In letzter Zeit gab es einige rechtliche Verbesserungen und mehr «Sichtbarkeit» für queere Menschen. Doch die Krise des Kapitalismus macht das Leben für alle härter. Der offen reaktionäre Flügel der Bürgerlichen hat die Frage der sexuellen Orientierung und Identität auserkoren, um durch den Kulturkampf vom Versagen ihres Systems abzulenken. Nur der gemeinsame Kampf der Arbeiterklasse über alle Spaltungslinien hinweg kann Unterdrückung beenden. 

Verbesserungen und Rückschritte gleichzeitig

In den sozialen Medien wächst eine Bewegung, die die Unterdrückung von queeren Menschen nicht mehr länger akzeptiert. Wer sucht, findet Tipps, Erlebnisberichte und Erklärungen, die helfen Erfahrungen einzuordnen. Das Bewusstsein wächst, dass das Einzige, was nicht «normal» ist, diese kaputte Gesellschaft und die darin herrschenden Ideen sind. Doch wenn man vor die Haustüre tritt, bläst einem der eiskalte Wind der Realität weiterhin entgegen: mehr Unterdrückung, stärkere Hetze und überall Verschlechterung der Lebensbedingungen. 

In den letzten Jahren wurden rechtliche Verbesserungen für Queers erzielt: 2020 wurde die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung unter Strafe gestellt und 2022 die Ehe für alle an der Urne angenommen. Aber wir müssen auch festhalten: Verbesserungen gab es nur, wo die herrschende Klasse sie duldet. Also meist nur dann, wenn sie nichts kosten, d.h. rechtliche Verbesserungen auf dem Papier. Und auch diesen ging immer ein jahrelanger Kampf voraus. Geschenkt wird uns nichts. Beispielsweise wurde der dritte Geschlechtseintrag vom Bundesrat regelrecht abgeschmettert.

Trotz rechtlicher Verbesserungen und zunehmender Sichtbarkeit, sind Queers im Alltag immer noch Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. Schmerzhafter Ausdruck davon ist die psychische Gesundheit. Eine Studie von 2022 zur Gesundheit von LGBT-Personen in der Schweiz kommt zum Schluss, dass LGBT deutlich stärker psychisch belastet sind als der Rest der Bevölkerung mit einer höheren Rate an Depressionen, Suizidversuchen und Selbstverletzung. 54% aller trans- und non-binären Personen haben sich selbst absichtlich verletzt, mehr als doppelt so viel wie der Durchschnitt.

Dazu kommt ein Anstieg an Drohungen und Hassverbrechen, besonders gegen Transgender-Personen. 2022 wurden fast 50% mehr körperliche und verbale Angriffe auf LGBT gemeldet als im Vorjahr – doppelt so viele wie noch 2020. 

Das ist die direkte Konsequenz der rechten Hetze gegen Queers der letzten Jahre. Offen reaktionäre Bürgerliche lancierten eine Grossoffensive des Kulturkampfs. In Stäfa musste eine Sekschule ihren Sexualkunde-Tag im Frühling 2023 absagen, nachdem SVP-Nationalrat Glarner diesen auf X skandalisiert hat. Resultat: Mitarbeitende der Schule wurden von einem Mob an Freikirchlern und Rechten bedroht. Ähnliches ereignete sich in Pfäffikon. Eine Gruppe von religiösen Eltern griff einen Lehrer hart an, äusserte haltlose Vorwürfe und beklagte sich über seine Homosexualität. Der Lehrer wurde entlassen.

Wieso die Hetze?

Die herrschende Klasse schürt reaktionäre Moral-, Rollenbilder und Geschlechtervorstellungen nicht erst seit heute. Insbesondere Frauenunterdrückung und damit einhergehende rigide Geschlechterrollen und Familienbilder werden seit tausenden Jahren von der jeweiligen herrschenden Klasse verbreitet. Griechische Mythen und das alte Testament sind voller «Slutshaming». 

