Millionen suchen in Figuren wie Jean-Luc Mélenchon mit seiner France Insoumise und Jeremy Corbyn und seiner «Your Party»-Partei eine Alternative zum Status Quo. Als Kommunisten dürfen wir keine Illusionen in diese reformistischen Formationen haben – aber sie einfach abzuschreiben, wäre genauso falsch. Wie verhalten sich Kommunisten zum Reformismus?

Zohran Mamdani kandidiert im Herzen der Wall Street als Sozialist für das Amt des New Yorker Bürgermeisters. Er verspricht Mietendeckel, kostenlose Kinderkrippen und öffentlichen Verkehr. 50’000 Freiwillige unterstützen begeistert seine Kampagne.

Zur selben Zeit haben Jeremy Corbyn und Zarah Sultana in Grossbritannien die Gründung einer neuen Partei angekündigt. Sie soll mit der Kürzungspolitik der Labour-Party brechen und stellt offen die Frage nach «Sozialismus oder Barbarei». Innerhalb von 24 Stunden meldeten sich 500’000 Interessierte. Heute sind es bereits über 800’000.

Das zeigt: Was wir heute erleben, ist alles andere als ein allgemeiner «Rechtsruck», sondern ein Radikalisierungsprozess, der sich als Polarisierung ausdrückt. Wir richten hier den Blick auf die linke Seite, am Beispiel Jean-Luc Mélenchons.

In Frankreich sind die traditionellen Parteien wie die Parti Socialiste völlig diskreditiert, weil sie die Krisenlast jahrzehntelang auf die Arbeiterklasse abgewälzt haben. Vor diesem Hintergrund gründete Melenchon 2016 die France Insoumise und konnte, zumindest zum Teil, dem Unmut, der sich angestaut hatte, einen Ausdruck verleihen. Er tritt deutlich linker auf als die französische SP und KP, die die Krise mitverwalteten und nach rechts rutschten.

Mélenchons Programm

Das Programm der France Insoumise (FI) enthält absolut korrekte Forderungen: höhere Mindestlöhne, Koppelung der Löhne an die Inflation, Investitionen in Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, die echte Verbesserungen für die Arbeiter und Jugend darstellen.

Kommunisten sind nicht gegen Reformen. Wir verteidigen jede Massnahme, die das Leben der Arbeiterklasse verbessert. Aber wir bekämpfen den Reformismus – das Schüren von Illusionen, dass Reformen umgesetzt und aufrechterhalten werden können, ohne mit dem Kapitalismus zu brechen. Entscheidend ist die Frage, wie solche Forderungen realisiert werden können und wer dafür bezahlt.

In Boomphasen des Kapitalismus lassen sich Reformen (relativ) leicht erkämpfen. Doch die Lage hat sich grundlegend geändert. Der Kapitalismus steckt in seiner tiefsten Krise, ganz besonders der französische. Im globalen Wettbewerb wurde Frankreich zurückgedrängt. Die herrschende Klasse hat über Jahrzehnte versucht, den Niedergang durch massive Verschuldung zu kaschieren. Heute lastet ein riesiger Schuldenberg auf dem Land. Allein die Zinszahlungen für 2025 belaufen sich auf über 66 Milliarden Euro, was mehr ist als das nationale Bildungsbudget.

Entweder – oder

Das Programm der FI steht in direktem Widerspruch zu den Interessen der französischen Bourgeoisie und den Notwendigkeiten des französischen Kapitalismus. Die FI rechnet mit rund 250 Milliarden Euro Mehrausgaben pro Jahr für die Sozialreformen, die sie anstrebt. Der Kapitalismus verlangt das exakte Gegenteil – einen brutalen, harten Sparkurs, auf Kosten der Arbeiter, der Jugend und der Armen.

Würde Mélenchon zum Präsident Frankreichs gewählt werden, würden die Kapitalisten sich – Demokratie hin oder her! – niemals Mélenchons Entscheidungen unterwerfen. Sie würden mit ihrem Kapital abhauen und Mélenchon wirtschaftlich sabotieren. Der härteste Druck der Kapitalisten würde auf internationaler Ebene aufgebaut werden.

