Hundertausende Jahre lebten die Menschen ganz ohne Privateigentum, Klassen, Staaten oder irgendwelche anderen Elemente der Klassengesellschaft. Dennoch will man uns glauben lassen, dass die Aufteilung in Klassen die allgemeingültige Verfassung menschlicher Existenz ist. Josh Holroyd und Laurie O´Connel erklären in diesem Artikel, dass die moderne Archäologie eine Fülle an Beweismaterial hervorbrachte, welches bestätigt, dass die Entstehung der Klassengesellschaft eine relativ neue Entwicklung der Menschheitsgeschichte ist. Und genauso wie sie ab einem gewissen Punkt entstanden ist, verstehen wir als MarxistInnen, dass sie letzten Endes auch wieder untergehen muss.
Wenn wir uns die heutige Welt vor Augen führen und sehen, wie Milliarden Menschen in Ausbeutung und Unterdrückung leben, könnten wir dem Irrtum aufsitzen, dass dieser Schrecken die Menschheit seit jeher begleitet. Über Jahrtausende haben uns Könige, Philosophen und Priester weisgemacht, es liege in der Natur des Menschen, dass wir zu leiden haben. Ein ernsthaftes Studium unserer fernen Vergangenheit beweist jedoch das exakte Gegenteil. Die längste Zeit ihrer Existenz lebten die Menschen in kommunistisch organisierten Gruppen von Jägern und Sammlern, ohne Herren über ihnen. Diese Tatsache widerlegt die gesamte Weltanschauung derjenigen, die die heutige Ordnung verteidigen. Aus ebendiesem Grund ignorieren bürgerliche HistorikerInnen und PhilosophInnen gerne das Thema. Diejenigen, die sich dieser Debatte stellen, erklären die Ursprünge der Ungleichheit damit, dass Gier und Unterdrückung Teil der „Natur des Menschen“ seien. Wir sollten solche Aussagen als das erkennen, was sie sind: die Verabsolutierung der kapitalistischen Moral und ihre Übertragung auf die ganze Menschheitsgeschichte. In Wirklichkeit ist, wie Marx in seinem Buch Das Elend der Philosophie schreibt, „die ganze Geschichte nur eine fortgesetzte Umwandlung der menschlichen Natur.“[1]
Wenn wir eine wissenschaftliche Herangehensweise an die Frage der Entwicklung der Gesellschaft wählen, dann dürfen wir das Entstehen der Klassengesellschaft nicht als einen unglücklichen Zufall und auch nicht als das Erwachen einer bislang schlummernden, übergeschichtlichen „menschlichen Natur“ begreifen, sondern als notwendige Stufe in der Entwicklung der Gesellschaft, die das Ergebnis der vielleicht größten Revolution der Produktivkräfte war. Das ist keineswegs eine rein akademische Frage. Indem wir die Entstehung der Klassengesellschaft verstehen, können wir auch den wirklichen Charakter ihrer Institutionen begreifen und die Mittel zu ihrer Überwindung entdecken.
Marx legte dar, dass das grundlegendste Kennzeichen einer jeden Gesellschaft das Verhältnis des Menschen zur Natur ist. Dabei handelt es sich nicht um irgendein abstraktes Ideal, sondern um die sehr pragmatische Anerkennung der Tatsache, dass der Mensch zu seinem Überleben immer schon auf Ressourcen angewiesen war, die er in seiner Umwelt vorfand.
Unser Verhältnis zur natürlichen Welt wird von der gesellschaftlich verrichteten Arbeit bestimmt. Durch diesen Prozess gewinnen wir Ressourcen und generieren die notwendigen Nahrungsmittel. Der Mensch musste immer schon arbeiten, um überleben zu können, wie Marx betonte:
„Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit daher eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln.“[2]
Arbeit war also während der gesamten Menschheitsgeschichte eine Grundvoraussetzung menschlicher Existenz, doch die Art und Weise, wie die Menschen arbeiteten und welche Bedürfnisse sie zu befriedigen versuchten, haben sich mit der Zeit stark verändert. Über Millionen von Jahren hat die Menschheit Werkzeuge und Techniken entwickelt, um die eigenen Ziele besser erreichen zu können. Doch die Entwicklung der Mittel zur Befriedigung selbst unserer grundlegendsten Bedürfnisse führt zwangsläufig zur Schaffung neuer Bedürfnisse, neuer gesellschaftlicher Verhältnisse und völlig neuer Lebensweisen. Diese ununterbrochene Interaktion war entscheidend für unsere eigene Entwicklung – ob wir als Nomaden lebten oder sesshaft wurden, ob wir ganzjährig arbeiteten oder nur zu gewissen Jahreszeiten. Das wirkte sich auch auf unsere Physiologie und unsere Evolution aus. Wir können also sagen, dass wir, indem wir unsere Umwelt verändern, auch uns selbst verändern. Das ist die Grundlage jeden menschlichen Fortschritts.
Dieses grundlegende Prinzip des historischen Materialismus fasste Friedrich Engels in seiner Trauerrede am Grab von Karl Marx folgendermaßen zusammen:
„Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, daß die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; daß also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, und aus der sie daher auch erklärt werden müssen.“[3]
Im Kapital Band 1 schreibt Marx: „Der Gebrauch und die Schöpfung von Arbeitsmitteln, obgleich im Keim schon gewissen Tierarten eigen, charakterisieren den spezifisch menschlichen Arbeitsprozeß.“[4] Die Archäologie liefert dafür genügend Beweise aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte. Einige unserer frühesten homininen Vorfahren, der Homo habilis und der Homo ergaster, fertigten bereits Steinwerkzeuge an. Der Oldowan-Komplex, der in der Olduvai-Schlucht in Tansania entdeckt wurde, wird auf ein Alter von rund 2,6 Millionen Jahre datiert. In der Altsteinzeit (bis ca. 10.000 v.Chr.) entstand ein prähistorischer Technokomplex nach dem anderen – Acheuléen, Moustérien, Châtelperronien usw. Entsprechend der Herstellung der Werkzeuge dieser Kulturen können wir wichtige Rückschlüsse auf die Entwicklung von menschlichem Bewusstsein und komplexem Denken ziehen. Im Allgemeinen können wir sagen, dass jedes Werkzeug symmetrischer ist als das vorangegangene und mehr Vorausplanung benötigte, was die Entwicklung des Gehirns des modernen Menschen auf neue Höhen führte.
Diese Erkenntnisse liefern eine wichtige Bestätigung der materialistischen Methode, weshalb auch nichtmarxistische ArchäologInnen gezwungen sind, die Vergangenheit gemäß der in jedem Zeitalter vorherrschenden materiellen Kultur zu periodisieren. Es ist kein Zufall, dass wir vom Paläolithikum („Altsteinzeit“ in Anlehnung an das altgriechische Wort „lithos“ für Stein), Mesolithikum („Mittelsteinzeit“), Neolithikum („Jungsteinzeit“), Bronzezeit und Eisenzeit sprechen. Diese Bezeichnungen beziehen sich auf das Material, mit dem die Werkzeuge hergestellt wurden, die in der jeweiligen Epoche für die Produktion von besonderer Bedeutung waren. Marx schreib dazu im Kapital Band 1:
„Dieselbe Wichtigkeit, welche der Bau von Knochenreliquien für die Erkenntnis der Organisation untergegangner Tiergeschlechter, haben Reliquien von Arbeitsmitteln für die Beurteilung untergegangner ökonomischer Gesellschaftsformationen. Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen. Die Arbeitsmittel sind nicht nur Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird.“[5]
Diese im Grunde simple, aber doch revolutionäre Idee wird in der akademischen Welt durchaus nicht von allen akzeptiert. In Wirklichkeit stößt dieses grundlegende Prinzip des historischen Materialismus an den Universitäten auf eine ähnliche Ablehnung wie einst Darwins Theorie der natürlichen Auslese in den Viktorianischen Salons.
Deshalb hinkt die heutige akademische Welt auf diesem Gebiet sogar den antiken griechischen Philosophen hinterher. Sowohl Plato als auch Aristoteles erkannten die Tatsache an, dass es eine materielle Grundlage für ihre Mußezeit gab. Wie Aristoteles in seiner Metaphysik schreibt, konnte sich die Wissenschaft dort entwickeln, wo Menschen über ausreichend Freizeit verfügten: „Deshalb bildeten sich in Ägypten zuerst die mathematischen Künste (Wissenschaften) aus, weil dort dem Stande der Priester Muße gelassen war.“[6] Das setzt notwendigerweise ein gewisses Maß an Arbeitsproduktivität voraus, mit der auch eine Neuorganisation der gesellschaftlichen Struktur einherging. Wir wollen uns nun den Anfängen dieser Entwicklung zuwenden.
ArchäologInnen haben bislang kaum Beweise für eine signifikante Ungleichheit in der Zeit vor dem Neolithikum gefunden, das vor nicht ganz 12.000 Jahren begann. Die Fundstücke in paläolithischen Ausgrabungsstätten auf der ganzen Welt zeichnen ein Bild von kleinen, überwiegend umherziehenden Gesellschaften, die für ihr Überleben vor allem von der Jagd, dem Fischfang und dem Sammeln von essbaren Früchten, Pilzen usw. abhängig waren. In diesen Gesellschaften gab es hinsichtlich des Besitzes und des sozialen Status kaum Unterschiede. Diese Annahme lässt sich zumindest aus den Grabbeigaben jener Zeit schließen.
