„Die Philosophen“, so die berühmten Worte Marx‘, „haben die Welt nur verschieden interpretiert.“ Mit seinem Werk „Geschichte der Philosophie – eine marxistische Perspektive“ legt der britische Marxist Alan Woods jetzt einen Überblick über die wichtigsten Entwicklungsstadien dieser verschiedenen Interpretationen vor – von den Anfängen der griechischen Philosophie bis zur Entstehung des Marxismus. Sandro Tsipouras stellt die Neuerscheinung vor.
„Seit anderthalb Jahrhunderten“, schreibt Woods, „gleicht das Reich der Philosophie einer trockenen Wüste mit nur spärlichen Spuren von Leben. Das Zeitalter der Giganten ist spurlos vergangen. Die Schatzkammer der Vergangenheit mit ihrem uralten Glanz und Lichtblitzen ist verschwunden. Das Feuer ist vollständig erloschen. Diese Wüste, die sich immer noch Philosophie nennt, wird von einem Stamm von Eunuchen und zankenden Pygmäen bewohnt. In dieser geistigen Einöde würde man vergeblich nach einer Quelle der Erleuchtung suchen.“ (Alle folgenden Zitate, wenn nicht anders gekennzeichnet, aus der „Geschichte der Philosophie“.)
Es kann also im Buch schon einmal ganz offensichtlich nicht um das gehen, was sich heutzutage als Philosophie ausgibt. Aber worum geht es dann?
Wer beginnt, sich die Ideen des Marxismus anzueignen, lernt schnell, dass der Marxismus aus „drei Quellen“ entstanden ist und dementsprechend aus „drei Bestandteilen“ besteht, wie Lenin prägnant formuliert hat. Das Ideengebäude des Marxismus ist aus englischer (klassischer) Ökonomie, französischem (utopischem) Sozialismus und deutscher (idealistischer) Philosophie entstanden und setzt sich daher auch aus der „Kritik der politischen Ökonomie“, dem „wissenschaftlichen Sozialismus“ und dem „dialektischen und historischen Materialismus“ zusammen.
Auf allen drei Gebieten hat der Marxismus alles Positive in sich aufgenommen, was in den vergangenen Jahrtausenden an vernünftigen Einsichten zustande gekommen ist. Aber mit dem Marxismus trennt sich in der Geschichte dieser Gebiete sozusagen ein- für allemal die Spreu vom Weizen. Die Errungenschaften der Philosophie sind im Marxismus aufgehoben. Spätestens seit es ihn gibt, ist die Aufgabe der philosophischen Institute der Universitäten auch nicht mehr, der Wahrheit näher zu kommen, sondern die Klassenunterdrückung ideologisch zu untermauern. Sie sind damit Horte der Reaktion und der Unvernunft, Feinde der Arbeiterklasse und des gesellschaftlichen Fortschritts geworden. Damit ist aber auch das ernsthafte, wissenschaftliche Studium der Geschichte der Philosophie weitgehend verschwunden. Doch dieses ist entscheidend dafür, zwischen gesellschaftlich fortschrittlichen und reaktionären Ideen unterscheiden zu können; zwischen jenen Ideen, die den Klassenkampf voranbringen und jenen, die ihn zurückhalten können. Ein klares Verständnis der Geschichte der Philosophie ist also für alle KämpferInnen für den Sozialismus unverzichtbar, um den Klassenkampf erfolgreich führen zu können und so die Grundlage für eine sozialistische Transformation der Gesellschaft zu legen.
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„Die Philosophie entsteht“, erklärt Woods, „sobald die Menschen versuchen, sich die Welt ohne das Eingreifen übernatürlicher Instanzen zu erklären“. Mit der Philosophie fing die Menschheit an, urzeitliche, religiöse und märchenhafte Erklärungen hinter sich zu lassen und „die Natur und uns selbst wissenschaftlich zu verstehen.“
Die Philosophie war der Versuch, die Welt denkend zu verstehen, bevor viele Methoden der Wissenschaft praktisch möglich wurde, bevor es also Labore, Mikroskope, Teleskope, ein Wissen um chemische Reaktionen und dergleichen gab (das sind Produktionsmittel, die erst der Kapitalismus in vernünftigem Umfang liefert).