Seit dem Beginn der Klassengesellschaft dienen diese Ideen der Aufrechterhaltung der Herrschaft einer Minderheit. Die Kapitalisten übernahmen diese Ideen. Die traditionelle Kleinfamilie gehört zum Fundament ihres Ausbeutungssystems und ihrer Herrschaft. Alles, was diese auch nur in der Vorstellungskraft in Gefahr bringen könnte, wurde lange verteufelt. Ein Teil der Kapitalisten gibt sich heute fortschrittlich und malt den Regenbogen über Firmenlogos. Aber die herrschende Klasse als Ganzes hat kein Interesse daran, die rückschrittlichen Ideen gänzlich zu überwinden. Alleine schon deshalb, weil sie zur Spaltung dienen.

Das ganze kapitalistische System ist heute im Niedergang. Seit Jahrzehnten greifen die Kapitalisten die Arbeiterklasse hart an. Der Sozialstaat wird zerstört, Löhne und Lebensbedingungen stagnieren  –  alles, um die Krise auf die Arbeiterklasse abzuwälzen. Weil sie die Gesellschaft nicht mehr vorwärts bringen, sondern nur noch den Rückschritt verwalten, verlieren die Kapitalisten und ihre Vertreter an Unterstützung. Um von ihrer wahren Rolle abzulenken, schüren sie Hass, suchen Sündenböcke und geben diesen die Schuld für alle Probleme, die sie selbst, ihre Profitgier und ihr System erschaffen haben. 

Den Gipfel des Zynismus erreicht die SVP. Das Programm der Partei der Banken und Konzerne erklärt: «Die SVP stellt die realen Probleme der Schweiz und der Bevölkerung ins Zentrum», wie «Sicherheit und Wohlstand wahren, Kaufkraft stärken, (…) Sozialwerke erhalten». Dabei sind sie es, die seit Jahren das Massaker der Sozialwerke anführen. Um davon abzulenken, stellt die Hetz-Partei nicht nur die Behauptung auf, sie verteidige «das Recht auf freie Meinungsäusserung und bekämpft jede Form von Bevormundung und Ausgrenzung von Andersdenkenden», sondern setze sich auch «dafür ein, dass unsere Kinder und Jugendlichen vor Gender-Terror und den Einflussversuchen der Trans-Community geschützt bleiben».

Der erste Zwischentitel ihres Parteiprogramms, «Keine Existenz ohne Eigentum», entblösst ihr wahres Ziel. Um ihr kapitalistisches Eigentum abzusichern, spielen sie rückständige Schichten der Arbeiterklasse gegen den Rest aus. Die Konsequenzen ihres Kulturkampfes sind ihnen egal, solange sie damit ihre Profite und den Kapitalismus aufrechterhalten.

Wie beseitigt man die Unterdrückung samt den Hetzern?

Wir müssen verstehen, wieso diese Hetze auf fruchtbaren Boden trifft. Das Leben der Arbeiterklasse wird objektiv härter. Die Konkurrenz um Wohnungen und Jobs nimmt zu, Sozialleistungen schwinden. Alte Versprechungen nach einem guten Leben entpuppen sich als Lügen. Es herrscht eine enorme Entfremdung. Viele sind auf der Suche nach Erklärungen. Doch solange niemand aufzeigt, wie diese Probleme wirklich gelöst werden können, schlägt diese Suche auch weit nach rechts aus. Gerade weil das oft die einzigen radikal klingenden Antworten sind, die angetroffen werden.

Mit einem Klassenprogramm kann man diese Arbeiter jedoch für den gemeinsamen Kampf gewinnen. Dafür muss konsequent aufgezeigt werden, dass die SVP mit ihrer Sündenbockpolitik nur die Interessen der Herrschenden verteidigt. Kein Teil der Arbeiterklasse profitiert von der Unterdrückung anderer Teile! Unterdrückung, Spaltung und damit Überausbeutung von gewissen Schichten ziehen die Bedingungen für alle Lohnabhängigen nach unten. Ein Beispiel dafür sind als «Lohndrücker» eingesetzte Migranten oder Frauen. Wer wirklich profitiert, sind einzig und allein die Kapitalisten. Sie sind der Grund, wieso diese Ideen so lange überlebt haben und wieso sie heute aggressiv geschürt werden. Nur die Kapitalisten profitieren davon, dass die Arbeiterklasse sich gegenseitig zerfleischt, anstatt sich gegen ihren gemeinsamen Feind zu richten.