Natürlich werden wir nie mit völliger Sicherheit sagen können, wie prähistorische Jäger- und Sammlergesellschaften im Detail ausgesehen haben. Doch anthropologische Studien von bis heute existierenden Jäger- und Sammlergesellschaften, wie dem Stamm der !Kung in der Kalahari, lassen erahnen, wie die Menschen einst gelebt haben könnten. Der Anthropologe Richard Leaky schreibt:
„Die !Kung haben keine Häuptlinge und keine Anführer. […] Niemand erteilt oder befolgt Befehle.“ „Mit-anderen-teilen ist im Verhalten und in den Wertvorstellungen der !Kung-Wildbeuter […] tief verwurzelt“. „Geradeso, wie Gewinn- und Zweckmäßigkeitsdenken im Mittelpunkt kapitalistischer Moral stehen, so steht das Teilen mit anderen im Mittelpunkt der Wildbeutergesellschaften.“[7]
Diese Ansicht wird durch Studien über Jäger- und Sammlergesellschaften auf der ganzen Welt bestätigt und fügt sich nahtlos in das Bild, das die Erforschung der paläolithischen Ausgrabungsstätten hervorbringt. Doch der Egalitarismus in unserer prähistorischen Vergangenheit war nicht nur von rein kulturellem oder moralischem Gehalt. Er wurzelte vielmehr in der Tatsache, dass es über den Besitz von Werkzeugen und anderen persönlichen Gebrauchsgegenständen hinausgehendes Privateigentum nicht gab und auch nicht geben konnte. Diese Gruppen waren erfolgreiche und sehr fähige Jäger und Sammler, aber sie lebten weitgehend von der Hand in den Mund und verzeichneten keinen nennenswerten Überschuss, den man anhäufen hätte können. Dementsprechend gab es keine Vorstellung von Landbesitz oder Vererbung.
Das lässt sich auch gut an der Lebensweise der Aborigines in der zentralaustralischen Wüste veranschaulichen, die als eine der ältesten noch heute existierenden Kulturen weltweit gilt. In den 1960er Jahren lebte der Anthropologe Richard Gould mit diesen Jägern und Sammlern und erforschte ihre Kultur. Er vermerkte damals, dass alle Nahrungsmittel, die ins Lager gebracht wurden „peinlich genau zwischen allen Mitgliedern der Gruppe aufgeteilt wurden, selbst wenn es nicht mehr als eine kleine Eidechse war“[8]. Gestützt auf die Ausgrabungen in Höhlen und Felsvorsprüngen stellte Gould die Hypothese auf, dass die Bevölkerung dieser Region seit der ersten Besiedelung durch den Homo sapiens auf diese Art und Weise lebte. Das Prinzip hinter dieser ursprünglichen, ja absoluten Form des Kommunismus ist nicht schwer zu entdecken: es ist der Mangel, der letztlich durch die relativ niedrige Entwicklung der Produktivkräfte und das niedrige Niveau der Kontrolle über die natürliche Umwelt gegeben war. Während andere Jäger- und Sammlergesellschaften nicht unter derart schwierigen Bedingungen lebten, war dieses Prinzip doch in der gesamten paläolithischen Welt vorherrschend.
Der egalitäre Charakter der paläolithischen Gesellschaften zeichnet sich auch durch die gleichberechtigte Stellung der Frau aus. Schon Friedrich Engels schrieb in seinem Meisterwerk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates:
„Es ist eine der absurdesten, aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts überkommenen Vorstellungen, das Weib sei im Anfang der Gesellschaft Sklavin des Mannes gewesen. Das Weib hat bei allen Wilden und allen Barbaren der Unter- und Mittelstufe, teilweise noch der Oberstufe, eine nicht nur freie, sondern hochgeachtete Stellung.“[9]
Engels stützte sich auf die aktuellsten anthropologischen Studien seiner Zeit, insbesondere auf Henry Lewis Morgans Arbeit über die Irokesen, und kam zu der revolutionären Erkenntnis, dass die systematische Unterdrückung der Frau tatsächlich erst zu einem relativ späten Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte aufgetreten ist. Am Beispiel nicht nur der Gesellschaft der Irokesen, sondern auch der alten Griechen, Römer und Germanen argumentierte Engels, dass die „weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts“ eine ökonomische Grundlage hatte: die Herausbildung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, speziell von Grund und Boden und den Viehherden, sowie die Akkumulation derselben in den Händen von Männern.
Wenn also Frauenunterdrückung nicht immer schon existiert hat, dann, so die Schlussfolgerung von Engels, muss es auch möglich sein, ihr ein Ende zu setzen. Durch die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft ohne Privateigentum und Ausbeutung ließe sich die Freiheit und Gleichheit von Männern und Frauen wiederherstellen, allerdings auf einem höheren Niveau als in der fernen Vergangenheit. Diese Perspektive hat Generationen von MarxistInnen inspiriert, den Kampf um Frauenbefreiung zu führen.
Diese revolutionäre Erkenntnis wurde jedoch nicht nur von den Apologeten der herrschenden Ordnung, sondern teilweise auch von feministischen TheoretikerInnen abgelehnt, die Engels’ Interpretation urkommunistischer Gesellschaften als „tröstlichen Mythos“ abkanzelten. In der jüngeren Vergangenheit stimmten selbst „marxistische“ AkademikerInnen in diesen Chor der KritikerInnen ein und griffen die Grundlagen von Engels‘ Theorie an. Christophe Darmangeat von der Universität Paris zum Beispiel behauptet: „das männliche Monopol auf die Jagd und den Besitz von Waffen versetzte Männer im Vergleich zu Frauen überall in eine Position der Stärke“, was bedeutet, dass „Frauen überall in eine Situation gebracht wurden, wo sie auf die Rolle reiner Instrumente in den Strategien der Männer reduziert werden konnten.“[10]
Während Darmangeat behauptet, er würde Engels auf der Basis neuerer Forschungsergebnisse korrigieren, wiederholt er in Wirklichkeit genau dieselben falschen Annahmen, die Engels bereits vor mehr als hundert Jahren widerlegte. Darmangeat geht zunächst davon aus, dass Jagd und Waffenbesitz immer schon ein männliches Monopol waren. Damit diese These Gültigkeit hat, muss sie universell anwendbar sein, d.h. dieses angebliche Monopol muss immer und überall, ohne Ausnahme existiert haben. Doch eine derartige Annahme ist nicht haltbar und steht im Widerspruch zu den meisten modernen Forschungsergebnissen zu diesem Thema. Auch unsere Kenntnisse von heute noch bestehenden Jäger- und Sammlergesellschaften sprechen dagegen. So weiß man von den Agta auf den Philippinen, dass dort auch Frauen Waffen tragen und sich an der Jagd beteiligen.[11] Wenn wir in die Vergangenheit blicken, ergibt sich ein noch viel komplexeres Bild. Der jüngste Fund einer Jagdausrüstung im Grab einer jungen erwachsenen Frau in den Anden[12], das auf die Zeit von rund 7.000 v. Chr. datiert wird, sowie Darstellungen von mit Speeren bewaffneten Jägerinnen in den frühesten Höhlenmalereien im indischen Burzahom aus der Zeit von 6.000 v. Chr.[13] lassen auf die Rolle von Frauen bei der Jagd schließen. Doch selbst wenn wir die Annahme akzeptierten, dass die Jagd in erster Linie eine männliche Domäne war, beinhaltet Darmangeats Argument eine fatale Unwahrheit: Die Annahme, dass, wo immer es eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gab, Frauen auf die Rolle „reiner Instrumente“ reduziert wurden.
Als MarxistInnen leugnen wir nicht, dass es natürliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, und dass es deshalb auch in allen Gesellschaften eine bestimmte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gab. Die Tatsache, dass Frauen schwanger werden und Kinder gebären können, ist ein augenscheinliches Beispiel dafür. Je nach der Beschaffenheit der natürlichen Umgebung und den dort vorhandenen Ressourcen der jeweiligen Gemeinschaft konnten sich die Männer auch weiter vom Lagerplatz entfernen und zum Beispiel Jagdexpeditionen unternehmen, während Frauen sich tendenziell darauf konzentrierten, Nahrung in der umliegenden Gegend zu sammeln, weil sie dann auch die Kinder mitnehmen konnten. Eine derartige Arbeitsteilung wurde zum Beispiel bei den !Kung beobachtet.[14] Der zentrale Punkt ist aber, dass in solchen Gesellschaften das Vorhandensein einer gewissen Arbeitsteilung nicht als Beweis für Unterdrückung oder Ausbeutung durch andere Teile der Gemeinschaft gesehen werden kann. Im Gegenteil, alle uns zugänglichen Beweise lassen auf das Gegenteil schließen.
Mit Bezug auf die !Kung schreibt Patricia Draper:
„Männer und Frauen der Wildbeutergruppen sind egalitär im Umgang miteinander. Typischerweise leben sie in gemischtgeschlechtlichen Gruppen im Lager zusammen, obwohl sie ihre Arbeit für gewöhnlich in gleichgeschlechtlichen Gruppen verrichten. Die Frauen zeigen gegenüber den Männern keine Unterwürfigkeit. Sie leben in kleinen Gruppen ohne stark ausgeprägte Führungsrollen, sie treffen Entscheidungen nach dem Konsensprinzip, wobei Frauen gemeinsam mit den Männern entscheiden.“[15]
Die Frauen, die hier beschrieben werden, können kaum als „reine Instrumente“ von jemand anderem bezeichnet werden. Ganz im Gegenteil. In vielen Fällen, so auch bei den !Kung, tragen Pflanzen, die von den Frauen gesammelt werden, zu 80% des täglichen Lebensmittelverbrauchs der Gemeinschaft bei, und „anders als männliche Jäger, behalten die weiblichen Wildbeuter die Kontrolle über die endgültige Verteilung der Nahrungsmittel, die sie gesammelt haben“[16]. Der Anthropologe Chris Knight behauptet, dass in vielen Jäger- und Sammlergesellschaften „ein junger Mann nie das dauerhafte Recht auf Sex gegenüber der Frau erlangt, die er regelmäßig besucht. Stattdessen muss er sich ständig Anerkennung verdienen, indem er das von ihm erlegte Fleisch seiner Schwiegermutter überlässt, die es dann nach ihren Vorstellungen verteilen kann.“[17] Auch hier stellt sich die Frage, wer eigentlich wen kontrolliert.
Auch wäre es falsch zu behaupten, dass der Besitz von Waffen oder größere körperliche Stärke automatisch zu Gewalt gegen Frauen führt. Eine Studie aus dem Jahr 1989 kam zu dem Ergebnis, dass die traditionell als Nomaden oder Halbnomaden lebenden San eine von nur sechs Gesellschaften weltweit waren, in der häusliche Gewalt nahezu unbekannt war.[18] Das ist eine wirklich erstaunliche Tatsache, wenn wir berücksichtigen, dass jedes Jahr Gewalt an Frauen unzählige Leben fordert.