Woods‘ Darstellung beginnt also bei den ersten Versuchen der alten Griechen, ohne Götter eine Antwort auf die Frage zu finden, wo alles herkommt, nach welchen Prinzipien es funktioniert und wie man es erklären kann, und arbeitet sich vor bis zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. Seit es diese nämlich gibt, wurde der Philosophie ein Gebiet nach dem anderen von der Wissenschaft streitig gemacht: Physik, Astronomie, Biologie – und mit der Entstehung des Marxismus schließlich die Geschichte der Menschen selbst. Wie Friedrich Engels schon 1880 resümierte: „Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehen bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen – die formelle Logik und die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte.“[1]
Die ist auch der Grund, weshalb heute im Bereich der Philosophie nur alte und überholte Konzepte aus der Geschichte wiedergekäut und neu verpackt werden.
In der ganzen global überlieferten Geschichte waren die Philosophen der griechischen Antike die ersten, die versuchten, „eine allgemeine Gesetzmäßigkeit für die Vorgänge in der Natur zu finden, in dem sie die selbige beobachteten. […] Thales behauptete zum Beispiel, das Wasser sei der Anfang oder Urgrund aller Dinge.“ Spätere griechische Philosophen schlugen hierfür „die Luft“ oder „das Unendliche“ vor. Dass diese Überlegungen unzutreffend waren, ist nicht das Entscheidende. Der Punkt ist, dass es inspirierte Versuche waren, Antworten zu finden.
Die ersten Philosophen zeichnen sich dabei durch den Versuch aus, die Welt so zu verstehen, wie sie ist, ohne höhere Mächte zur Hilfe zu nehmen – sie waren also im philosophischen Sinne Materialisten. Dabei kamen sie zu genialen Schlussfolgerungen – sie analysierten die Planetenbahnen, errechneten die Größe und Kugelform der Erde und entwickelten weit über 2000 Jahre vor Darwin evolutionstheoretische Ansätze.
Diese erste Periode der Philosophie war geprägt von hitzigen Kontroversen, in denen die Spekulationen über die Grundlagen der Welt zu extremen Widersprüchen führten, die aber das Verständnis enorm weiterbrachten. Diese Debatten halfen auch dabei, das Denken selbst zu strukturieren.
So kam Heraklit zum Schluss, dass „alles fließt“. Die Eleaten hielten dem entgegen, dass „sich nichts verändert und […] die Bewegung eine Illusion ist“. Während Heraklits geniale Verallgemeinerung eine „ursprüngliche, naive, aber der Sache nach richtige Anschauung von der Welt“[2] darstellt, trugen auch die Eleaten mit ihrer Ablehnung dessen dazu bei, die inneren Widersprüche der Bewegung selbst herauszuarbeiten. So sah die griechische Philosophie auch die Geburtsstunde der Dialektik, die Untersuchung der grundlegendsten Bewegungsgesetze.
Aristoteles komplementierte diese Entdeckungen durch sein System der formalen Logik, das für tausende Jahre die Grundlage des Denkens bilden sollte – so weit, dass noch Kant am Ende des 18. Jahrhunderts sagen konnte, dass die Logik seit Aristoteles keine Schritt vorwärts und keinen Schritt zurück gemacht habe, und dass Generationen von Denkern und Wissenschaftlern (im Gegensatz zu Aristoteles selbst, für den sowohl Logik als auch Dialektik eine Berechtigung hatten) sie so absolut setzten, dass sie versuchten, allen Widerspruch aus dem Denken und der Realität zu verbannen.