Die ganze Arbeiterklasse hat ein objektives Interesse daran, gemeinsam für bessere Bedingungen zu kämpfen: gegen Sparmassnahmen, für bessere Wohnungen und Jobs. Der Kampf für ein gutes Gesundheitswesen für alle ist der Kampf gegen die Pharmafirmen, die heute private Milliardenprofite scheffeln. Ihre Enteignung unter Arbeiterkontrolle würde riesige Sprünge im gesamten Gesundheitssystem erlauben. Wenn dieser Kampf konsequent geführt wird, erkennt die Arbeiterklasse ihr gemeinsames Interesse und es würde die Zugänglichkeit von Abtreibungen, Geschlechtsangleichungen und psychiatrischen Diensten vereinfachen und verbilligen. Und die Forschung und die Sexualaufklärung würden endlich von den Profitinteressen dieser Multis befreit!

Nur im gemeinsamen Kampf können reaktionäre Vorurteile in der Arbeiterklasse bekämpft und überwunden werden, weil die gemeinsamen Interessen und die Schädlichkeit der Spaltung offensichtlich werden. Ja, dieses objektive Interesse an einem gemeinsamen Kampf ist vielen Arbeitern heute nicht bewusst. Reaktionäre Vorurteile existieren. Aber das bedeutet nicht, dass das immer so bleibt. Die Kämpfe müssen geführt werden, und in den Kämpfen muss ehrlich diskutiert werden, wo die gemeinsamen Interessen liegen und wieso unterdrückerische Ideen schaden! 

Die Sackgasse der Identitätspolitik

Mit identitätspolitischen Ideen ist es unmöglich, die Spaltung zu durchbrechen. Vertreter der Identitätspolitik – auch linke – bleiben bei den Individuen stehen. Dieser Ansatz erklärt Unterdrückung dadurch, dass jede Person, die keine Form der Unterdrückung erfährt, selbst Unterdrücker ist und deshalb als «Privilegierter» ein persönliches Interesse an der Unterdrückung der anderen hat. Damit suggerieren sie, dass Teile der Arbeiterklasse von der Unterdrückung anderer profitieren. Das spaltet die Kämpfe.

Das sehen wir jedes Mal, wenn die SP oder die Grünen in der Regierung sitzen. Anstatt alle Sparmassnahmen konsequent zu bekämpfen, versuchen sie, den Abbau des Sozialstaats «gerechter» zu verteilen. Anstatt dafür zu kämpfen, dass der Reichtum dort geholt wird, wo er ist – bei den Bonzen – spielen auch sie verschiedene Teile der Arbeiterklasse gegeneinander aus, mit Diskussionen darüber, wer die mageren Subventionen mehr oder weniger verdient hätte. Bei der Erhöhung des Frauenrentenalters gab die SP bereits während der Abstimmungskampagne den Männern die Schuld, anstatt aufzuzeigen, dass ein Angriff auf einen Teil ein Angriff auf alle ist – nämlich die Vorbereitung der Erhöhung des Rentenalters für alle. Und dass deshalb der gemeinsame Kampf notwendig ist. Beim neuen Gleichstellungsgesetz in Basel wurde sogar die Unterdrückung von Frauen gegen die der Queers ausgespielt.

Weil sie die Spielregeln eines Systems in der Krise akzeptieren, greifen die feministischen SP-ler die ganze Arbeiterklasse an. Darunter leiden die unterdrückten Schichten immer am stärksten, also genau Migranten, Frauen und Queers. Mit dem Anstieg der Mieten und der Lebenskosten können sich z.B. junge Queers das Ausziehen erst viel später leisten. Das zwingt sie unter Umständen, länger mit der zurückweisenden Familie leben zu müssen oder später nicht vor Missbrauch in einer Beziehung fliehen zu können.

Auch wenn identitätspolitische Antworten vorgeben, für die Interessen der Unterdrückten einzustehen, können sie die Frage der Ursachen dieser Ideen in der Gesellschaft, den sozialen Zusammenhängen, nicht beantworten. Sie richten den Kampf nicht gegen das System und die wahren Profiteure. Deshalb können sie keinen effektiven Kampf gegen die Unterdrückung und rechte Hetze aufnehmen. Ausser moralischer Entrüstung und symbolischen Gesten hat die Identitätspolitik dem Kulturkampf nichts entgegenzusetzen. 