Das Bild des Mannes als den dominanten „Ernährer“ und der Frau als untergeordneter „Hausfrau“ ist für diese historische Epoche völlig anachronistisch – es handelt sich um eine Konzeption der Urgeschichte, die direkt der Zeichentrickserie „Familie Feuerstein“ entnommen scheint. Das Fortbestehen dieser Vorstellungen hat jedoch nichts mit dem Wissensstand der prähistorischen Forschung zu tun, sondern spiegelt lediglich die Tatsache wider, dass die Vertreter dieser These unfähig sind, sich eine Welt vorzustellen, die nicht gemäß den heute in der kapitalistischen Klassengesellschaft vorherrschenden Vorurteilen funktioniert. Wenn man aber diese durch die Klassengesellschaft bestimmten Vorurteile akzeptiert, dann muss man auch die letztlich daraus fließenden Schlussfolgerungen akzeptieren, und nicht nur die Möglichkeit einer wirklichen Gleichheit von Mann und Frau, sondern generell die Perspektive einer Gesellschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung verwerfen. Dieses angeblich wissenschaftliche Argument legitimiert in letzter Instanz die Existenz einer Klassengesellschaft auf immer und ewig. Amen!
Aber wie konnte es sein, dass die Menschheit von dieser scheinbar utopischen urkommunistischen Gesellschaftsform zu einer Ordnung überging, in der die überwältigende Mehrheit der Menschen unterdrückt wurde? Der Anthropologe Marshall Sahlins prägte auf der Grundlage seiner Forschungsarbeiten zu Jäger- und Sammlergesellschaften den Begriff der „ursprünglichen Überflussgesellschaft“. Demzufolge hätten Erwachsene nur drei bis fünf Stunden pro Tag arbeiten müssen, um ausreichend Lebensmittel zu beschaffen. Auch wenn das wahrscheinlich eine Übertreibung ist, die von einer zu engen Definition von Arbeit herrührt, stellt sein Argument doch die Vorstellung in Frage, wonach Jäger- und Sammlergesellschaften permanent am Rande des Verhungerns lebten. Doch genauso, wie wir den von Hobbes geschaffenen Mythos zurückweisen, das Leben sei vor der Befreiung durch die zivilisierte Repression seitens des Staates immer schon „armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ gewesen, sollten wir auch vorsichtig sein und den Bogen nicht zu sehr in die andere Richtung überspannen.
Die paläolithische Gesellschaft war kein paradiesischer Urzustand, in dem alle im Überfluss lebten. In der Eiszeit waren die Gemeinschaften zwangsläufig eher klein, da die Menschen stets in der Unsicherheit lebten, ob sie ihre Existenz sichern können würden. Im Regelfall wurde das vorhandene Essen binnen weniger Stunden oder Tage aufgebraucht. Diese Gemeinschaften generierten, wenn überhaupt, kaum Überschüsse. Die meisten Jäger- und Sammlergesellschaften verzeichneten eine nur sehr geringe Lebenserwartung und eine sehr geringe Geburtenrate. Selbst nach dem Ende der letzten Eiszeit um 9.700 v. Chr. waren diese Gesellschaften ständig mit materiellem Mangel konfrontiert. Nur um ein Beispiel zu geben: In der Ausgrabungsstätte im indischen Mahadaha, die auf die Zeit von 4.000 v. Chr. datiert wird, lag das geschätzte Sterbealter von den 13 dort gefundenen Skeletten zwischen 19 und 28 Jahren, aber „wahrscheinlich viel näher bei 19 Jahren“[19]. Damals war die treibende Kraft hinter jeder Form von Entwicklung der Kampf zur Sicherung des Überlebens der Gruppe – und das gegen alle Widrigkeiten: „die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens“[20].
Aus der Notwendigkeit, die Art der Lebensmittelbeschaffung zu verbessern, entwickelten die Menschen mit der Zeit Steinwerkzeuge und sie begannen Ausschau zu halten nach einer größeren Vielfalt an Lebensmitteln, die auch möglichst verlässlich zur Verfügung stehen würde. Diese Entwicklung wurde durch die globale Klimaerwärmung vor rund 20.000 Jahren begünstigt. Steigende Temperaturen und mehr Feuchtigkeit sowie das Abschmelzen der Eisdecke ermöglichten es den Menschen damals, völlig neue Regionen zu besiedeln und neue Nahrungsquellen zu erschließen. Unter den sich stark verändernden Umweltbedingungen begannen die Jäger und Sammler neue, ausgefeiltere Methoden zur Gewinnung von Nahrungsmitteln zu entwickeln, was zu einer sprunghaften Entwicklung der Produktivkräfte führte.
Ältere Steinwerkzeuge wie Faustkeile wurden durch „Mikrolithen“ in Form von Bohrern und Pfeilspitzen ersetzt.[21] Aus Knochen wurden dünne Nadeln angefertigt, mit denen Pelze zusammengenäht werden konnten. Die damit hergestellten Kleidungsstücke ermöglichten wiederum die Besiedelung auch unwirtlicher Gebiete wie Sibirien.[22] Aus Rentiergeweihen wurden Harpunen geschnitzt, womit der Fischfang ertragreicher wurde.[23] Weidenkörbe wurden hergestellt, um Aale zu fangen.[24] All das bedeutete einen sowohl qualitativen als auch quantitativen Sprung in der menschlichen Arbeitsproduktivität.
Doch nicht nur Jagd und Fischfang florierten. Durch das wärmere und feuchtere Klima gediehen auch immer mehr essbare Wildpflanzen, die die Menschen als Nahrungsquelle entdeckten. Die älteste uns bekannte Ernte von Wildgräsern lässt sich auf die Zeit der späten Eiszeit rund 21.000 Jahre v. Chr. datieren. Der Fundort liegt in Ohalo, dem heutigen Israel. 14.000 Jahre v. Chr. wurden in der gesamten Region Emmer, Einkorn und Gerste angebaut. Diese Entwicklung mag anfangs nur als eine kleine Verbesserung erschienen sein, doch sie markiert die frühen Anfänge eines Prozesses, der die Beziehung des Menschen zur natürlichen Welt und damit das menschliche Leben unwiederbringlich verändern sollte.
Von der ersten Bewirtschaftung von Getreide und anderen Pflanzen war es allerdings noch ein weiter Weg zur landwirtschaftlichen Produktion des Neolithikums. In den meisten Regionen glich diese Bewirtschaftung mehr einer „Gartenarbeit in der Wildnis“, in dem die Menschen regelmäßig Orte aufsuchten, an denen essbare Pflanzen wuchsen. Doch selbst durch diese scheinbar passive Form des Sammelns und Erntens begannen die Menschen die Natur in mehr oder weniger bewusster Form umzugestalten.
Viele der Pflanzen und Tiere, die uns heute als Grundnahrungsmittel dienen, haben nicht immer schon in dieser Form existiert. Mais, Bohnen, Speisekürbisse und selbst Schweine, Schafe und Rinder, wie wir sie heute kennen, entwickelten sich erst im Zuge der menschlichen Eingriffe in die Natur vor mehreren tausend Jahren. Zum Beispiel die Wildgräser, die an Orten wie Ohalo angebaut wurden, besaßen viel kleinere Körner als der Weizen, den wir heute kennen. Die Entdeckung von überdurchschnittlich großen Körnern in Jerf el Ahmar im heutigen Syrien lässt darauf schließen, dass die Menschen schon 13.000 v. Chr. gezielt Gräser mit größeren Körnern aussäten, um so den Ertrag zu steigern.[25]
Noch wichtiger war jedoch, dass die Ähren dieser alten Gräser leicht abbrachen und der Samen sich von alleine verteilte, was die Chancen erhöhte, dass sich diese Pflanzen erfolgreich vermehren konnten. Doch was für die Pflanze gut ist, ist für den Sammler nicht notwendigerweise von Vorteil. Ein großer Anteil der potentiellen Ernte ging so verloren, bevor noch der Schnitter zur Stelle war. Bei modernen Getreidesorten ist die Rhachis (Achse der Getreidenähre) so beschaffen, dass die Ähren bis zur Ernte nicht abbrechen. Diese biologische Transformation war das Produkt des Eingriffs durch den Menschen und seiner Innovationskraft. Unter den richtigen Bedingungen führte die Tendenz zur Selektion, die durch die bewusste Verbesserung der Techniken der Sammler entstand, zur Entwicklung neuer Weizen- und Gerstesorten, was für sich genommen einen weiteren großen Fortschritt in der Entwicklung der Produktivkräfte bedeutete.
Gemeinsam mit der Zunahme an natürlichen Ressourcen und den Verbesserungen der Werkzeuge und Arbeitstechniken entstanden in dieser Epoche die ersten festen Siedlungen. Anfangs handelte es sich dabei wahrscheinlich um Lager, die zu einer bestimmten Saison genutzt wurden, zu denen die Menschen jedoch in immer regelmäßigeren Abständen zurückkehrten. Ein Beispiel dafür ist der Fundort Star Carr im heutigen England aus der Zeit um 9.000 v. Chr.[26] In weiterer Folge wurden die ersten dauerhaft besiedelten Dörfer errichtet. Ein frühes Beispiel liefert die Ausgrabungsstätte ‚Ain Mallaha in der Levante, die auf 12.5000 v. Chr. datiert ist. Man zählt diesen Ort zum Natufien, einer Kultur des Proto-Neolithikums. Hier siedelten Menschen dauerhaft und lebten von der Jagd auf Gazellen und dem Anbau von Wildgetreide.[27]
Aber selbst im höchsten Stadium des Epipaläolithikums („Späte Altsteinzeit“) waren dauerhafte Siedlungen noch sehr selten und konnten nur dort gefunden werden, wo es außerordentlich günstige natürliche Bedingungen gab, wie dies in ‚Ain Mallaha oder Poverty Point der Fall war. In diesem Stadium war es sehr schwierig und in einigen Fällen unmöglich, andernorts ähnliche Bedingungen zu schaffen, weshalb in einem bestimmten Ausmaß die Errichtung von Siedlungen letztendlich von der Natur vorgegebenen Bedingungen abhing. Doch die Entwicklungen, die damals vor sich gingen, bereiteten den Boden für eine dramatische Umwälzung der menschlichen Lebensbedingungen, wobei die Ausnahme zur Regel werden sollte.
