschewiki wurden verboten, die roten Garden – bolschewistische Selbstverteidigungsmilizen – entwaffnet. Die Druckerei der Parteizeitung Prawda wurde völlig demoliert und die Redakteure verprügelt und verhaftet.
Jagd auf Bolschewiki
Auch die führenden Bolschewiki mussten ins Gefängnis und waren dem Hass der Konterrevolution ausgesetzt. Lenin musste bis Oktober untertauchen. Es folgten Wochen der Demoralisierung und Verfolgung. Jeder, der ein Wort zugunsten der Bolschewiki sagte, wurde von der Strasse weg verhaftet. Die Presse schüttete Lügen über die Bolschewiki und besonders über Lenin und Trotzki aus: „Bolschewistische Verschwörer, Lenin ein deutscher Agent, von der deutschen Regierung bezahlt“.
Die Besitzenden hatten gehofft, die Revolution mit Hilfe der gemässigten Sozialisten zu zügeln. Mit Kerenski an der Spitze stellten diese inzwischen sogar die Regierung. Die Julitage hatten jedoch gezeigt, dass ihr Einfluss auf die Massen nicht mehr ausreichte.
Für die Kapitalisten und Grossgrundbesitzer war jetzt der Zeitpunkt gekommen, da die Doppelherrschaft ein Ende haben musste. Der Ruf nach einer „eisernen Macht“ wurde immer lauter. Die Idee eines über den Klassen stehenden „Schicksalslenkers“ wurde auf Seiten des Kapitals immer unbeliebter. Kerenskis Regierung sollte einst diese Rolle spielen, aber immer mehr Arbeiter und Soldaten kamen zur Erkenntnis, dass es einer zweiten Revolution bedurfte. Da die „demokratische“ Regierung nicht imstande war, für die nötige „innere Stabilität“ zu sorgen, suchte die herrschende Klasse einen neuen Kandidaten für diese Aufgabe – General Kornilow. „Entweder Kornilow oder Lenin. Ein Mittelding gibt es nicht“, so die vorherrschende Meinung bei den Privilegierten. Und im August 1917 sah die Konterrevolution die Zeit gekommen, die Revolution mit einem Putsch blutig zu unterdrücken.
Rechter Putschversuch
Nach der Niederlage der Juli-Massendemonstration ging die Reaktion in die Offensive. Der Terror gegen die Arbeiterbewegung, speziell gegen die Bolschewiki, wurde immer stärker. Lenin brachte sich sogar wochenlang in Finnland in Sicherheit, weil er um sein Leben fürchten musste. Aber die „Peitsche der Konterrevolution“, wie Marx es einst ausdrückte, löste wieder den Widerstand der Arbeiter aus und das Pendel schlug von nun wieder nach links. Der Kornilow-Putsch zeigte den Massen, dass nur die Bolschewiki diese Gefahr richtig einschätzten und auch bereit waren, konsequent dagegen anzukämpfen. Was waren die politischen Ziele General Kornilows? Er forderte z.B. die Wiedereinführung der Todesstrafe an der Front, das Verbot von Versammlungen an der Front, die Auflösung der revolutionären Regimenter und ein Ende der Soldatenräte. Ausserdem forderte er die Wiederherstellung der Todesstrafe für Zivilisten, die Einführung des Standrechts und ein Streikverbot in der Industrie und bei der Eisenbahn unter Androhung der Todesstrafe. Das war das Programm einer Diktatur, die Ähnlichkeiten mit dem deutschen Faschismus hatte. Formal lag die Verteidigung in den Händen der Regierung. Ein Komitee zur Verteidigung, das auch Militärisches Revolutionskomitee hiess, leitete die Massnahmen. Die eigentlichen Organisatoren waren die Bolschewiki. Zur Verteidigung wurden Kampfmannschaften und Arbeitermilizen aufgestellt. Das Hauptquartier der Verschwörer wurde isoliert, Telegramme und Post abgefangen. Die Eisenbahnergewerkschaft bewaffnete ihre Mitglieder und liess Schienen und Brücken bewachen. Den vorrückenden Truppen wurden politisch geschulte Agitatoren entgegengeschickt, um mit den feindlichen Soldaten zu diskutieren und sie zum Überlaufen zu bewegen, da sie als Handlager eines Diktators instrumentalisiert wurden und gegen ihre eigenen Interessen handeln würden. Am Ende brach der Putsch in sich zusammen. Er wurde ohne Blutvergiessen niedergeschlagen. Die Truppen folgten ihrem Hauptquartier nicht mehr und Kornilow floh.
Der Kampf gegen den Kornilow-Putsch zeigte auch deutlich, was Lenin und Trotzki unter Einheitsfrontpolitik verstanden. Es galt die Errungenschaften der Revolution gegen Kornilow zu verteidigen. Ohne die geringsten Zugeständnisse an die Kerenski-Regierung, ohne Aufgabe des eigenen revolutionären Programms waren sie bereit, ihre Handlungen dem einen Feind (Kerenski) anzupassen, um so dem im Augenblick noch gefährlicheren Feind (Kornilow) einen Schlag zu verpassen. Der Kampf gegen die Konterrevolution sollte ausserdem die Arbeiterbewegung für ein Vorwärtsschreiten der Revolution vorbereiten. Der entschlossene, von den Bolschewiki organisierte Widerstand brachte ihnen den endgültigen Durchbruch. Der Masseneinfluss der Bolschewiki wuchs nun nach der Niederschlagung des Putschs gewaltig an. Und das, obwohl die Partei nur einen sehr schwachen Apparat besass. Aber wie Trotzki schreibt, „die glühende revolutionäre Atmosphäre ist ein vorzüglicher Ideenleiter“. Der Erfolg der Bolschewiki lag darin, dass ihre Forderungen immer stärker den eigenständigen Erfahrungen der Massen entsprachen. Und das von Lenin immer wieder geforderte „geduldige Erklären“ sollte sich bald auszahlen.
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