Der militante Islamismus hält die Welt in Atem und zählt heute als grösste politische Bedrohung. Mario Wassilikos beschreibt den Ursprung und die Ideologie dieser reaktionären politischen Strömung.
Der Islamismus, der politische Islam, wird uns meist als eine gegen den Westen gerichtete Kraft präsentiert. In Wirklichkeit ist er jedoch ein Produkt und Folge des Imperialismus. Er entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Gesellschaften mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung, die unter britischer oder französischer Herrschaft bzw. Kontrolle standen. Die Führung dieser Bewegung stammte in der Regel aus den traditionsverbundenen Mittel- und Oberschichten, die die Unterdrückung, Bevormundung und wirtschaftliche Unterordnung unter die imperialistischen Grossmächte nicht länger dulden wollten. Das ist auch heute noch so. Gleichzeitig bekämpften sie auch die Kollaboration von Teilen der einheimischen Eliten mit dem Imperialismus. Auf Basis ihrer Traditionsverbundenheit lautete ihr Motto: „Der Islam ist die Lösung!“ Das Ziel ist die Errichtung einer unabhängigen muslimischen Gesellschaft, in der die Scharia (islamisches Recht) gilt. Dabei gibt es jedoch ganz unterschiedliche Vorstellungen bezüglich der Auslegung der Scharia. Die führenden Theoretiker des politischen Islam waren die Ägypter Hasan al-Banna und Sayyid Qutb, deren Vorstellungen die meisten islamistischen Organisationen und Parteien noch heute prägen. Sie propagierten, dass die muslimischen Gesellschaften in die Dschahiliyya, die Zeit des „Heidentums“ und der „Unwissenheit“, also in vorislamische Zustände, zurückgefallen seien. Laut Qutb habe diese schon nach der Ära des Propheten Mohammed und seiner vier ersten Nachfolger begonnen. Damit werden fast 14 Jahrhunderte islamischer Geschichte negiert. Selbstreinigung, Befreiung von den Traditionen der dschahilitischen Gesellschaft, Rückbesinnung auf den Koran und die höchste Autorität Gottes seien die Mittel zur Überwindung dieses Zeitalters, die Instrumente zur Rückkehr zum „wahren Islam“. Laut al-Banna und Qutb solle dabei eine ausgebildete religiöse Avantgarde die Führungsrolle spielen, die auch für die Dawa, die Verbreitung des Islam, verantwortlich sein müsse. In diesem Zusammenhang forderten sie die Einheit der Umma (Gemeinschaft der Muslime), die Eliminierung des Parteiwesens, das die Gesellschaft spalte, sowie die Auslöschung von Korruption und Günstlingswirtschaft. Als Vorbild dafür dienten die idealisierten as-Salaf as-Salih (rechtschaffene, fromme Vorfahren), die ersten drei Generationen von Muslimen, die im unmittelbaren Kontakt zu Mohammed und seinen Nachfolgern standen. Nur so könne laut al-Banna und Qutb ein „wahrer“ islamischer Staat entstehen. In ihm sollen sich alle Gesetze und Handlungen von Koran und Sunna (überlieferte Handlungsweise des Propheten Mohammed) ableiten. Regierung, Verwaltung und Militär müssen in den Händen einer religiös gebildeten männlichen Elite sein. Frauen werden auf ihre „gottgewollten“ Reproduktionsaufgaben beschränkt und stehen unter der Vormundschaft des Mannes. Höchste Autorität hat in diesem Staat nur Gott, also seine obersten Vertreter auf Erden, allein.
Die 1928 in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft ist die älteste noch heute existierende politische Organisation, die diese Ideen vertritt. 1941 folgte die in Britisch-Indien gegründete Islamische Gemeinschaft (Jammat-e-Islami), eine noch heute besonders in Pakistan und Bangladesch hochaktive elitäre Kaderpartei, getragen von Teilen der dortigen oberen Mittelschicht und Bourgeoisie. Sie hat eine starke Anhängerschaft in Polizei, Militär und Verwaltung. Gegründet wurde sie von Sayyid Abu Al-Ala Maududi, dessen Ideen vor allem im indomuslimischen Raum noch heute präsent sind. Inspiriert von der Muslimbruderschaft propagierte er, dass der gegenwärtige Islam von verderblichen westlichen Vorstellungen gereinigt werden müsse. Das Ziel ist ein vom westlichen Imperialismus befreiter islamischer Gottesstaat, in dem ein gegen die Scharia regierender Herrscher vom Volk abgesetzt werden können muss. Das Mittel zur Erreichung dieses Staatswesens ist der militärische Dschihad (Heiliger Krieg), dem alles untergeordnet wird. Sogar die Fünf Säulen des Islam, die islamischen Glaubensgrundlagen, dienen laut Maududi nur zur Vorbereitung auf ihn.