In der Geschichte haben oft Krisen die tiefliegenden Veränderungsprozesse unter der Oberfläche beschleunigt. Solche Krisen können sowohl externe als auch interne Ursachen haben. Vor der Entwicklung der Landwirtschaft im Nahen Osten wurde es spürbar kälter auf der Erde. Es kam zu einer Rückkehr eiszeitlicher Bedingungen in der Jüngeren Dryaszeit (ungefähr von 11.000 – 9.700 v. Chr.). Die Ausbreitung von Wildgräsern wurde dadurch gebremst und die Tierherden mussten auf der Suche nach günstigeren Umweltbedingungen weiterziehen. Die meisten Menschen konnten ihre bisherige Lebensweise daher nicht aufrechterhalten. Die Sterblichkeit nahm erneut zu, und viele Menschen mussten wieder zu einem Nomadenleben zurückkehren. Doch die vorangegangene Entwicklung, die schrittweise über Tausende von Jahren gegangen war, war nicht komplett umsonst gewesen.
Als die Menschen die Siedlungen aufgaben, weil dort das Überleben nicht mehr gesichert erschien, nahmen sie geerntete Samenkörner mit und säten sie an völlig neuen Orten. Die Schaffung neuer Anbauflächen und die stärkere Abhängigkeit bestimmter Gemeinschaften vom Getreideanbau dürfte, so die heutige Annahme, die natürliche und künstliche Auslese beschleunigt und zur Herausbildung von domestiziertem Weizen[28] geführt haben. Das kam einem spürbaren Fortschritt gegenüber den alten Siedlungen von Jäger- und Sammlergemeinschaften gleich. Wir können diesen Prozess ganz deutlich in Abu Hureyra, im heutigen Syrien, nachverfolgen, wo die Menschen durch den intensiven Anbau von wildem Roggen auf das kältere Klima reagierten. Daraus entstand das älteste domestizierte Getreide, das bislang nachgewiesen werden konnte. Es stammt in etwa aus der Zeit um 10.500 v. Chr.[29]
Rund 9.500 v. Chr. kehrten die Menschen in der Levante und im Südosten der heutigen Türkei zu einem sesshaften Leben zurück, doch dieses Mal auf einer qualitativ weit höheren Stufe, was durch den Anbau von domestizierten Getreidesorten und Viehhaltung (Schafe, Ziegen) möglich wurde. Die Jäger wurden nun durch den gezielten Eingriff in die Natur zu Hirten. Um 8.000 v. Chr. hatte sich dieser neue Lebensstil im gesamten Nahen Osten durchgesetzt und fand bald darauf auch in Europa und Südasien Nachahmung. Unabhängig davon setzte sich auch in anderen Weltregionen, wie in China sowie in Teilen Afrikas und Amerikas, diese neue Form der Landwirtschaft durch. Der marxistische Archäologe V. Gordon Childe bezeichnete diesen Prozess als „Neolithische Revolution“.
Für viele bürgerliche WissenschaftlerInnen erinnert die Bezeichnung „Revolution“ zu sehr an einen marxistischen Ansatz, weshalb sie ihn nicht in Lehrbüchern verwenden. Stattdessen bezeichnen sie die Entwicklung der Landwirtschaft in dieser historischen Phase als „Neolithischen Übergang“, da es sich um einen Prozess handelte, der sich über eine sehr lange Zeitspanne vollzog. Das zeugt allerdings von einem sehr eingeschränkten Verständnis von Geschichte. Die kambrische Explosion (eine Epoche sehr schneller Diversifizierung komplexer, mehrzelliger Tierstämme) erstreckte sich über einen Zeitraum von mehr als zehn Millionen Jahren – eine äußerst kurze, ja explosive Zeitspanne, gemessen an Milliarden Jahren einer unglaublich langsamen Entwicklung, die ihr vorausgegangen war. Die Neolithische Revolution war im Rahmen der Menschheitsgeschichte eine vergleichbar gewaltige und schnelle Transformationsperiode. Der Homo sapiens existiert seit rund 300.000 Jahren, doch diese Entwicklungen erfolgten binnen weniger tausend Jahre und erschütterten das menschliche Leben grundlegend, was zum Entstehen einer neuen Lebensweise, einer neuen Produktionsweise beitrug und so ein neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte einläutete.
Ein weiterer Einwand gegen die „traditionelle“ Darstellung der Neolithischen Revolution richtet sich gegen deren materialistische Schlussfolgerungen. Wenn wir mit einem Abstand von 10.000 Jahren auf jene Prozesse zurückblicken, können wir die tiefgreifende Wirkung erahnen, die die damaligen Entwicklungen auf dem Gebiet der menschlichen Arbeit und der Technik sowohl auf die Natur als auch auf die Gesellschaft hatten. Doch selbst diese Bestätigung der grundlegendsten Ideen des historischen Materialismus wollen manche WissenschaftlerInnen nicht akzeptieren. So behauptete etwa Anthony Giddens, der Soziologe hinter Tony Blairs „Drittem Weg“, dass die Entwicklung der Produktivkräfte kein entscheidender Faktor in der Neolithischen Revolution gewesen sein konnte, weil an einigen Orten bereits vor dem Auftauchen der Landwirtschaft menschliche Siedlungen existiert hatten. Giddens schreibt dazu:
„Das menschliche Sozialleben beginnt nicht und endet auch nicht mit der Produktion. Wenn Mumford den Menschen ein ‘mindmaking, self-mastering, and self-designing animal‘ nennt, und wenn Frankl das menschliche in der „Sinnsuche“ sieht, sind sie näher dran, die Grundlage einer philosophischen Anthropologie der menschlichen Kultur zu liefern, als Marx es war.“[30]
Vor nicht allzu langer Zeit wurde die Behauptung aufgestellt, dass die Forschungsergebnisse der Ausgrabungsstätte Göbekli Tepe in Südostanatolien, in der heutigen Türkei, neue Beweise zur Untermauerung dieser idealistischen Geschichtsauffassung liefern würden. Göbekli Tepe wird auf 9.600 v. Chr. datiert, die Siedlung existierte in der Frühzeit der neolithischen Epoche. Dort wurden große Steinaltäre gefunden, die darauf schließen lassen, dass ein gewisses Maß an Arbeitsteilung existierte und die Menschen Mehrarbeit zur Errichtung des Baus dieser Tempelanlage aufwenden mussten. Es finden sich auch genügend Beweise, die nahelegen, dass dieser Ort ganzjährig genutzt wurde. Doch die große Menge an Knochen von Wildtieren und das Fehlen von Überresten von domestizierten Tieren lässt den Schluss zu, dass dieser „Tempel“ von Jägern und Sammlern errichtet wurde. Diese bemerkenswerte Entdeckung hat dazu geführt, dass in einer Reihe von Artikeln das Ende des Materialismus ausgerufen wurde. Die These lautet also, die Menschen hätten sich nicht aufgrund der Entwicklung der Landwirtschaft oder, allgemein gesprochen, der Produktivkräfte niedergelassen, sondern wären zum Zweck der Ausübung ihrer Religion sesshaft geworden und haben dann erst eine landwirtschaftliche Produktion entwickelt, um ihre Gemeinschaft ernähren zu können. „Ich glaube, was wir hier sehen können, ist, dass die Zivilisation ein Produkt des menschlichen Geistes ist“[31], verkündete der Grabungsleiter an diesem Fundort, Klaus Schmidt.
Doch die Einsicht, dass Zivilisation ein „Produkt des Geistes“ sei, ist bei weitem nicht so tiefschürfend, wie der Autor glauben mochte. Auch die Dampfmaschine oder das Fabriksystem waren Produkte des menschlichen Verstands. Die aus Feuerstein gefertigte Sichel war ebenso ein Produkt menschlichen Verstands. Selbst wenn der militanteste Materialist sich ein Essen zubereitet, dann macht er das, weil er die Idee hatte, es zu tun. Doch das sagt noch nicht viel, außer die unbestrittene Tatsache, dass all diese Dinge von bewusst denkenden menschlichen Wesen geschaffen wurden.
Schon Friedrich Engels meinte: „Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muß durch ihren Kopf hindurch; aber welche Gestalt es in diesem Kopf annimmt, hängt sehr von den Umständen ab.“[32] Wir müssen uns die Frage stellen, warum die Menschen, die Göbekli Tepe errichtet haben, sich dazu entschlossen haben, zuerst eine derart große und ganzjährig genutzte Kultstätte zu bauen, und warum sie dann den Entschluss fassten, dort auch Weizen anzubauen. Rituelle Handlungen waren schon während des gesamten Paläolithikums wichtiger Bestandteil menschlichen Gemeinschaftslebens. Für die Menschen waren sie ein Mittel, um die Funktionsweise der natürlichen Welt besser zu verstehen und diese Schritt für Schritt zu kontrollieren. Das Ernten von wildem Weizen reicht jedoch zurück in eine Zeit von vor über 23.000 Jahren. Warum kam es also nicht schon in der späten Eiszeit zu einer ähnlichen Entwicklung wie in Göbekli Tepe? Die Erklärung dafür kann letztendlich nur in der Entwicklung der Produktivkräfte gefunden werden: dem Verhältnis der Menschheit zur Natur, das durch die Arbeit der Menschen, ihre Werkzeuge, ihre Arbeitsorganisation und Arbeitstechnik vermittelt wird.