Doch unter der zunehmenden Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit, der Begrenztheit der tatsächlichen Möglichkeiten, die Thesen auch nachzuprüfen und scharfer gesellschaftlicher Krisen, die die Sackgasse der Sklavenhaltergesellschaft klar machten, streckten Mystizismus und religiöse Vorstellungen in diesen philosophischen Debatten immer wieder ihre Köpfe hervor. Philosophen wie Pythagoras und Platon verkörperte diesen Trend wohl am klarsten, Platon nahm etwa an, „alle Dinge entstünden als Abbilder universeller Vorbilder, die es jenseits der materiellen Welt wirklich geben sollte“. Nach dem griechischen Wort für diese Vorbilder (eidos) ist der philosophische Idealismus benannt. Sie sind auch heute omnipräsent in Vorstellungen von Konzepten wie „Freiheit“, „Gleichheit“, „Menschenrechte“ und „Sitten“, die freischwebend und isoliert von den gesellschaftlichen Verhältnisse das Leben der Menschen bestimmen sollen.
Auch idealistische griechische Philosophen trugen trotz ihrer falschen Ansichten einiges zur Entwicklung der Erkenntnis und der Dialektik bei. So etwa Pythagoras und die Pythagoräer, die soetwas wie einem „Kult der Zahlen“ huldigten, aber dabei bahnbrechende mathematische Entdeckungen machten. Doch nach diesem ersten Höhepunkt sollte es für tausend Jahre zu einem Ende dieser Fortschritte kommen.
Infolge der Krise und des letztendlichen Zusammenbruches der antiken Sklavenhaltergesellschaft wurde eine ideologische Terrorherrschaft der katholischen Kirche errichtet, die das kreative philosophische Denken im Mittelalter für jeden Zweck außer einen unterband: Die Legitimation der katholischen Lehre. „In der klösterlichen Bildungstradition war es den Schülern verboten, zu sprechen oder Fragen zu stellen.“
Doch mit noch so viel Gewalt kann man das Denken der Menschen nicht ganz zum Schweigen bringen. Unter der Decke des katholischen Dogmas brach der alte Konflikt zwischen Materialismus und Idealismus wieder auf, auch wenn er unter den Bedingungen des Mittelalters nie bis zum offenen Materialismus führen konnte. Ein Ausdruck dieses Konflikts war der sogenannte Universalienstreit. Vordergründig ging es dabei darum, ob die allgemeinen Begriffe im Denken der Menschen (das Wissen darum, was „einen Stein“, „einen Tisch“, „ein Pferd“ u. dgl. ausmacht) wie schon in der platonischen Ideenlehre unabhängig von den Menschen real sind, etwa als Gedanken Gottes – oder ob diese allgemeinen Begriffe von den Menschen selber durch Verallgemeinerung von konkreten Dingen hergestellt werden. In Wirklichkeit geht es bei diesem Konflikt aber um nichts Geringeres als die Frage, ob die menschliche Erkenntnis von Gott kommt oder ob die Menschen selbst Ideen entwickeln können – ob also nur passive, empfangende Anbetung oder aktive Wissenschaft und Forschung möglich ist.
Doch diese Debatten blieben notwendigerweise eben das – reine Debatten. Um der Philosophie einen neuen Anstoß zu geben, war eine Umwälzung der gesellschaftlichen Grundlage erforderlich.
Es war die entstehende kapitalistische Produktionsweise, auf deren Grundlage die Herrschaft der katholischen Kirche über die Köpfe gebrochen wurde. Das erste sichtbare Anzeichen dieses Prozesses war die protestantische Reformation. Die Erforschung der Weltmeere, die zur Entdeckung Amerikas führte, brachte mit sich eine starke Entwicklung der Navigationstechnik und Astronomie. Galilei, Kopernikus und Kepler stellten im 16. Jahrhundert klar, dass die Erde sich gemeinsam mit den anderen Planeten um die Sonne und der Mond um die Erde dreht.