In einer solchen Situation gibt es genau zwei Wege, und keinen Mittelweg. Entweder man unterwirft sich den Kapitalisten und verrät das eigene Programm, oder man entreisst der Bourgeoisie die Mittel zur Sabotage, enteignet die Grosskapitalisten und verstaatlicht die Schaltstellen der Wirtschaft und die Banken – kurz: man geht entschieden und rücksichtslos den Weg der Revolution.

Spätestens an diesem Punkt scheitern die Reformisten und verraten ihre eigenen Forderungen und die Hoffnungen, die sie bei den Arbeitern geweckt haben. Denn sie sind einerseits nicht bereit, wirklich mit dem Kapitalismus zu brechen und das heilige Privateigentum der Kapitalisten anzutasten. Und sie knicken andererseits ein, weil sie kein Vertrauen in die Arbeiterklasse haben.

Arbeiter an die Macht

Die Arbeiterklasse ist die einzige Kraft, die dazu fähig ist, die Kapitalisten zu enteignen und ihr die Macht zu entreissen. Denn ohne die Zustimmung der Lohnabhängigen, heute die erdrückende Mehrheit der Gesellschaft, leuchtet keine Glühbirne und dreht sich kein Rad. Diese Klasse hat potenziell alle Macht der Welt in ihren Händen.

In letzter Zeit sahen wir grosse Mobilisierungen der französischen Arbeiterklasse (Gilet Jaunes 2018, Kämpfe gegen die Rentenreform 2019/20 und 2023). Das zeigt genau den Weg vorwärts: Die Arbeiterklasse kann nur auf ihre eigene Kraft setzen, um Verbesserungen zu erkämpfen. Mélenchon stand dabei wiederholt abseits, unter dem Vorwand, die Bewegungen nicht «vereinnahmen» zu wollen.

Aber Ehre, wem Ehre gebührt. Nun unterstützt Mélenchon die «Bloquons tout»-Bewegung rund um den 10. September, fordert die Gewerkschaftsführung zum Generalstreik auf und ruft zum Sturz Macrons auf. Das ist ein klarer Schritt nach links, den wir unterstützen. Das Problem liegt heute nicht darin, was Mélenchon sagt, sondern in dem, was er nicht sagt. Die Frage ist: Was kommt nach Macrons Sturz?

Keine Regierung der Kapitalisten, egal mit welchen Köpfen an der Spitze, wird je die Probleme der französischen Arbeiter lösen können. Nur eine Arbeiterregierung kann die Sparpolitik wirklich beenden und die Forderungen der «Bloquons tout»-Bewegung erfüllen.

Diese – alles entscheidende – Leerstelle in Mélenchons Agitation ist symptomatisch. Auch Reformisten können den Klassenkampf anerkennen. Aber nur die revolutionären Kommunisten verstehen, dass die Machtübernahme durch die Arbeiterklasse der einzige Weg vorwärts für die Menschheit darstellt. Kein Reformist, egal wie links und radikal, traut der Arbeiterklasse zu, den Staat der Kapitalisten zu stürzen, einen eigenen revolutionären Rätestaat aufzubauen und schlussendlich die ganze Gesellschaft entlang sozialistischer Prinzipien neu aufzubauen.

Aus diesen Gründen haben wir keine Illusionen in Mélenchon oder andere Reformisten. Aber damit endet die Arbeit der Kommunisten nicht, sondern hier beginnt sie erst.

Gefahr des Sektierertums

Es ist eine Realität, dass viele Arbeiter Illusionen in Reformisten wie Mélenchon haben. Darum müssen wir die Frage beantworten können: Wie gewinnen wir die nächsten Schichten, die noch keine revolutionären Kommunisten sind?

Sehen wir, wie man es nicht machen sollte.