Die für Viehzucht und Ackerbau notwendigen Mittel waren bereits im Rahmen der alten Jäger- und Sammlergesellschaft über Tausende von Jahren vor dem Bau von Göbekli Tepe entwickelt worden. Wie bereits erwähnt, fand man Körner von domestiziertem Roggen, die aus der Zeit rund um 10.500 v. Chr. stammen. Jüngere Ausgrabungen in Göbekli Tepe haben aber auch Beweise sowohl für Wohngebäude[33] als auch für den Konsum von Wildgetreide[34] erbracht, was Schmidt inseinem idealistischen Ansatz nicht berücksichtigt oder ignoriert hatte. Das bedeutet, dass Göbekli Tepe nicht nur ein Tempel war, sondern dass es sich um eine Siedlung handelte, die in weiterer Folge auf Ackerbau umstellte, weil die Jagd und das Sammeln von essbaren Pflanzen nicht mehr ausreichten, um die Gemeinschaft zu ernähren. Das unterstreicht nur die Schlussfolgerung, dass die faszinierenden Altäre und religiösen Handlungen der Menschen, die dort lebten, eine materielle Grundlage hatten. Wie auch die Menschen in Tell Abu Hureyra, die angesichts einer Notsituation zum Anbau von Roggen übergingen, markiert auch die Kultur, die Göbekli Tepe schuf, einen Wendepunkt in der Neolithischen Revolution, in dem sich die Notwendigkeit einer neuen Form der gesellschaftlichen Ordnung im bewussten Handeln von Menschen widerspiegelt. Derartige Prozesse sehen wir in allen sozialen Revolutionen. Die Ideen, Wünsche und religiösen Vorstellungen dieser Menschen entsprangen nicht direkt den Werkzeugen, die damals verwendet wurden, sondern waren Produkte des Verstandes von lebendigen Menschen – und sie hatten zweifelsohne einen entscheidenden Effekt auf die Form, die dieser Prozess annahm. Aber es waren die Veränderungen, die sich in der Umwelt dieser Menschen, in ihrer Gesellschaft und der ihr zugrundeliegenden Arbeitsweise abspielten, die den wahren Inhalt dieses Prozesses bestimmten: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“[35]
Marx schreibt im Kapital: „Abstrakt strenge Grenzlinien scheiden ebensowenig die Epochen der Gesellschafts- wie die der Erdgeschichte.“[36] In dieser Hinsicht werden die frühesten Dörfer der neolithischen Epoche den Siedlungen der Jäger- und Sammlergesellschaften, die am Ende des Paläolithikums entstanden waren, sehr ähnlich gewesen sein. In einigen Fällen konnten diese neolithischen Gemeinschaften noch immer relativ mobil sein, besiedelten für eine gewisse Zeit ein Stück Land, wo sie Getreide anbauten, und zogen weiter, wenn sich der Boden nach einiger Zeit regenerieren musste. Henry Morgan beobachtete diese Vorgangsweise auch bei den Irokesen. Die Jagd, der Fischfang und das Sammeln von Früchten blieben neben dem Anbau von Getreide wichtige Methoden der Nahrungsbeschaffung. Es dauerte mehrere hundert Jahre, bis die grundlegenden Veränderungen, die damit einhergingen, offensichtlich wurden.
Eine dieser Veränderungen war der markante Anstieg der Größe und Zahl der Siedlungen. Die durchschnittliche Siedlung im Natufien dürfte schätzungsweise von 100 bis 150 Personen bewohnt worden sein – eine beachtliche Größe für eine Jäger- und Sammlergemeinschaft, aber immer noch klein im Vergleich zu den neolithischen Siedlungen, die ab 9.500 v. Chr. entstanden. Selbst in einem kleinen neolithischen Dorf wohnten rund 250 Menschen[37], also in etwa doppelt so viele wie in der Natufien-Kultur. Jericho, vielleicht die älteste Siedlung, die heute noch existiert, wies um 9.000 v. Chr., also nur wenige Jahrhunderte nach Beginn der neolithischen Epoche, eine Bevölkerung in der Größenordnung von 1.000 Personen auf. Das war nur möglich auf der Grundlage eines massiven Sprungs in der Entwicklung der Produktivkräfte.
Ackerbau rund um feste Siedlungen begünstigte nicht nur die Entstehung großer Gemeinden, sondern beschleunigte auch das Bevölkerungswachstum im Allgemeinen. Allerdings darf man nicht vergessen, dass diese verbesserten Reproduktionsbedingungen nach wie vor durch hohe Kindersterblichkeit und die allgemein sehr niedrige Lebenserwartung von neolithischen Bauern und Bäuerinnen (aufgrund einer sehr eingeschränkten Ernährung und dem Entstehen bislang unbekannter Krankheiten) konterkariert wurden. Letzteres war eine der Schattenseiten der Sesshaftigkeit – oft lebten tausende Menschen und Tiere auf sehr engem Raum zusammengedrängt. Trotz aller Probleme, die sich aus der Sesshaftwerdung ergaben, führte die höhere Geburtenrate doch zur Ausbreitung neuer und auch größerer Siedlungen, die die nomadischen Jäger- und Sammlergemeinschaften schrittweise verdrängten. Auf den britischen Inseln dürften Menschen, die sich, aus Kontinentaleuropa kommend, hier angesiedelt hatten, um 4.000 v. Chr. mit dem Ackerbau begonnen haben. Innerhalb von 2.000 Jahren, ein im urgeschichtlichen Maßstab sehr kurzer Zeitraum, setzte sich die neue Lebensweise flächendeckend durch.[38]
Mit der gewandelten Produktionsweise und den Auswirkungen auf die materielle Reproduktion des Menschen nahmen auch neue ideologische und religiöse Vorstellungen Form an. Ein Beispiel dafür sehen wir in der zunehmenden Verbreitung dessen, was heute als Ahnenkult aufgefasst wird. In Jericho wurden etwa mit Gips verputzte Schädel sowie im Boden der Häuser begrabene Verstorbene gefunden.[39] Die Vorstellung, dass die eigenen Ahnen auch nach dem Tod in der Familie bleiben, manchmal sogar wortwörtlich im Haus der Familie, weil sich dort ihr Grab befand, und sie auf diese Weise ihre lebenden Verwandten beschützten, ist ebenso durch Quellen aus der chinesischen Kultur sehr gut belegt. Das passt auch zusammen mit der Tatsache, dass die Menschen nun dauerhaft in einem bestimmten Haushalt lebten und dasselbe Land bestellten.
Mit dem Übergang zu sesshafter Landwirtschaft begann sich auch schrittweise die Arbeitsteilung innerhalb der Familie zu verändern. Eine deutlich höhere Geburtenrate bedeutete, dass Frauen häufiger schwanger waren und mehr Zeit für die Kinder aufbringen mussten, weshalb ihnen weniger Zeit für die Feldarbeit blieb. Funde aus einer Reihe von neolithischen Ausgrabungsstätten lassen darauf schließen, dass diese Entwicklung gemeinsam mit der Intensivierung der Arbeit und der Notwendigkeit, ständig auf den Feldern zu arbeiten und die Herden zu beaufsichtigen, vielerorts zu einer viel rigideren Teilung der Verantwortlichkeiten innerhalb der Familie führte.
In dem Maße, wie sich der Anbau von Getreide ausbreitete, wurde auch die Verarbeitung von Weizen und Gerste immer wichtiger. In Tell Abu-Hureyra entdeckten die ForscherInnen bei weiblichen Skeletten Spuren von Arthritis in den Zehen, weil diese Frauen stundenlang kniend und unter Einsatz des Gewichts ihres Körpers Getreide mahlten.[40] Eine ähnliche Arbeitsteilung lässt sich aus den Funden in einer neolithischen Ausgrabungsstätte im heutigen China ablesen, die auf 5.000-6.000 v. Chr. datiert wird. Dort wurden männliche Tote fast durchwegs mit Steingerätschaften begraben, die für den Ackerbau oder die Jagd benutzt wurden, während Frauen ohne derartige Artefakte begraben wurden. In den weiblichen Gräbern fand man jedoch Werkzeug, das man zum Mahlen von Getreide benötigte.[41] Diese Zeugnisse ließen, zusammen mit anderen Studien, viele AnthropologInnen zu dem Schluss kommen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Ausbreitung der sesshaften Landwirtschaft und der Tendenz, dass Frauen im Heim „Hausarbeit“ leisteten.
Diese „Hausarbeit“ war jedoch keineswegs zweitrangig oder der Arbeit der Männer untergeordnet. Neolithische Häuser, die man bei Ausgrabungsarbeiten freilegen konnte, verfügten oft über einen eigenen Bereich, wo Webarbeiten verrichtet wurden. Werkzeugherstellung, die häufig als Männerarbeit dargestellt wird, fand ebenfalls im oder um das Heim oder das Dorf statt, und in vielen Fällen waren die Frauen dafür verantwortlich. Anthropologische Studien über die Konso, eine großteils von der Landwirtschaft lebende ethnische Gruppe in Äthiopien, die weltweit zu den letzten Völkern gehören, die noch vorrangig Feuersteinwerkzeuge benutzen, gehen von der These aus, dass in diesen Gemeinschaften gewöhnlich die Frauen Werkzeuge herstellen.[42] Der neolithische Haushalt war also sowohl Heim als auch Werkstatt, und die vorhandenen Zeugnisse sprechen dafür, dass die Frauen in diesen Haushalten eine zentrale Stellung innehatten.
Die Verschiebungen in der Arbeitsteilung innerhalb der Familie erfolgten weder automatisch noch waren sie absolut. Es gab Gesellschaften, in denen Männer und Frauen ungefähr gleich viel Arbeit innerhalb und außerhalb des eigenen Haushalts verrichteten. Das dürfte beispielsweise am besonders wichtigen neolithischen Fundort Çatalhöyük[43] in der heutigen Türkei der Fall gewesen sein. In etlichen Gesellschaften erledigten auch tendenziell die Frauen, nicht die Männer die landwirtschaftliche Arbeit, wie man es aus Morgans Studie über die Irokesen kennt. Es wäre daher überaus vereinfachend und falsch, wenn wir eine automatische und unmittelbare Verbindung zwischen der landwirtschaftlichen Produktionsweise im Allgemeinen und der Tendenz vermehrter Arbeit der Frauen im Haushalt herstellen würden. Weiters können wir diese Veränderungen in der Arbeitsteilung innerhalb der Familie nicht als verlässlichen Beweis für die systematische Unterdrückung von Frauen und die Durchsetzung des Patriarchats, das zum Kennzeichen aller späteren „zivilisierten“ Gesellschaften gehört, heranziehen. Während Frauen allem Anschein nach mehr Arbeit zu Hause verrichteten, so wurde ihre Arbeit innerhalb der Gemeinschaft doch sehr wertgeschätzt, und Frauen genossen denselben Status wie Männer. Viele neolithische Grabstätten, wie etwa Midhowe Cairn im britischen Orkney, in denen die sterblichen Überreste von in etwa gleich viel Männern wie Frauen gefunden wurden, weisen keine bemerkbaren Unterschiede in Bezug auf Reichtum oder gesellschaftlichen Status auf.[44]
Was wir an den Funden in Tell Abu-Hureyra und anderen neolithischen Ausgrabungsstätten jedoch ablesen können, sind die ersten Anfänge des Aufkommens neuer gesellschaftlicher Beziehungen innerhalb der neolithischen Gesellschaft. Dazu gehörte auch, dass Frauen tendenziell vermehrt im Heim tätig waren. Das für sich allein genommen bedeutete aber noch nicht, dass Frauen in ökonomische Abhängigkeit gerieten bzw. unterdrückt wurden, doch im Laufe der weiteren Entwicklungen und der Intensivierung der Arbeit auf dem Gebiet der landwirtschaftlichen Produktion verfestigte sich diese Tendenz immer mehr. Dadurch dürfte die Grundlage für eine weitere Verschiebung in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen gelegt worden sein. Das war im Neolithikum aber noch nicht der Fall; erst mit dem Entstehen von Klassengesellschaften schlugen diese Entwicklungen in eine systematische Unterdrückung der Frau um.