Die Entdeckungen der Wissenschaft beendeten den Universalienstreit. Empiriker wie Bacon und Locke legten im 16. und 17. Jahrhundert dar, wie auf Basis von Experiment und Beobachtung Verallgemeinerungen entstehen. Diese Methode wird Induktion genannt. Doch dieser Empirismus war mit schweren Mängeln behaftet. Einfach „die“ Tatsachen zur Kenntnis nehmen und daraus Schlüsse ziehen – so will es auch die moderne Soziologie oder Politikwissenschaft noch machen. Was dabei aber völlig unter den Tisch fällt, ist die Frage, welche Tatsachen man eigentlich „zur Kenntnis nimmt“. So lassen sich nach Belieben sowohl Gemeinsamkeiten absurd verabsolutieren (Faschismus, Sozialismus und Stalinismus seien eigentlich dasselbe) als auch Unterschiede grotesk übertreiben (Faschismus und bürgerliche Demokratie seien völlig verschiedene Dinge).
Gegenüber dem Platonismus, den die Kirche bislang vertreten hatte, war der Empirismus dennoch ein epochaler Fortschritt. Um diesem etwas entgegenstellen zu können, entwickelte der irische Bischof George Berkeley (1685-1753) seine Philosophie. Berkeley wollte mit dem Empirismus fertigwerden, indem er radikal zu den reaktionärsten Positionen im Universalienstreit zurückkehrte und sogar noch über sie hinausging: Nicht nur die „Universalien“, sondern überhaupt jeder Bewusstseinsinhalt komme von Gott. Und in weiterer Folge gebe es um uns herum überhaupt keine Welt, die man erforschen könnte. Unsere Wahrnehmungen seien kein Abbild einer objektiven Realität. Dieses Weltbild erinnert an die moderne philosophische Strömung des Postmodernismus, die im Grunde denselben Gedanken in den Slogan „Es gibt nichts außerhalb des Textes“ verpackt: Es gibt keine objektive Wirklichkeit, jeder Gedanke über die Welt ist in Wahrheit nur ein Gedanke über andere Gedanken. Es gibt kein biologisches Geschlecht und keine Arbeiterklasse, sondern nur Identitäten und „Zuschreibungen“; es gibt keine Tatsachen, sondern „Erzählungen“; es gibt keine Klassenherrschaft, sondern „Klassismus“; es gibt keinen objektiven Wert, sondern nur eine beliebig manipulierbare Geldmenge…
Bischof Berkeley sagte es so deutlich wie kaum einer vor ihm: Es gibt keine Materie. Er nannte seine Philosophie sogar „Immaterialismus“, so wichtig war ihm diese Feststellung. Damit legte er aber auch die Frage offen auf den Tisch: Gibt es die Materie? Wenn ja, gibt es sonst auch noch etwas? Wie hängt das Bewusstsein mit der Materie zusammen?
Der Franzose René Descartes (1596-1650) hatte behauptet: Ja, das gibt es beides, aber er konnte nicht sagen, wie es zusammenhängt. Seine Position, dass Bewusstsein („res cogitans“: „Denkendes“) und Materie („res extensa“: „Ausgedehntes“; d.h. im Raum Vorhandenes) zwei unterschiedliche Arten von Realität seien, die auf irgendeine unerklärliche Weise miteinander interagieren, nennt man Dualismus.
Der Niederländer Baruch de Spinoza (1632-1677) versuchte dann, direkt an Descartes anknüpfend, zu argumentieren, dass Bewusstsein und Materie („Denken“ und „Ausdehnung“) zwei Aspekte einer einzigen unendlichen „Substanz“ seien, die er auch „Gott“ nannte. Damit nähert er sich als erster einer konsequent materialistischen Position an, auch wenn er sie in religiöse Begriffe verkleidete. In seinem aus Angst vor der Kirche zu Lebzeiten niemals veröffentlichten Hauptwerk „Die Ethik“, in dem es um buchstäblich alles geht außer „Ethik“, wie wir den Begriff heute verstehen, unterbreitet er uns eine Auffassung von der Welt, in der von „Gott“ bis hin zu den alltäglichsten Gefühlsregungen der Menschen alles, was es gibt, nur Erscheinungsformen ein- und derselben, ewigen „Substanz“ sind.
Während die Philosophie der Neuzeit wichtige Fortschritte machte, blieb die Dialektik als höchste Form des Denkens weitgehen unbeachtet. Ausgehend vom Einfluss des Empirismus machte sich eine starre bzw. metaphysische Sichtweisen unter den Philosophen breit, die sie in eine Sackgasse manövrierte. Der Höhepunkt dieser Krise stellte Berkeley und David Hume (1711-1776) dar, der sogar das Prinzip der Kausalität (Ursache und Wirkung) anzweifelte.