Lutte Ouvrière (LO), eine «marxistische» Partei in Frankreich, schreibt zum 10. September: «Weder der RN noch die Linke wollen sich mit den grossen Patrons anlegen und sie zwingen, das Geld zurückzugeben, das sie sich aus den Staatskassen genommen haben. Keiner will sie dazu zwingen, ihren Würgegriff auf die Arbeitnehmer zu lockern und ihnen Lohnerhöhungen oder Neueinstellungen aufzuerlegen.»

Übersetzt heisst das: «Ob Le Pen oder Mélenchon – alles dasselbe, alles Verräter!» Das ist die sprichwörtliche Nacht, in der alle Kühe grau sind!

Diese ultra-abstrakte Gleichsetzung verwischt den entscheidenden Unterschied: Le Pen ist eine bürgerliche Demagogin an der Spitze einer kapitalistischen Partei, die sich von der aktuellen Bewegung fernhält; Mélenchon hingegen vertritt ein Programm, das den Interessen der Kapitalisten diametral entgegensteht und dessen Verwirklichung das Leben der Arbeiter und der Jugend wirklich verbessern würde und stützt sich auf die «Bloquons tout»-Bewegung.

Abstrakte Schablonen bringen uns wenig. Kommunisten müssen den Klassenkampf im Fluss seiner Bewegung verstehen. Mit der «Bloquons tout»-Bewegung versucht die Arbeiterklasse, die von der Gewerkschaftsführung gesetzten Schranken zu durchbrechen und Macron zu stürzen. Das ist keine ausgereifte sozialistische Revolution und es gibt (wie könnte es anders sein!) Illusionen in Mélenchon, die Gewerkschaftsführung, den RN und den Kapitalismus. Aber es ist eine fortschrittliche Entwicklung – und Mélenchon bringt Slogans in diese Bewegung, die absolut korrekt sind und Schritte nach vorne darstellen.

Schauen wir die Welt durch die Augen eines Arbeiters an, der Teil dieser Bewegung ist. Mélenchon schlägt vor, was es braucht und setzt korrekterweise die Gewerkschaftsführung unter Druck, und die «Marxisten» kommen und … denunzieren ihn als Verräter und setzen ihn mit Le Pen gleich! Das ist ein fertiges Rezept, um sich von der Bewegung zu isolieren.

Unsere Aufgabe ist es, am Bewusstseinsstand der Massen anzuknüpfen und das fertige Programm der Kommunisten mit dem unfertigen Bewusstsein zu vermitteln: Fortschrittliches hervorheben; klar benennen, was fehlt; und Fehler der Reformisten offen kritisieren. «Ein Generalstreik ist gut, der Sturz Macrons noch besser. Aber was dann? Eine Arbeiterregierung muss Macron ersetzen!» So begleiten wir den Erfahrungsprozess und helfen, Illusionen in den Reformismus zu überwinden.

Aufgaben der Kommunisten heute

Phänomene wie Mélenchon, Corbyn oder Mamdani werden nicht verschwinden in der nächsten Periode, ebenso wenig explosive soziale Bewegungen wie diejenige heute in Frankreich. Sie alle sind Ausdruck der Suche der Massen nach einem Ausweg aus der Krise des Kapitalismus.

Solche Figuren und Parteien werden so lange eine Rolle spielen, wie nicht eine echte marxistische, kommunistische Partei den Reformisten den Rang streitig machen kann: eine Partei, die den Massen, auf der Basis ihrer eigenen Erfahrungen hilft, ihre Illusionen in den Reformismus abzulegen und die erklären kann, dass die Machtübernahme der Arbeiter die einzige Lösung darstellt.

Heute sind wir Marxisten noch viel zu klein. Wir boxen noch nicht in der gleichen Gewichtsklasse wie Mélenchon und Co. Wir müssen wachsen, so schnell wie möglich. Das ist die wichtigste Aufgabe.

Aber wir müssen auch bereits heute lernen, mit reformistischen Arbeitern in einen Dialog zu treten. Wir bilden uns aus mithilfe der Theorie des Marxismus, also durch die Lektionen aus vergangenen Kämpfen, aber auch, indem wir entsprechend unseren Kräften in den lebendigen Bewegungen intervenieren.

Beides geht nur als Teil einer revolutionären kommunistischen Partei.