Trotz der im Keim bereits sichtbaren Anzeichen von Ungleichheit in der neolithischen Periode waren die gesellschaftlichen Verhältnisse nach wie vor weitgehend kommunistischer Natur. Es gibt, wenn überhaupt, kaum Anzeichen von Privatbesitz, Ausbeutung oder vererbbarem Vermögen. Engels stellte die gesellschaftlichen Strukturen dieser klassenlosen Gesellschaften in seinem Buch Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates dar:
„Ohne Soldaten, Gendarmen und Polizisten, ohne Adel, Könige, Statthalter, Präfekten oder Richter, ohne Gefängnisse, ohne Prozesse geht alles seinen geregelten Gang […] die Haushaltung ist einer Reihe von Familien gemein und kommunistisch, der Boden ist Stammesbesitz, nur die Gärtchen sind den Haushaltungen vorläufig zugewiesen -, so braucht man doch nicht eine Spur unsres weitläufigen und verwickelten Verwaltungsapparats.“ „Arme und Bedürftige kann es nicht geben – die kommunistische Haushaltung und die Gens kennen ihre Verpflichtungen gegen Alte, Kranke und im Kriege Gelähmte. Alle sind gleich und frei – auch die Weiber. Für Sklaven ist noch kein Raum, für Unterjochung fremder Stämme in der Regel auch noch nicht.“[45]
Anknüpfend an Morgan nannte Engels dieses Stadium in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft „Barbarei“, die eben mit der Entwicklung der Landwirtschaft, der Domestizierung von Tieren und der Erfindung der Keramik ihren Anfang nahm. Für die Menschen, die in diesen bäuerlichen Gemeinschaften lebten und die die moralischen und kulturellen Normen dieser Gemeinschaft bewahrten, muss jede andere Lebensform undenkbar gewesen sein.
Ein wichtiger Hinweis, der darauf schließen lässt, ist das Auftreten von Gruppenbestattungen, wobei alle Individuen gemeinsam in einem Grab beigesetzt wurden, und zwar unabhängig von sozialen Unterschieden und Status. Im bereits erwähnten Midhowe Cairn in Orkney wurden zumindest 25 Personen gemeinsam begraben. Ein ressourcenaufwendiges Monument wie dieses, mit mehreren voneinander getrennten Steinkammern, lässt jedoch nicht auf mangelnden Respekt gegenüber den einzelnen Toten schließen, die dort begraben wurden. Es entspricht der Moral einer Gesellschaft, die gemeinschaftlich organisiert war.
Auch sehr große neolithische Siedlungen beruhten auf dieser kommunalen Grundlage. Im bereits erwähnten Çatalhöyük lebten am Höhepunkt (rund 7.000 v.Chr.) schätzungsweise 10.000 Menschen. Die Stadt war sehr dicht verbaut, wobei die einzelnen Haushalte als unabhängige Einheiten bestanden und die Toten unter dem Boden des eigenen Hauses und nicht in gemeinschaftlichen Friedhöfen bestattet wurden. Doch trotz dieser relativen Unabhängigkeit der einzelnen Haushalte unterschieden sich die Häuser kaum hinsichtlich ihrer Größe, was darauf schließen lässt, dass es kaum soziale Unterschiede gegeben haben dürfte.
Der egalitäre Charakter der neolithischen Siedlungen ließ Zweifel aufkommen, was den Zusammenhang zwischen der Neolithischen Revolution und dem Entstehen von Klassengesellschaften betrifft. Viele neolithische Gemeinden existierten jahrtausendelang ohne Zwangsarbeit, Steuern und nennenswerte soziale Ungleichheit. Inwiefern können wir daher sagen, dass die Entstehung von Klassengesellschaften der neolithischen Produktionsweise inhärent war? Marx erklärte, dass die Entwicklung der Widersprüche innerhalb einer Produktionsweise notwendigerweise die Bedingungen zu ihrer Überwindung hervorbringt:
„Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“[46]
Dass sich Klassengesellschaften unvermeidlich durchsetzten, liegt in der Tatsache begründet, dass die neolithische Produktionsweise die Voraussetzungen für eine solche Veränderung hervorgebracht hat: die immer komplexere Arbeitsteilung in der Gesellschaft und vor allem das wachsende Mehrprodukt. In unserer Darstellung werden wir den Fokus darauf legen, wie sich dieser Prozess im Nahen Osten vollzog. Wir argumentieren nicht, dass jede Entwicklung, die in dieser Region vor sich ging, die Entstehung von Klassengesellschaften auf der ganzen Welt erklären könne. Wir hoffen aber, dass wir mit der Darstellung des Prozesses in all seinen Phasen in einer spezifischen Region doch auch zentrale Elemente der Entwicklung der Klassengesellschaft im Allgemeinen aufdecken können.
Die gesamte Geschichte des Neolithikums könnte auch in der Frage zusammengefasst werden, was man mit dem zunehmend größeren Mehrprodukt machen sollte.
Die neolithischen Gemeinden begannen zusehends damit, das Mehrprodukt, das nicht unmittelbar konsumiert werden konnte, mit Blick auf die Zukunft zu lagern. Die Dörfer des Neolithikums wie Jerf el Ahmar in Syrien[47] verfügten über Lagerräume, die von der gesamten Gemeinde verwaltet und kontrolliert wurden. Die Existenz eines Mehrprodukts konnte aber auch bedeuten, dass mehr Arbeitszeit für Tätigkeiten aufgewendet werden konnte, die nicht für die unmittelbare Existenzsicherung benötigt wurden. Die BewohnerInnen von Jericho konnten aus diesem Grund mit dem Bau einer Befestigungsmauer und eines großen Turms beginnen,[48] die auf die Zeit um 8.000 v. Chr. datiert werden. Die Produktion von Überschüssen ermöglichte auch die Ausweitung des Handels zwischen den großteils autarken neolithischen Gemeinden, was wiederum den Boden für die Ausbreitung einer regionalen Arbeitsteilung bereitete und die wechselseitige Abhängigkeit der Siedlungen in der Folge verstärkte.[49]
Die bedeutsamste Auswirkung des anwachsenden Mehrprodukts war die Herausbildung einer neuen gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, zwischen Kopf- und Handarbeit. Die steigende Arbeitsproduktivität ermöglichte es, eine kleine Schicht in der Gesellschaft von der körperlichen Arbeit auf den Feldern zu befreien. Diese Entwicklung in der Zeit des Neolithikums schuf die Voraussetzungen für das Entstehen der ersten Klassengesellschaften in der Geschichte.
Rund um 7.000 v. Chr. begannen Menschen aus dem Nahen Osten in fruchtbarere Gebiete, wie Mesopotamien im heutigen Irak, zu ziehen. Dort sollten schließlich auch die ersten Staaten entstehen. Das wirft die Frage auf, welche Rolle Umweltbedingungen in der historischen Entwicklung einnehmen. Im „Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur“ ist die natürliche Umgebung freilich von großer Bedeutung. In der Urgeschichte ist ein Großteil der technologischen und sozialen Entwicklung der Menschheit als Antwort auf äußeren, umweltbedingten Druck zurückzuführen. Das ist aber nur eine Seite der Medaille, denn letztlich ist das menschliche Handeln der entscheidende Faktor.
Oft wird behauptet, dass die menschliche Zivilisation oder Klassengesellschaft das Produkt der fruchtbaren Böden rund um den Tigris, den Euphrat, den Nil, den Gelben Fluss oder dem Indus war. Doch die Fruchtbarkeit des Bodens in Mesopotamien wäre nicht viel mehr als ein Potential geblieben, wenn die Menschen nicht die nötigen Werkzeuge zur Kultivierung des Landes zur Verfügung gehabt hätten. Zwischen 7.000 und 6.000 v. Chr. waren große Teile von Untermesopotamien von feuchten Sumpfgebieten durchzogen und deshalb eine unwirtliche Gegend. Außerdem mangelte es in der Region an wichtigen Rohmaterialien wie Holz und später Kupfer, was Untermesopotamien schwer besiedelbar machte und weshalb der Zugang zu Fernhandelsnetzwerken umso wichtiger war. Um diese Hindernisse überwinden zu können, war eine gewisse Entwicklung der Produktivkräfte schon während des Neolithikums notwendig.
Die Nutzung von Bewässerungssystemen zur Steigerung der Produktivität war sowohl in Jericho als auch in Çatalhöyük schon bekannt. Um 7.000 v. Chr. erlebten diese Siedlungen einen Niedergang, aber die technologischen Errungenschaften waren nicht für alle Zeiten verloren, sondern verbreiteten sich in der Folge in der mesopotamischen Ebene. Der älteste Beweis für eine Landwirtschaft mit Bewässerungssystem konnte in Choga Mami[50] gefunden werden und datiert aus der Zeit um 6.000 v. Chr. Doch diese Siedlung und die samarranische Kultur, zu der sie zählt, wies noch alle Merkmale des frühen Neolithikums auf. Als Siedler, die wahrscheinlich aus der iranischen Hochebene stammten, diese neue Technologie in den überaus fruchtbaren Feuchtgebieten Untermesopotamiens einführten, wurde damit die Grundlage für eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gelegt, die schließlich im Entstehen der Klassengesellschaft gipfeln sollte.
