Der Reformismus steht heute nicht nur ohne Reformen da, sondern führt sogar Konterreformen durch. Wir versuchen unter Rückgriff auf Rosa Luxemburgs Klassiker «Sozialreform oder Revolution?» zu erklären, warum – und wie wir dagegen kämpfen müssen.
Am 2. März kündigte SP-Bundesrat Berset an, dass er einen neuen Versuch starten will, den Frauen die Rente zu kürzen. Die SP und Berset sind damit keine Ausnahme: Fast alle reformistischen Parteien haben die ArbeiterInnen in den letzten Jahren direkt angegriffen. Auf den ersten Blick scheint das rätselhaft, denn eigentlich beteuern ja all diese Parteien, dass sie für sofortige Verbesserungen für die 99% arbeiten. Von solchen Reformen fehlt aber in der Realität jede Spur – hingegen Konterreformen wie die AV2020 finden wir überall. Um die Verrate der Sozialdemokratie zu verstehen und zu sehen, was wir tun müssen, damit wir nicht gegen, sondern für die Revolution kämpfen, müssen wir Rosa Luxemburgs Kritik am Reformismus verstehen.
Die Entwicklung der SPD
Luxemburg trat 1898 der SPD bei. Diese war in den Jahren seit ihrer Legalisierung 1890 mitsamt den Gewerkschaften stark gewachsen und integrierte sich immer mehr in das bürgerliche System. Darin konnte sie auf der Basis des wirtschaftlichen Aufschwungs dieser Zeit Erfolge feiern. Die deutsche Bourgeoisie machte nebst den Profiten in Deutschland zusätzlich auch imperialistische Extra-Profite. Teile von diesen nutzte sie dazu, eine Schicht der Führung der Arbeiter-Innenbewegung zu bestechen, indem sie ihr bessere Lebensbedingungen bot, als es für die Massen der ArbeiterInnen im Kapitalismus möglich ist: eine sogenannte Arbeiteraristokratie entstand.
Dadurch und durch die Erfolgserlebnisse dieser Zeit geblendet, beschränkte sich die Führung der SPD auf Minimalforderungen (Forderungen, die jetzt in den bürgerlichen Parlamenten durchsetzbar sind) und stellte diese der Maximalforderung (dem So-zialismus) gegenüber. Diese Gegenüberstellung macht auch heute noch den Reformismus aus. Dabei wird das Erreichen des Sozialismus – wenn es nicht ganz über Bord geworfen wird – in die Ferne Zukunft verlegt und soll durch eine Summe vieler einzelner Reformen in einem linearen Prozess erreicht werden.
Reform oder Revolution?
Eduard Bernstein, ein Abgeordneter der SPD, versuchte schliesslich, diese Praxis auch theoretisch zu begründen. Rosa Luxemburg antwortete darauf 1899 mit ihrer Schrift «Sozialreform oder Revolution?». Darin erklärt sie, was es bedeutet, wenn Minimal- und Maximalforderungen einander gegenübergestellt werden: «Wer sich […] für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz […] zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel». Die Veränderung bürgerlicher Gesetze bedingt den bürgerlichen Staat und damit den Kapitalismus. Damit wird das Ziel, der Sozialismus, zur leeren Phrase. Bernstein gab das sogar offen zu: «Das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles.»
Diese «Bewegung» innerhalb des Kapitalismus erniedrigt nicht nur den Kampf für den Sozialismus zur blossen Phrase, sondern führt zwangsläufig zu Angriffen auf die 99%. Reformen können nämlich nicht einfach so nach dem Geschmack sozial-demokratischer Parteien durchgeführt werden. Es melden sich die Zwänge des Kapitalismus. Wer sich auf Reformen innerhalb des Kapitalismus beschränkt, setzt voraus, was diesen im Kern ausmacht: die Profite der KapitalistInnen. In Zeiten der Krise wie heute sinken die Profite, und die KapitalistInnen sind nicht mehr im selben Masse bereit, Geld für Reformen abzugeben. Reformistische Parteien müssen also dafür sorgen, dass die Bedingungen wieder da sind, unter denen die Anhäufung von Kapital reibungslos verläuft. Konkret bedeutet das, dass ReformistInnen dafür sorgen müssen, dass die ArbeiterInnen noch härter als sonst ausgebeutet werden und auch mal ein Jahr länger arbeiten oder dass brutale Sparmassnahmen durchgeführt werden. Kurz: Konterreformen, Angriffe auf die ArbeiterInnen!