Ein entscheidender Wendepunkt wurde vom deutschen Idealisten Immanuel Kant (1724-1804) eingeleitet, der eine Grundlagenkritik an der metaphysischen Philosophie formulierte, doch jene trotzdem nicht ganz abschütteln konnte. Sein großes Verdienst ist die Anerkennung von inhärenten Wiedersprüchen und damit die Dialektik wieder in die Philosophie einzuführen. Dieser wichtige Impuls nahm der große deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1837) auf und verhalft der dialektischen Denkweise zu seinem Durchbruch.
Hegel fasste die gesamte Wirklichkeit als ein zusammenhängendes Ganzes auf. Insbesondere die Geschichte sah er als Geschichte von Konflikten, Gegensätzen, Widersprüchen – mit einem Wort: dialektisch; als eine Geschichte, in der sich die Dinge beständig in ihr Gegenteil verwandeln, um dann wieder auf höherer Ebene zum Ausgangspunkt zurückzukehren.
Hegel ist sich mit Philosophen wie Spinoza und den altgriechischen Materialisten darin einig, dass die Sterne, die Planeten, die Tiere, die Menschen, die Gedanken, die Gefühle und die Träume, die Gesellschaft und der Staat alles untrennbar miteinander verflochtene Teile eines zusammenhängenden Ganzen sind, aber Hegel gibt sich anders als Spinoza nicht damit zufrieden, das einfach nur alles logisch miteinander zu verknüpfen, sondern er will wissen, wie diese „Momente“ zeitlich aufeinander folgen, auseinander hervorgehen, in Konflikt miteinander geraten und ihre Konflikte wieder lösen, sich entfalten und zusammenfallen. Sein philosophisches System ist historisch und stellt den Menschen und sein „Tun und Treiben“ (Phänomenologie des Geistes) in den Mittelpunkt.In einem Satz war für Hegel: „Alles was entsteht, wert das es zu Grunde geht.“ Dies bedeutete eine Revolution in der Philosophie und eine Kriegserklärung an alle Philosophien der Vergangenheit, die stets damit beschäftigt waren ewig gültige Gesetze zu postulieren.
Ausgehend von diesem Punkt entwickelten schließlich Karl Marx und Friedrich Engels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die materialistische Geschichtsauffassung.
Dafür mussten sie allerdings zuerst Hegels große Schwäche überwinden: seinen Idealismus. Trotz seiner meisterhaften Beherrschung der Dialektik sah er in den realen Entwicklungen der Welt stets die Widerspiegelung einer mystischen absoluten Idee. Dies führte ihn selbst in eine Sackgasse. Hegel war (zumindest am Ende seines Lebens) selbst konservativ. Seine rechten Anhänger gingen sogar noch weiter – für sie repräsentierte der preußische Staatsapparat den höchsten Punkt aller sozialer Entwicklung. Der dialektische Idealismus verkehrte sich so selbst in sein Gegenteil und verknöcherte.