Die „urbane Revolution“ begann im Nahen Osten nicht mit großen neolithischen Siedlungen wie Jericho, sondern mit kleinen Dörfern, die damals zwar noch sehr bescheiden wirkten, die aber ein großes Entwicklungspotential aufwiesen. Die untersten Schichten in der Ausgrabungsstätte von Eridu im heutigen Südirak dürften aus der Zeit um 5.800 v. Chr. stammen. Was an dieser Siedlung so bemerkenswert war, sind nicht nur die Bewässerungskanäle, mit denen man Sumpfgebiete trockenlegen konnte, sondern auch der früheste Fund von „Gebäuden, die ausschließlich Kulthandlungen gewidmet waren“.[51] Diese „Kapellen“, wie sie teilweise genannt werden, waren die physische Manifestation eines epochemachenden Wandels in den sozialen Verhältnissen: dem Aufstieg des Priesterwesens.
Die Einführung der Bewässerungssysteme musste sich stark auf das Leben und Denken der ersten BewohnerInnen von Eridu ausgewirkt haben, denn damit ging eine tiefreichende Veränderung in der Arbeitsorganisation einher. Das Graben von Kanälen erforderte nicht nur die Arbeit vieler Menschen, sondern setzte auch ein hohes Maß an Planung voraus. Diese Arbeiten konnten von unabhängigen Haushalten, die nur für sich arbeiteten, nicht effizient umgesetzt werden; es brauchte deshalb die Kooperation einer relativ großen Menge von Arbeitskräften unter der Anleitung einer Art Führung.
Marx schrieb dazu im Kapital: „Alle unmittelbar gesellschaftliche oder gemeinschaftliche Arbeit auf größrem Maßstab bedarf mehr oder minder einer Direktion, welche die Harmonie der individuellen Tätigkeiten vermittelt.“[52] Dass diese Rolle zunächst von Priestern eingenommen wurde, ist nicht allzu überraschend. Selbst in Jäger- und Sammlergesellschaften hatten Schamanen oder andere spirituelle Führungspersönlichkeiten oft eine relative privilegierte Stellung im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung; dadurch war es ihnen möglich, sich mit der natürlichen Umgebung der Gemeinschaft auseinanderzusetzen, die es schrittweise zu verstehen und zu meistern galt. Jene Personen, die am meisten Einsicht in die Geheimnisse der Natur und somit das „Göttliche“ hatten, erachtete man auch als die besten Kandidaten für die Aufgabe, der Gemeinschaft die Segnungen der Gottheit zu sichern. Doch die Gottheit selbst war natürlich auch ein historisches Produkt. Der Glaube, dass allmächtige Götter existieren, die sich in die Lebensbedingungen der Menschen einmischen und deshalb verehrt werden müssen, kommt in Jäger- und Sammlergesellschaften nur sehr selten vor und dürfte vor dem Neolithikum noch völlig unbekannt gewesen sein.[53] Letztendlich war die Vorstellung von einem Gott, der die oberste Autorität darstellt, selbst schon die ideologische Widerspiegelung der Tatsache, dass eine Schicht an der Spitze der Gesellschaft nicht nur eine zunehmende Kontrolle über die Kräfte der Natur, sondern auch über andere Menschen auszuüben vermochte.
Diese Entwicklung war aber nicht einzig und allein auf die Bedingungen in Mesopotamien zurückzuführen. Die zentrale Aufgabe, die Nilüberschwemmungen vorherzusagen, wurde eine Domäne der ägyptischen Priester, aus der sich auch ihre Machtstellung ableitete. Bei den Mayas auf der mexikanischen Halbinsel Yukatan oblag es ebenfalls den Priestern, die Opferrituale und Zeremonien zu beaufsichtigen, mit denen man die Gunst der heiligen Cenoten (natürliche Höhlen mit Grundwasserzugang) sicherstellen wollte. Das war umso wichtiger, als diese Höhlen die einzige Frischwasserquelle in einer Region waren, in der es keine Flüsse gab. Wir können auch einen ähnlichen Prozess beim Aufstieg der Brahmanenkaste im Indien der vedischen Zeit sehen, die über Tausende von Jahren die gesellschaftliche Elite bleiben sollte.
Die Herausbildung einer Gesellschaftsschicht, die mit dem Mehrprodukt des Rests der Gemeinschaft erhalten wird und die die Arbeit anleitet, markiert einen Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte. Mit dieser Entwicklung geht in Mesopotamien das Neolithikum zu Ende, und wir sehen den Beginn dessen, was Gordon Childe die „urbane Revolution“ nannte. Es muss jedoch betont werden, dass Eridu um 5.800 v. Chr. mit Sicherheit noch keine Klassengesellschaft war, denn Produktion und Distribution waren im Wesentlichen noch immer kommunistisch organisiert. Die Priester konnten sich nur auf ihre natürliche Autorität in der Gemeinschaft stützen. In all den genannten Fällen spielte die „Priesterkaste“ anfangs eine Rolle, aus der die gesamte Gemeinschaft Nutzen zog. Die Priester dienten, wenn auch aus einer privilegierten Stellung heraus, der Gemeinde. Doch ab einem gewissen Punkt sollte dieser Diener zu einem Usurpator werden.
Die neue Arbeitsorganisation, die es in Eridu gab, beschleunigte die Entwicklung der Produktivkräfte noch weiter. Die großen Anbauflächen, die durch die Bewässerungssysteme zur Verfügung standen, erlaubten auch den effizienten Einsatz eines von Ochsen gezogenen Pfluges – ein großer Unterschied zu den bisherigen Arbeitsmethoden. Die verbesserte Wasserversorgung führte zu ersten Experimenten im Anbau von Bäumen, konkret der Dattelpalme.[54] Auf der Grundlage dieser Entwicklungen florierte die „Obed-Kultur“, benannt nach der Fundstätte in Tell el-Obed im heutigen Irak, die von 5.100 bis 4.000 v. Chr. existierte. In dieser Periode kam es zur Ausbreitung landwirtschaftlicher Siedlungen entlang der Bewässerungskanäle, wo überall derselbe, sehr hochwertige Keramikstil Verbreitung fand. Viele dieser Siedlungen gruppierten sich um eine zentrale Tempelstruktur, wie man sie auch in Eridu entdeckt hatte, doch die Tempel der Obed-Zeit waren viel bedeutsamer.
Laut archäologischen Erkenntnissen ist es offensichtlich, dass das deutlich gestiegene Mehrprodukt, großteils in Form von Getreide, nicht nur zu größerem Wohlstand der ganzen Gemeinschaft beigetrug, sondern auch den gesellschaftlichen Einfluss des Leitungsorgans steigerte. Die einzelnen Priester mochten sich zu diesem Zeitpunkt noch kaum selbst Vermögen angeeignet haben, aber die Institution des Tempels kontrollierte sicherlich einen immer größeren Anteil der gesellschaftlichen Arbeit und des daraus fließenden Mehrprodukts. Das bedeutete nicht notwendigerweise einen fundamentalen Bruch mit den egalitären Normen der Vergangenheit. Aber wenn die Gemeinschaft letzten Endes dank der Güte einer beschützenden Gottheit mit neuem Land und reichen Ernten gesegnet war, wer sollte dann wohl am besten das Mehrprodukt zum Dank erhalten?
Die Priester verschwendeten den von Gott gegebenen Wohlstand auch nicht leichtfertig. Aus der Obed-Zeit gibt es eine Reihe von Nachweisen über das Aufkommen spezialisierter Handwerker, und am Ende dieser Periode sollte erstmals eine Schicht von Spezialisten existieren, die ihre ganze Arbeitszeit lang einen Handwerksberuf ausübten und deren Werkstätten Teil des Tempelkomplexes waren.[55] Daraus können wir ableiten, dass zwischen den Priestern und den Handwerkern eine enge Beziehung bestand, und die Handwerker im Grunde vom Tempel beschäftigt wurden und dafür im Gegenzug Keramik, Kupferartefakte und Halbedelsteine erhielten. Hier sehen wir erneut die Entwicklung neuer Produktionsbeziehungen, die im Schoß der alten herangereift waren.
Die Obed-Kultur verbreitete sich in weiten Teilen Mesopotamiens und darüber hinaus. Das bedeutete jedoch keinesfalls, dass zu dieser Zeit bereits etwas bestanden hätte, das man als ein vereintes „Reich“ oder einen Staat bezeichnen könnte. Es fehlen jegliche Beweise, dass die verschiedenen Siedlungen in der Region, die von der Obed-Kultur beeinflusst waren, von den ursprünglichen Obed-Siedlungen erobert oder kolonialisiert worden wären. Viel wahrscheinlicher ist, dass im Zuge der Ausdehnung eines sehr komplexen Netzwerks von Handelsbeziehungen (Keramik, Kupfer, Halbedelsteine sowie das Vulkangestein Obsidian, das zur Herstellung scharfer Klingen verwendet wurde) die Gemeinschaften auch einen engen kulturellen Austausch pflegten. Dabei dürfte der Wohlstand von Siedlungen wie Eridu andere Gemeinschaften dazu inspiriert haben, die bei den reicheren Handelspartnern üblichen Produktionstechniken nachzuahmen. Das heißt aber nicht, dass sie von diesen Handelspartnern jemals „beherrscht“ wurden.
Die Gesellschaft der Obed-Zeit unterscheidet sich grundlegend von den Dorfgemeinschaften des frühen Neolithikums. Dennoch ähnelte die Obed-Gesellschaft in vielerlei Hinsicht weiterhin stärker dem Urkommunismus als den späteren Klassengesellschaften. Trotz der zunehmend ungleicheren Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und der zunehmenden Macht der Priester als Hüter des Mehrprodukts blieb die Gemeinschaft selbst unabhängig von anderen, sie war demokratisch organisiert und kannte noch keine Zwangsarbeit. Was wir in der späten Obed-Zeit sehen, kann daher als eine Art Übergangsgesellschaft charakterisiert werden, die sowohl von der urkommunistischen als auch den späteren Klassengesellschaften wichtige Elemente in sich trug. Doch aus den Verhältnissen, die sich in der Obed-Zeit entwickelten, sollte die erste Klassengesellschaft der Geschichte erwachsen, die auf der Herrschaft der Stadt über das Dorf und des Menschen über den Menschen basierte: Uruk.