Kein Islamismus ohne Imperialismus
Trotz einiger progressiver Elemente, wie des professionellen Einsatzes moderner Technik oder der Kritik am religiösen Deutungsmonopol der ulama (traditionelle Gelehrtenschaft), ist der Islamismus höchst reaktionär. Sein konterrevolutionärer Charakter entblösst sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs überaus deutlich. Im Zeitalter der von den Massen getragenen Entkolonialisierungs- und nationalen Befreiungsbewegungen, in denen sozialistisch geprägte Ideologien dominierten, verlor er immer mehr an Einfluss und Rückhalt in der Bevölkerung. Die in diesem Zusammenhang in den 1950er, 60er und 70er Jahren entstandenen, von einer progressiven Elite aus Militär und Verwaltung geführten Staatswesen in Ägypten, Syrien, Jemen, Somalia, Äthiopien und anderen muslimischen Gesellschaften wendeten sich gegen den westlichen Imperialismus, trennten Staat und Religion, führten Verstaatlichungen und soziale Reformprogramme zugunsten der Massen und zulasten der alten herrschenden Klassen durch. Das brachte sie in Konflikt mit dem Islamismus. In diesem politischen Machtkampf kam es auf Basis eines gemeinsamen Feindes zur unheiligen Allianz zwischen den islamistischen Gruppen und dem US-Imperialismus. Die USA boten den Islamisten Geld und die damit verbundene Macht an, dafür sollten sie die sozialistisch orientierten antiimperialistischen Regierungen und Massenbewegungen in den islamischen Teilen der Welt bekämpfen. In diesem Zusammenhang kam es auf Betreiben des US-Aussenministers John Foster Dulles in den 1950er Jahren zum Beschluss eines CIA-Programms, das die Ausbildung, Finanzierung und Unterstützung islamistischer Organisationen beinhaltete. So wurde der politische Islam ein Instrument des US-Imperialismus. In Ägypten bekämpfte die Muslimbruderschaft das Regime Gamal Abdel Nassers, in Indonesien beteiligte sich die Islamische Vereinigung 1965/66 an den von General Suharto befehligten Massenmorden an Mitgliedern und Sympathisanten der Kommunistischen Partei Indonesiens, im Bangladesch-Krieg von 1971 unterstützte die von Maududi gegründete Islamische Gemeinschaft das pakistanische Militär bei der Ermordung von Aktivisten der Awami-Liga und anderer linker Organisationen, die für die Unabhängigkeit des heutigen Bangladesch kämpften, um nur einige Beispiele zu nennen.
1978 begann die grösste CIA-Operation zum Aufbau islamistischer Gruppen. Nach der Saur-Revolution in Afghanistan, in der der Diktator Mohammed Daoud Khan durch das Militär abgesetzt und hingerichtet worden war, übernahm die Demokratische Volkspartei Afghanistans dort die Macht. Mittels Bodenreformen und weiterer Massnahmen wollte sie Afghanistan zu einem modernen sozialistischen Staat entwickeln. Die enteigneten Grossgrundbesitzer und die muslimische Gelehrtenschaft verbündeten sich dagegen. Unterstützt wurden sie von den Mudschaheddin („diejenigen, die den Heiligen Kampf betreiben“), die gegen die von der Sowjetunion militärisch unterstützte Regierung kämpften. Aufgebaut, ausgebildet und finanziert wurden sie von der CIA und den Geheimdiensten der US-Verbündeten Pakistan und Saudi Arabien. Zu diesem Zweck rekrutierten sie fanatische Islamisten aus der ganzen islamischen Welt, besonders aus dem Nahen und Mittleren Osten. Mehr als 32 Milliarden US-Dollar gaben die USA dafür aus. In diesem Zusammenhang investierten sie unter anderem mehrere Millionen Dollar in militante Lehrbücher. Mittels dieser Bücher, die mit gewalttätigen Bildern, militanten islamistischen Lehren und aus dem Zusammenhang gerissenen Koranversen gefüllt waren, wurde den afghanischen Schulkindern die Lehre vom Heiligen Krieg nahegebracht, um sie für den Kampf gegen den „gottlosen“ Kommunismus zu gewinnen. Über Pakistan verbreiteten sich diese Werke auch in andere Teile der islamischen Welt. Damit wurde der Grundstein für die spätere Terrorherrschaft der Taliban und den heutigen internationalen islamistischen Terrorismus gelegt.