Es ist paradox, dass Rosa Luxemburg manchmal herbeigezogen wird, um reformistische Politik zu begründen.
Die revolutionäre Methode
Was bedeutet es aber, revolutionär zu sein und für die 99% zu kämpfen? Es bedeutet, dass Reform und Revolution nicht (wie beim Reformismus) getrennt werden: «Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des geschichtlichen Fortschritts, die man […] nach Belieben wie heisse Würstchen oder kalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft.»
Reform und Revolution sind aber nur dann zwei «Momente» eines Prozesses, wenn die Reformen ein Mittel sind, um zur Revolution zu gelangen und kein Selbstzweck. Hier liegt der zentrale Unterschied zum Reformismus: Dieser versteht den Weg zum Sozialismus als eine «ununterbrochene Kette fortlaufender und stets wachsender Sozialreformen» (Luxemburg), welche die Widersprüche des Kapitalismus immer mehr abstumpfen. Für den revolutionären Marxismus hingegen dienen Reformen dazu, die 99% auf ihre Machtergreifung und damit den Übergang zum Sozialismus vorzubereiten. Die Reformen werden also nicht als der Übergang selbst missverstanden, sondern sind «Erziehungsmittel der Arbeiterklasse zur proletarischen Revolution» (Luxemburg). Doch wie werden Reformen zu solchen «Erziehungsmitteln»?
Revolutionäre Reformen
Eine Revolution bedeutet, dass die Massen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Dafür müssen sie erkennen, dass sie als unterdrückte Klasse die gleichen Interessen haben und dass diese im Gegensatz zu denen der Besitzenden stehen – sie müssen ein Klassenbewusstsein entwickeln. Dazu gehört auch, dass sich die Arbeitenden ihrer Macht, die auf ihrer Stellung in der Produktion fusst, bewusst werden. Um zu einer wirklichen Kraft zu werden, die ihr Klasseninteresse auch wahrnehmen kann, müssen sich die Arbeitenden organisieren. Weder das Klassenbewusstsein, noch die Organisation der Arbeitenden, entstehen einfach so. Doch sie können durch den gemeinsamen Kampf für Reformen entwickelt werden.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist den allermeisten Menschen nicht ersichtlich, wie ihre alltäglichen Probleme mit dem Kapitalismus zusammenhängen. Reformen müssen an diesen Problemen ansetzen und Lösungen bieten, für welche die Arbeitenden bereit sind, zu kämpfen – und die gleichsam über den Kapitalismus hinausweisen. Indem Reformen die Arbeitenden vermehrt in den Kampf hineinziehen, können diese sich organisieren und ein Klassenbewusstsein entwickeln. Durch den Kampf selbst wird ihnen nach und nach klar, dass eine Revolution notwendig ist – gleichzeitig schaffen die Arbeitenden auch sich selbst als die Kraft, die im Stande ist, diese Revolution durchzuführen.
Für den Sozialismus – gegen Reformismus!
Es ist paradox, dass Rosa Luxemburg manchmal herbeigezogen wird, um reformistische Politik zu begründen. In Wirklichkeit steht sie für das Gegenteil. Sie hilft uns zu verstehen, wie wir Reform und Revolution verbinden müssen, um für die 99% zu kämpfen. Sie zeigt uns, warum der Reformismus heute die ArbeiterInnen immer wieder verrät und warum er das zwangsläufig immer wieder tun wird. Wenn wir für den Sozialismus kämpfen, müssen wir, wie Rosa Luxemburg, gegen den Reformismus in den ArbeiterInnenorganisationen kämpfen.
Flurin Andry
JUSO Stadt Zürich
Bild: www.liberationschool.org (creative commons)
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