Der dialektische Materialismus, die Philosophie des Marxismus, steht am höchsten Punkt einer langen Entwicklung der Philosophie. Um seine revolutionäre Bedeutung zu verstehen, müssen wir seine Geschichte verstehen. Teil 1: Die Ursprünge des Materialismus im antiken Griechenland. Hier geht es zu Teil 2 und Teil 3.
Die Arbeiterklasse braucht eine klare und konsistente Auffassung ihrer historischen Aufgaben und Ziele: dem Sturz des Kapitalismus und dem Aufbau einer sozialistischen Planwirtschaft. Das erfordert ein wissenschaftliches, das heisst, ein konsequent materialistisches Verständnis der Natur und der Gesellschaft. Die Bourgeoisie in ihrer gegenwärtigen Phase des Niedergangs verbreitet dagegen in allen Bereichen des Lebens Ideen, deren philosophische Grundlage der Idealismus ist. Jede Form des Idealismus stellt einen Rückfall in den Mystizismus längst vergangener Zeiten dar, verschleiert die wirklichen Verhältnisse und ist ein Hindernis für den Fortschritt der Menschheit.
Der Klassenkampf zwischen dem gesellschaftlichen Fortschritt und dem Niedergang, zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, ist in vollem Gange – auch auf der ideologischen Ebene. Um diesen Kampf zu gewinnen und die Menschheit von den Fesseln der Klassengesellschaft zu befreien, brauchen wir grösste Klarheit und ein Verständnis des philosophischen Kerns der gegenüberstehenden Ideen.
Die Geschichte der Philosophie war seit ihrer Entstehung im antiken Griechenland geprägt vom Kampf zwischen ihren beiden sich unvereinbar widersprechenden Hauptrichtungen: dem Materialismus und dem Idealismus. Materialismus und Idealismus geben direkt entgegengesetzte Antworten auf das, was Friedrich Engels die «grosse Grundfrage aller Philosophie» nannte, jene «nach dem Verhältnis zwischen Denken und Sein»: «Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur?».
Der philosophische Materialismus erklärt, dass die Realität materiell ist. Die Materie (die Natur) bringt das Denken (den «Geist») hervor, nicht umgekehrt. Die Natur existiert objektiv ausserhalb und unabhängig des Denkens der Menschen. Das Denken ist ein Produkt der Materie auf besonders hoher Entwicklungsstufe.
Der Idealismus basiert auf den umgekehrten Annahmen: Der Geist existiert vor der Natur und damit unabhängig von der materiellen Welt. Der Geist erschafft die Welt. Egal mit welchem Begriff die Philosophen diesen Geist bezeichnen, ist dies letztlich der religiöse Glauben an eine übernatürliche Macht, einen Gott.
Der dialektische Materialismus, die Philosophie des Marxismus, steht am Ende und höchsten Punkt einer langen Entwicklung des Fortschritts der Wissenschaft und der Philosophie. Mit ihm erst hat es der Materialismus zu seiner vollen Reife gebracht und die letzten Überreste des idealistischen Mystizismus überwunden zugunsten einer konsequent wissenschaftlichen Herangehensweise. Um ihn zu verstehen, müssen wir die Geschichte der Philosophie kennen. Dazu gehört auch ein Blick auf seine Ursprünge.
Die Ideen und Denkweisen der Menschen fallen nicht vom Himmel, sie sind das Produkt der Gesellschaft auf einer bestimmten Entwicklungsstufe. Das philosophische Denken konnte, wie wir gleich zeigen werden, erst mit dem Anbruch der Zivilisation und der damit verbundenen Klassengesellschaft entstehen. Die Keime des späteren philosophischen Gegensatzes von Materialismus und Idealismus finden sich allerdings schon im primitiven Denken der Menschen auf niedereren Entwicklungsstufen.