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wendeten sich die ehemaligen Verbündeten der USA gegen sie. Mit dem Ziel, die islamische Welt vom „gottlosen“ US-Imperialismus zu befreien, wurden seit 1993 gezielte Terroranschläge durchgeführt. Federführend war dabei das global operierende Terror-Netzwerk Al-Qaida, gegründet und angeführt vom 2011 ermordeten Osama bin Laden, Spross einer mit dem saudischen Königshaus verbundenen, superreichen Unternehmerfamilie und massgeblich finanziell sowie organisatorisch am Aufbau der Mudschaheddin in Afghanistan beteiligt. Erster Höhepunkt waren die Anschläge vom 11. September 2001. Weitere waren die in Madrid 2004 und London 2005. Bis 2010 folgten dutzende weitere Anschläge auf die Einrichtungen der USA und ihrer Verbündeten, besonders im seit der Intervention der USA und ihrer Alliierten politisch völlig destabilisierten Irak, seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 ein Hauptoperations- und Rekrutierungsgebiet des islamistischen Terrorismus. Im Zusammenhang mit dem Arabischen Frühling entstanden seit 2011 unzählige andere islamistische Gruppierungen und Netzwerke. Einige von ihnen weisen keinen Bezug zur Al-Qaida auf, andere, wie der IS (Islamischer Staat) oder die Al-Nusra-Front, sind selbstständig gewordene Filialen der Al-Qaida. In diesem Zusammenhang zeigt sich wieder die Teile-und-herrsche-Strategie des US-Imperialismus. Solange der IS seinen Kampf hauptsächlich gegen das von den USA gehasste Assad-Regime führte, wurden er und andere in Syrien kämpfende islamistische Organisationen von der CIA und den US-Verbündeten Türkei und Saudi Arabien unterstützt. Seitdem die nordirakischen Ölfelder in seinen Händen sind und damit die Profitinteressen des US-Imperialismus gefährdet werden, ist er eine „globale Gefahr“ für die „freie Welt“.
Wie man an seiner Entstehungsgeschichte sehr gut sehen kann, ist der Islamismus mit seinem Kampf gegen sozialrevolutionäre Bewegungen die Speerspitze der Reaktion und Konterrevolution. Er ist der Feind der ArbeiterInnen und Armen. So tritt die seit Ende 2013 in Ägypten verbotene, von den Muslimbrüdern gegründete Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, die mit Mohammed Mursi von Juni 2012 bis Juli 2013 den ägyptischen Staatspräsidenten stellte, für die freie Marktwirtschaft, Kapitalismus und Profitstreben ein. Dies alles sei „von Gott gewollt“ und stehe im Einklang mit den islamischen Glaubensgrundlagen. In Afghanistan und Pakistan vertreten die Taliban die Interessen der Stammesführer und Grossgrundbesitzer. Im iranischen Gottesstaat, der das Produkt der revolutionär-islamistischen Schia ist, wird seit 2001 kräftig privatisiert. In Syrien und im Irak bekleiden die Dschihadisten vom IS in den von ihm beherrschten Gebieten die Führungsebenen in Militär, Verwaltung, Religion, der Erdölindustrie und den lokalen Gewerbebetrieben. Sie beuten menschliche Arbeitskraft in Form von Lohnarbeit, Steuern und Zwangsarbeit für „Ungläubige“ aus. Ist der Islamismus an der Macht, reproduziert er also nur Klassengesellschaft und kapitalistische, manchmal auch feudale Strukturen. Seine Kapitalismuskritik, falls überhaupt vorhanden, greift nicht das Produktionssystem an sich an. Auf reaktionäre und oberflächliche Art und Weise beklagt er nur einen „Werteverlust“. In diesem Zusammenhang fordert er Mildtätigkeit und Almosengabe. Die Klassenstruktur der Gesellschaft wird jedoch nicht infrage gestellt. Er ist daher im Kern nichts anderes als die Herrschaftsideologie einer sich als rechtgläubig definierenden sozialen Gruppe aus den Mittel- und Oberschichten. Diese vertritt die Interessen reaktionärer Eliten bzw. strebt an, selbst die gesellschaftliche Elite zu werden. Dabei schreckt sie nicht einmal davor zurück, sich vom Imperialismus instrumentalisieren zu lassen. Im Kampf um Macht verkommt ihr Antiimperialismus daher nur zur hohlen Phrase, die dazu dient, die Besitzlosen und Unterschichten für sich zu mobilisieren. Zwar wendet sich der Islamismus phasenweise gegen den Imperialismus, wenn das seine Interessen fördert. Sobald es ihm dienlich ist, will er jedoch ein Bündnis mit ihm eingehen, wie z. B. das Verhältnis zwischen Iran und USA zeigt. Dasselbe gilt auch für den Imperialismus. Imperialismus und Islamismus sind also auf das Engste miteinander verbunden.