Wie Alan Woods bemerkt: „Es bedurfte eines Genies wie Marx, um den rationalen Kern, der sich zwischen den Seiten der Hegelschen Logik verbarg, zu entdecken und auf die reale, materielle Welt anzuwenden.“
Engels stellte den Fortschritt, den er und Marx gegenüber der bisherigen Philosophie machten, 1886 (drei Jahre nach Marx‘ Tod) wie folgt dar: „Wir faßten die Begriffe unsres Kopfs […] materialistisch als die Abbilder der wirklichen Dinge, statt die wirklichen Dinge als Abbilder dieser oder jener Stufe des absoluten Begriffs. Damit reduzierte sich die Dialektik auf die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußern Welt wie des menschlichen Denkens […] Damit aber wurde die Begriffsdialektik selbst nur der bewußte Reflex der dialektischen Bewegung der wirklichen Welt, und damit wurde die Hegelsche Dialektik auf den Kopf, oder vielmehr vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt.“[3]
Damit war den alten metaphysischen Spekulationen über die „Natur des Menschen“, über das Verhältnis von Geist und Materie usw. jede Daseinsberechtigung entzogen, indem die Grundlage dafür gelegt wurde, dass diese Fragen mit der Methode des dialektischen Materialismus in der wissenschaftlichen Forschung aufgelöst werden konnten. Das Bewusstsein, der menschliche Geist, ist eine besondere Existenzform der Materie und als solche objektiv begreifbar und untersuchbar. Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein. Und wie Engels in seinem Vorwort zum „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ festhielt, ist „das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte: die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens.“[4]
Marx und Engels sahen, dass die Ökonomie, die Philosophie, die Politik einer gegebenen Gesellschaftsform miteinander zusammenhängen, Facetten, Hegel sagte „Momente“, eines Ganzen sind; sie erforschten, wie sie in Konflikt miteinander geraten und wie diese Konflikte sich lösen, sie stellten dar, wie sich daraus eine zusammenhängende Menschheitsgeschichte ergibt und stellten fest, dass die Entwicklung der Produktivkräfte der wesentliche, grundlegende, treibende Faktor in der Entwicklung der Gesellschaft ist. „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“, sagten Marx und Engels, und damit lieferten sie auf die uralte philosophische Frage nach dem Verhältnis von Materie und Bewusstsein erstmals eine wissenschaftliche, praktische, auf die Erforschung der realen Welt gestützte Antwort.
Aber das Verdienst von Marx und Engels ist noch größer. Indem sie den Zusammenhang von philosophischer Theorie und realer geschichtlicher Entwicklung aufgezeigt hatten, konnte sie ihrer eigenen Theorie eine politische Funktion in der Menschheitsgeschichte zuweisen. „Indem sie den rationalen Kern der Hegelschen Philosophie aus seiner idealistischen Hülle befreiten, verwandelten Marx und Engels die Dialektik in eine mächtige Waffe der revolutionären Aktion.“ Denn eines der wichtigsten Argumente der Herrschenden aller historischen Perioden ist die vermeintliche Alternativlosigkeit ihrer Herrschaft, dass die Ausgebeuteten ihr Los akzeptieren müssen, dass sich nie etwas ändert, dass die „menschlichen Natur“ immer gleichbleiben wird.
Doch Marx und Engels konnten mithilfe des dialektischen Materialismus zum ersten Mal beweisen, dass sich auch in der menschlichen Gesellschaft die Dinge verändern und auf welche Weise sie das tun. Sie konnten konkret geschichtlich nachweisen, dass sich die gesellschaftlichen Widersprüche in den Klassengesellschaften aufstauen und sich notwendigerweise in Klassenkämpfen und Revolutionen entladen, die, wenn sie erfolgreich sind, mit dem Sturz der alten Ausbeuterklasse und der Machtübernahme einer historisch fortschrittlichen Klasse enden.
Marx und Engels konnten wissenschaftlich enthüllen, was die historische Mission der Arbeiterklasse ist und wie diese sie erfüllen kann, „dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt“ und diese selbst nur „den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet“[5]. Das war die Geburtsstunde des wissenschaftlichen Sozialismus und der Endpunkt der klassischen Philosophie. Denn indem sie durch die materialistische Geschichtsauffassung der Wissenschaft zum Durchbruch auf den letzten Gebieten verholfen haben, das bis dahin noch der Philosophie vorenthalten waren, konnten sie damit abschließen, die Welt „nur“ zu interpretieren, denn „es kommt darauf an, sie zu verändern.“[6]
Sandro Tsipouras, Der Funke Österreich
27. Mai 2022
[1] Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: MEW 19, S. 207.
[2] Friedrich Engels: Anti-Dühring, in: MEW 20, S. 20.
[3] Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW 21, 292f.
[4] Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: MEW 21, S. 27.
[5] Marx an Joseph Weydemeyer vom 5. März 1852, in: MEW 28, S. 508.
[6] Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: MEW 3, S. 5
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