Auf der einen Seite enthält schon das Denken in urkommunistischen Stammesgesellschaften einen spontanen, naiven Materialismus. Dieser spontane Materialismus erwächst aus der kollektiven menschlichen Praxis der Bearbeitung der Natur zur Bedürfnisbefriedigung und ist entsprechend tief in den Vorstellungen der Menschen verankert. Der Grossteil allen menschlichen Handelns basiert auf der (unbewussten) Annahme, dass die Welt objektiv ausser uns existiert und gegenüber unserem Denken primär ist. Und diese Annahme wird uns durch unsere alltägliche Praxis immer wieder aufs Neue bestätigt. Durch die Erfahrungen der Menschen in den millionenfachen Wiederholungen der gleichen Handlungen entsteht wirkliches Wissen über die Eigenschaften und die Prozesse der Natur. Das ist die durchgängige Grundlage jedes Materialismus.
Dieses wirkliche Wissen der Menschen wächst in dem Grad, wie die Menschen die Mittel entwickeln, die Natur effektiv ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Doch hier kommt die Gegenseite: Primitive Menschen beherrschen durch ihre Arbeit erst einen sehr kleinen Teil der Vorgänge in der Natur. Sie sind umgeben von Unkontrollierbarem und damit Unbekanntem und Rätselhaftem. Als Platzhalter für das fehlende Wissen durch die fehlende Beherrschung der Natur tritt die Annahme, dass grössere, übernatürliche Kräfte existieren und die Naturvorgänge und das Schicksal der Menschen bestimmen. Magie ist der Versuch von primitiven Völkern, durch Rituale an diese Kräfte zu appellieren und von den Naturkräften die Resultate zu erhoffen, zu der die Menschen noch nicht im Stande sind, durch ihre eigene Tätigkeit zu kommen. Das ist die Grundlage für das mystische, irrationale Denken, das nicht auf wirklichem Wissen der objektiven Welt basiert.
Auf höherer Entwicklungsstufe, mit dem Übergang von der urkommunistischen Wildheit zur Barbarei, nimmt auch dieses mystische Denken eine höhere Form an: die Religion. Die Naturkräfte werden nun in Göttern personifiziert, deren Gunst sich die Menschen durch Rituale und Abgaben erkaufen sollten – ein Spiegel der auf der Stufe der Barbarei entstehenden sozialen Ungleichheiten.
Der Übergang von der Bronzezeit zur Eisenzeit in Teilen des Mittelmeerraumes markiert den Übergang von der Barbarei zur Zivilisation. Es entstand eine Klassengesellschaft, die erstmals wesentlich auf der Sklaverei zur Warenproduktion und der Geldwirtschaft basierte. Im Rahmen der umfassenden Umwälzungen in der Wirtschaft und Gesellschaft erhoben sich eine Reihe griechischer Stadtstaaten zu florierenden Handelszentren – und mit diesen entstand eine neue Klasse von unabhängigen Händlern, die eng verbunden war mit den Schiffbauern und -besitzern, Seefahrern, Handwerkern und Financiers.
Diese aufstrebende Klasse und ihre Bedürfnisse waren die treibende, revolutionierende Kraft der entstehenden Zivilisation des antiken Griechenland, mit Auswirkungen auf alle Felder der Gesellschaft: der Technologie, der Wissenschaft, dem Denken, der Kunst und nicht zuletzt der Politik. Diese neue Mittelklasse, die ihren Reichtum auf den Handel und mobiles Eigentum und nicht auf den Boden stützte, forderte die politische Herrschaft der Aristokratie der Grundeigentümer heraus. Wo sie siegreich war, resultierten aus den turbulenten Klassenkämpfe und Revolutionen unter anderem die ersten Formen der Demokratie.