An injury to one is an injury to all

Die einzige Möglichkeit, Unterdrückung zu überwinden, ist es, den Nährboden zu beseitigen, der diese Ideen aufrechterhält und spriessen lässt. Im Kapitalismus ist die Mehrheit der Menschen gezwungen, sich um Krümel zu streiten. Das ist die materielle Grundlage von Unterdrückung und Spaltung. Es wäre aber mehr als genug Reichtum für alle vorhanden! Aber dieser wird von einer Minderheit besessen und kontrolliert: den Kapitalisten. Sie und ihr System müssen gestürzt werden. Dies kann nur die geeinte Arbeiterklasse. 

Der Kampf gegen Unterdrückung ist ein Kampf gegen den Kapitalismus und für den Kommunismus. Wirkliche, langfristige Verbesserungen für Queers werden nicht vom Staat oder Teilen der herrschenden Klasse durchgesetzt, sondern nur im Kampf der vereinten Arbeiterklasse gegen die gemeinsamen Ausbeuter und Unterdrücker. Was uns alle eint, ist unser gemeinsames Interesse, den Kapitalismus zu überwinden. Nur wenn wir die Bonzen enteignen und die Gesellschaft und den ganzen Reichtum in unsere Hände nehmen und demokratisch verwalten, können wir wirklich frei leben. Davon profitiert die ganze Arbeiterklasse. Und die unterdrücktesten Schichten haben am meisten zu gewinnen!


Linksliberale Intellektuelle spalten genauso


Der Professor meiner Geschichtsvorlesung vermeidet peinlichst, aktuelle Ereignisse anzusprechen. Bei einer Vorlesung über vergangene Genozide und soziale Bewegungen ist das eine ziemliche Herausforderung. In der Woche der Unibesetzungen konnte er sich jedoch nicht mehr länger zurückhalten. Plötzlich platzte ihm der Kragen: In den 68ern sei die Forderung nach freier Meinungsäusserung «mindestens noch ein linkes Anliegen gewesen». Heute seien die besetzenden Studenten ja antisemitisch. 

Ich hatte gar keine Zeit, mich vor diesem Hassausbruch zu erholen, schon holte er nochmals aus. Mit Wut in der Stimme erklärte er sein Unverständnis darüber, wieso so viele Queers sich für ein freies Palästina einsetzen. Das sei «einfach nur dumm, da Hamas frauenfeindlich und antisemitisch» sei. Diese plumpe Verleumdung konnte ich nicht stehen lassen. Ich versuchte zu antworten: Für ein freies Palästina zu kämpfen sei weder antisemitisch, noch «Hamas-Unterstützung». Gerade als Geschichtswissenschaftler wäre es seine Pflicht, die Hamas und genauso den 7. Oktober im geschichtlichen Kontext zu sehen. Wir müssen verstehen, wieso diese Ideen aufkommen: als Reaktion auf jahrzehntelange Unterdrückung durch Israel. Nur so können wir die Ursachen erkennen und bekämpfen. 

Es war wirklich schockierend, wie schnell der Professor jegliche wissenschaftliche Methode über Bord wirft und den westlichen Imperialismus und seine Gräueltaten deckt. Billigster Moralismus war ihm Recht, um den Palästinensern selbst die Schuld an 35’000 Toten zuzuschieben. Sie hätten die Hamas ja gewählt! Und im Vorbeigehen reproduziert der linksliberale Intellektuelle noch die Spaltung zwischen Unterdrückten, Queers und Palästinensern.

Ja, viele Queers der Arbeiterklasse solidarisieren sich völlig zu Recht mit den Palästinensern. Sie haben einen besonderen Hass gegen Unterdrückung. Das ist, was wir der Spaltung entgegenhalten müssen: die Einheit der Unterdrückten gegen alle Ausbeuter und Unterdrücker! Gegen den Imperialismus und gegen unsere eigene herrschende Klasse. Und gegen alle ihre Lakaien, die uns hier und dort gegeneinander ausspielen!