Was tun?
Um den Islamismus besiegen zu können, müssen seine sozialen und ökonomischen Ursachen beseitigt werden. Armut, Ausbeutung, Perspektivlosigkeit sind die Hauptmotive, die die Menschen zu ihm hintreiben, wie die Propaganda vom IS zeigt, der vor allem mit der Aussicht auf ein geregeltes Einkommen lockt. Daher muss in den betroffenen Regionen die Wirtschaft so entwickelt werden, dass sie den Menschen, die dort leben, dient. Dazu muss die Ökonomie von der Profitlogik der dort herrschenden westlichen Konzerne, die von korrupten lokalen Eliten unterstützt werden, befreit werden. Die Ressourcen dieser Regionen, die oft sehr rohstoffreich sind, müssen endlich dafür verwendet werden, eine moderne Infrastruktur zu installieren, ausreichend Wohnraum für alle zu schaffen sowie ein gutes Gesundheits- und Bildungssystem zu errichten.
Zu diesem Zweck ist es unsere Aufgabe in diesen Ländern den Aufbau einer starken ArbeiterInnenbewegung mit einem antikapitalistischen und antiimperialistischen Programm zu unterstützen. Das Beispiel der pakistanischen MarxistInnen (siehe unten) zeigt, dass es auch in islamischen Ländern möglich ist eine revolutionäre Alternative aufzubauen.
Finanzielle Unterstützung in Form von Spendenkampagnen sind dabei ein wichtiges Mittel, wie wir deren Arbeit erleichtern können. Wie diese GenossInnen jedoch nicht müde werden zu betonen, ist die grösste Hilfe für sie, wenn wir in unseren eigenen Ländern den Kapitalismus und Imperialismus bekämpfen.
Eine Politik, die alle Muslime auf rassistische Art und Weise unter Generalverdacht stellt, ist nur dazu da, die herrschende Ordnung zu zementieren. Mit islamfeindlichen Gesetzen (z.B. Kopftuchverbot) ist dem Phänomen des politischen Islam nicht beizukommen. Eine solche Politik führt einerseits zu einer Spaltung der Lohnabhängigen entlang von religiösen, ethnischen, nationalen etc. Kategorien, die dem Kapital die Durchsetzung arbeitnehmerfeindlicher Massnahmen enorm erleichtert. Andererseits kann das zu einer weiteren Stärkung des Islamismus führen, da die im Westen diskriminierten Muslime in den antiwestlichen Phrasen der Imame den einzigen Ausweg sehen. Schon jetzt haben sich bereits hunderte vor allem junge muslimische Männer und Frauen aus ganz Europa, die von Niedriglöhnen, Arbeitslosigkeit, Alltagsrassismus und Perspektivlosigkeit betroffen sind, den militanten Islamisten des IS angeschlossen. In diesem Zusammenhang muss die Linke gemeinsam mit muslimischen ArbeiterInnen und Jugendlichen gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen. Dabei darf sie sich nicht scheuen, die tatsächlichen materiellen Interessen und die verlogene Phrasendrescherei des Islamismus sowie seine Verbindungen zum Imperialismus zu thematisieren. Im konkreten Klassenkampf in den Betrieben, Schulen und Stadtvierteln gilt es den muslimischen ArbeiterInnen und Jugendlichen eine Alternative zur Sackgasse Kapitalismus aufzuzeigen. Im Kampf für ein Paradies auf Erden werden sich die trostspendenden Predigten von einem Paradies im Jenseits schnell ihre Wirkung verlieren. Der Kampf gegen Islamismus und Imperialismus ist untrennbar miteinander verbunden.
Arbeiterbewegung — von Martin Kohler, Bern — 10. 10. 2024
Nah-Ost — von Revolutionäre Kommunistische Internationale (RKI) — 09. 10. 2024
Imperialismus, Kolonialismus & Nationale Frage — von Jorge Martín, April 2024 — 03. 10. 2024