Auf der Grundlage dieser Umwälzungen entstanden auch die Bedingungen für eine neue Form des Denkens: der Philosophie. Die Erfordernisse des Handels befruchteten das mathematische und damit das abstrakte Denken in Verallgemeinerungen und Beziehungen, was die Grundlage des philosophischen Denkens bildet. Und mit der Entstehung der Klassengesellschaft kam ein Teil der herrschenden Klasse in die Lage, von der Arbeit anderer leben zu können und sich nicht selbst um die materielle Bedürfnisbefriedigung kümmern zu müssen. Sie hatte Zeit zum Denken und wissenschaftlichen Forschen.
Die entstehende Philosophie war beeinflusst und angetrieben von den neuen Bedürfnissen und Fortschritten der aufstrebenden städtischen Händlerklasse, die im Gegensatz standen zu den religiösen Anschauungen der Landaristokratie. Wie Novack in seinem hervorragenden The Origins of Materialism erklärt, musste die Philosophie deshalb notwendigerweise zunächst eine materialistische Form annehmen: Sie entstand in der Abgrenzung zur Magie und Religion der Wildheit und Barbarei.
Die ersten Philosophen in den ionischen Städten, ab dem 6. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung, waren «Naturphilosophen» (Thales, Anaximander, Anaximenes, Heraklit). Sie suchten nach den Ursachen und Erklärungen der Dinge in der Natur selbst und strebten nach der Erkenntnis von Gesetzmässigkeiten der Natur durch Beobachtung der sich wiederholenden Ereignisse. Für Thales war alles Bestehende auf das materielle Element Wasser zurückzuführen. Für die Atomisten, die nächste Generation griechischer Materialisten, erklärten sich alle Dinge aus den unendlichen Kombinationen von Atomen (unteilbaren kleinsten Teilchen) im leeren Raum. Alle Bewegung und Veränderung erklärt sich aus diesem Zusammenspiel, Bewegung hat immer existiert und hat keinen höheren (göttlichen) Zweck und keine Vorbestimmung.
Selbst wenn ideologische Altlasten wie Götter auch bei diesen Naturphilosophen mitgeschleppt wurden, zeichnete sich ihre Philosophie gerade dadurch aus, dass ihre Erklärungen ohne Rückgriff auf die Aktionen oder das Wirken übernatürlicher Kräfte auskommen. Diese materialistische Methode, die sich in der Untersuchung der objektiven Realität nur auf die Vernunft stützt, ist die Basis jeder Wissenschaft.
Ebenso wie sich die demokratische Bewegung der Händler und Handwerker nicht langfristig gegen die Oligarchen der grundbesitzenden Sklavenaristokratie durchsetzte, ebenso setzte sich der Materialismus letztlich nicht gegen den Idealismus durch.
Die Blüte der antiken griechischen Philosophie war der Idealismus in der Linie, die von Sokrates über Platon zu Aristoteles führte. Sokrates war der Urheber dieser idealistischen Wende weg vom Materialismus. Statt die objektive Welt selbst zu erforschen, ging er dazu über, die Argumente und Aussagen der Menschen über die Natur zu untersuchen; statt wie die ionischen Naturphilosophen von der Natur und ihren Gesetzen zum menschlichen Denken und Handeln zu gehen, ging er den umgekehrten Weg: Die Welt wurde erklärt durch das Denken, nicht die Menschen durch die Entwicklung und die Gesetze der Natur. Die logische Konsequenz: Die Natur und die Menschheit werden erschaffen von einem übernatürlichen Geist, der vor der natürlichen Welt existierte.
Der Idealismus ist seinem Wesen nach eine Weiterführung der früheren, vor-zivilisatorischen Formen der Magie und der Religion in der neuen Form der philosophischen Kategorien der Vernunft. Die Idealisten waren der philosophische Ausdruck der oligarchischen Reaktion der sklavenhaltendenden Aristokratie, die zur Verteidigung oder Widerherstellug ihrer Herrschaft gegen die demokratisierenden Tendenzen auf die Rehabilitierung der Religion angewiesen war.
Der Fortschritt der Menschheit von der Ohnmacht gegenüber den Naturkräften zur Beherrschung der Natur ist gleichermassen der Fortschritt vom Unwissen zum Wissen: Es ist der Prozess des Abstreifens des mystischen und religiösen Glaubens an übernatürliche Kräfte und des Voranschreitens zur Wissenschaft. In der Geschichte der Philosophie repräsentiert der Materialismus die Seite, die vom Mystizismus zur wissenschaftlichen Erkenntnis der wirklichen Welt drängt. Die grundlegenden Prämissen und letztlich die Schlussfolgerungen des Idealismus dagegen sind gänzlich unwissenschaftlich und repräsentieren eine Bremse in der Entwicklung der Menschen vom Unwissen und Spiritualismus zum wissenschaftlichen Verständnis der Natur und Gesellschaft.
Das heisst durchaus nicht, dass jeder Idealismus – derjenige in Griechenland sowenig wie später der Idealismus der Aufklärung – ausschliesslich negative Auswirkungen auf den Fortschritt der Wissenschaft und des Wissen hatte. Einige seiner Denker, nicht zuletzt Aristoteles, gehören zu den Giganten der Menschheitsgeschichte.
Der Fortschritt in der Geschichte ist keineswegs direkt und linear. Im Gegenteil, er ist überaus verschlungen und widersprüchlich. Die Geschichte der Menschheit arbeitet sich im Kampf und durch den Kampf entgegengesetzter Kräfte auf ein höheres Niveau. So auch in der Philosophie. Sokrates untersuchte den Menschen und rückte die Gesellschaft in den Mittelpunkt. Er und die Idealisten waren damit die Pioniere der wissenschaftlichen Erforschung der Gesellschaft und der Politik. Und ihr Fokus aufs Denken machte sie zu Meistern der Untersuchung des menschlichen Denkens und dessen Gesetzmässigkeiten: der Logik, die von Aristoteles zuerst systematisch ausgearbeitet wurde. Auf dialektische Weise trugen sie damit zweifellos zum Fortschritt bei. Die Idealisten entwickelten gerade dank ihres verkehrten und einseitigen Fokus auf die Ideen das, was der damalige unreife Materialismus mit seinem einseitigen Fokus auf die Natur zu entwickeln noch nicht vermochte.
Der Idealismus siegte in der griechischen Philosophie, weil er sich auf die mächtige herrschende Klasse der Sklavenaristokratie stützen konnte. In seiner Verbindung mit der christlichen Religion wurde er zur dominierenden Kraft Europas für die ganze Epoche des Mittelalters. Der Materialismus erlebte erst mit der Renaissance und dem Anbruch der bürgerlichen Gesellschaft seine Wiedergeburt auf höherer Ebene; wiederum als ideologischer Ausdruck einer neuen aufstrebenden, revolutionären Klasse von bürgerlichen Händlern und Handwerkern. Und wiederum wird es die beste Tradition des Idealismus sein, die sich den Schwächen und Einseitigkeiten des bürgerlichen Materialismus annimmt und damit dem Materialismus der nächsten aufstrebenden Klasse – dem Proletariat – den Boden bereiten wird: dem dialektischen Materialismus von Marx und Engels, der höchsten Blüte der gesamten Entwicklung der Philosophie.
Im Kapitalismus in seiner Phase des Niedergangs braucht die Arbeiterklasse, und insbesondere ihre Speerspitze von bewussten und organisierten RevolutionärInnen, die Waffe des dialektischen Materialismus. Nur mit felsenfester ideologischer Klarheit ist der Kampf gegen die Bourgeoisie und ihren Idealismus zu gewinnen, die heute jede fortschrittliche Kraft verloren haben und einzig und alleine reaktionär geworden sind. Was den dialektischen Materialismus zum ersten konsequenten Materialismus macht, werden wir in einem nächsten Teil anschauen.
Martin Kohler für die Redaktion
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