Uruk ist neben dem Alten Ägypten einer der ersten Staaten der Weltgeschichte. Die Stadt Uruk entstand aus mehreren Obed-Siedlungen um 5.000 v. Chr. Wie andere Siedlungen dieser Epoche gruppierten sie sich um relativ große Tempelkomplexe: einer war An, dem Gott des Himmels, und der andere war Inanna, der Göttin der Liebe, gewidmet. Über die Zeit wuchsen die Dörfer zu einer einzigen, großen Stadt zusammen, in der um 3.100 v. Chr. rund 40.000 Menschen wohnten.
Als Uruk immer größer wurde und damit einhergehend eine Einwohnerschaft von spezialisierten und miteinander im Austausch stehenden Handwerkern entstand, war das Ende der einstigen Autarkie und somit auch der Unabhängigkeit der Gemeinden besiegelt. Die Ausrichtung auf eine handwerkliche Produktion in den Städten und auf die Lebensmittelproduktion in den Dörfern bedeutete, dass die Bevölkerung der größeren Siedlungen nicht mehr länger ausreichend Lebensmittel für die Eigenversorgung herstellte und deshalb begann, auf das Mehrprodukt der umliegenden Dörfer zurückzugreifen.[56] Aus dieser dramatischen Verschiebung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erwuchs die früheste Trennung zwischen Stadt und Land, die Marx als derart zentrales Merkmal bei der Herausbildung von Klassengesellschaften erachtete, dass man sagen kann, „daß die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft sich in der Bewegung dieses Gegensatzes resümiert.”[57]
Die Überschüsse aus der Lebensmittelproduktion der Dörfer wurden wohl als Opfergabe an die Götter, die in ihren jeweiligen Tempeln residierten, verwendet. Doch es muss dabei auch ein gewisses Element von Tauschbeziehungen gegeben haben. Die Bäuerinnen und Bauern erhielten Handwerksprodukte und Güter, zu denen sie ansonsten keinen Zugang gehabt hätten. Schließlich wurde diese Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit, aus der beide Seiten Nutzen zogen, transformiert und nahm die Form unverblümter Ausbeutung in Form eines „Zehents“[58] an, der von der Dorfbevölkerung an die Tempel in Uruk abgeliefert werden musste, und zwar unabhängig davon, ob die Bauern im Gegenzug etwas erhielten oder nicht. Notfalls erfolgten diese Abgaben auch unter Einsatz von Gewalt.
Zusätzlich zum Mehrprodukt forderte die Tempelbürokratie von der Masse der Bevölkerung auch Mehrarbeit ein. In Uruk kam es so zu einem Umschlagen von Quantität in Qualität in Form der direkten Kontrolle und Ausbeutung von Arbeit nach den Vorstellungen einer eigenen Klasse, die sich über die alten Gemeindestrukturen erhob und alle Macht an sich gerissen hatte.
Dieser historische Wendepunkt findet seinen physischen Ausdruck in den aus dieser Epoche erhaltenen Töpferwaren. Im Gegensatz zu den meisterhaften Schüsseln und Vasen der Obed-Kultur waren die meisten Keramikartefakte aus Uruk einfache Glockentöpfe. Das war aber kein Rückschritt: Uruk war eine blühende Stadt und seine Töpfer waren damit beschäftigt, das erste Massenprodukt der Geschichte herzustellen. Indem sie standardisierte Formen verwendeten, konnten diese Handwerker in einem kurzen Zeitraum tausende dieser Schalen herstellen.
Doch wer benutzte diese Schalen? Die häufigste Erklärung lautet, dass darin die Essensrationen an die Arbeitskräfte verteilt wurden, die erzwungene Corvée-Arbeit verrichten mussten. Dabei handelte es sich um Bauern aus den umliegenden Dörfern, die zwangsverpflichtet wurden, bei Projekten wie dem Bau von Bewässerungskanälen oder von Stadtmauern zu arbeiten. Außerdem mussten sie eine bestimmte Zeit die Felder bestellen, die dem Tempel gehörten.[59] Die große Anzahl solcher Schalen, die in Uruk und anderen Ausgrabungsstätten aus dieser Zeit entdeckt wurden, belegen die Masse der dort eingesetzten Arbeitskräfte und das Ausmaß dieser Großprojekte. Die Arbeiter wurden aus verschiedenen Dörfern rekrutiert und bei Projekten eingesetzt, die ihnen selbst oder ihren Familien wenig bis keinen direkten Nutzen brachten. Abseits der alten gemeinschaftlichen Strukturen nahmen neue Klassenbeziehungen Form an.
Die Veränderungen in den Produktionsverhältnissen brachten mit der Zeit auch neue Eigentumsverhältnisse hervor. Bevor es in Uruk zu diesen Entwicklungen kam, gehörte das gesamte Land kollektiv den Familien und konnte auch nicht an andere übertragen werden. Das bedeutete, dass Grund und Boden immer im Besitz und unter der kollektiven Kontrolle der Dorfgemeinschaft blieben, die sich, ähnlich wie bei den Gentes im Homerischen Griechenland, aus mehreren größeren Gruppen von Familien zusammensetzte. Hinweise auf diese gentile Eigentumsstruktur findet man auch noch viel später in der Frühdynastischen Zeit. In „Verträgen“ zum Erwerb von Feldern wurde festgehalten, dass der Käufer an die erweiterte Familie des Verkäufers „Geschenke“ verteilen musste, bevor er deren Erlaubnis erhielt, dass ein bestimmtes Grundstück aus der kollektiven Kontrolle in privates Eigentum übertragen werden konnte.[60] Doch diese neuen Verhältnisse, die mit dem Entstehen großer Städte aufkamen, bedrohten den bisherigen Zustand.
Als Uruk zu einer Stadt anwuchs, wurde das Land, das den Dorfgemeinschaften gehörte, die dort vorher existiert hatten, weiter nach dem alten Familiensystem verwaltet. Doch mit der Ausweitung der Bewässerungsprojekte, die mit Corvée-Arbeit unter der Anleitung des Tempels umgesetzt wurden, wurde neues Land urbar gemacht, auf das keine alten Familien- oder Gemeindestrukturen Anspruch erheben konnten und das daher nicht unter das alte Gemeinschaftssystem fiel. Dieses neue Land wurde dem Tempel übertragen. Mit der Zeit wurden Teile dieses Landes im Eigentum des Tempels an Individuen übertragen, die sich durch besondere Dienste gegenüber der Stadt verdient gemacht hatten. Diese Personen gehörten natürlich zur herrschenden Elite. Diese Übertragungen waren aber nur von temporärem Charakter und konnten auch wieder rückgängig gemacht werden; es war damit kein absoluter Eigentumsanspruch verbunden. Nichtsdestotrotz hatte dies den Effekt, dass eine Form des individuellen Eigentums über Grund und Boden geschaffen wurde, das unabhängig von dem der Dorfgemeinschaften bestand.
Die Auflösung der alten Gemeinschaftsordnung kann auch in der Stadt Uruk selbst nachvollzogen werden. Die Bürger von Uruk profitierten nicht alle im selben Ausmaß von dem Mehrprodukt, das den Dörfern entzogen wurde. Der Tempel übte die exklusive Kontrolle über das Mehrprodukt aus und eignete sich einen immer größeren Anteil davon selbst an. Was nicht unmittelbar von der Tempelbürokratie konsumiert wurde, wurde unter ihrer Kontrolle gelagert, verteilt oder gehandelt. Auf der anderen Seite hatte die Auflösung des Familiensystems eine Unterschicht hervorgebracht, die über keine Mittel verfügte. Der zunehmende Druck, der auf den Dörfern lastete, zwang jene Bauern, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen konnten, in die Verschuldung. Wer seine Schulden nicht begleichen konnte, konnte gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kindern vom Gläubiger versklavt werden. Aus der Spätphase Uruks gibt es auch Beweise für die Beschäftigung von Witwen und Waisen in einer Art von Sklavenarbeit zur Herstellung von Textilien. Sie arbeiteten in Werkstätten, die dem Tempel gehörten.[61] Die in diesen Werkstätten hergestellten Produkte wurden in der Folge gehandelt. Diese Handelsbeziehungen reichten oft über sehr lange Distanzen und hatten den Zweck, an begehrte Güter wie Kupfer oder Obsidian zu kommen.
Dieses neue Produkt der „Zivilisation“ gibt uns auch einen Hinweis auf die sich verschlechterte Stellung der Frauen in Uruk in dieser Phase. In der Stadt übten nur Männer die Tätigkeit als Handwerker und Priester aus, ihnen wurde somit auch das Land übertragen. Auf dem Land war der Getreideanbau, zu dem ein von einem Ochsen gezogener Pflug verwendet wurde, ebenfalls eine männliche Domäne geworden. Nachdem dieser Teil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung immer mehr an Bedeutung gewann, erlangten auch die Männer in der Gesellschaft eine immer dominantere Stellung.
Hatte die Frau einst die Stellung einer gleichwertigen Produzentin innerhalb der Familie inne, so wurde sie in der Folge „entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kinderzeugung“[62], wie es Friedrich Engels beschrieb. Das wurde auch von den Sumerern selbst so anerkannt, wie wir im Gilgamesch-Epos lesen können, wenn der Jäger von Schamkat, „der Hure“, fordert: „Dein Gewand entbreite, daß auf dir er sich bette,Schaff ihm, dem Wildmenschen, das Werk des Weibes!“[63] Mit dem Aufkommen der Vererbung in männlicher Linie gerieten Frauen völlig in Abhängigkeit von ihren Männern oder männlichen Verwandten. Wenn ihr Mann starb, war die Witwe gezwungen in einer Werkstatt des Tempels zu arbeiten, um überleben zu können oder die „Arbeit der Frau“ im Heim zu verrichten, um so den Wohlstand der herrschenden Klasse zu vermehren. Nicht zufällig merkte Engels an: „Der erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit der Entwicklung des Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche.“[64]
Wenn wir auf diesen Prozess des Entstehens einer Klassengesellschaft in Uruk zurückblicken, ist es nur schwer vorstellbar, dass dieser gigantische Umsturz einfach so hingenommen wurde. Doch er konnte auch nicht allein mit den Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden. Trotzki schrieb dazu: „Die historische Rechtfertigung für jede herrschende Klasse bestand darin, dass das Ausbeutungssystem, an deren Spitze sie stand, die Entwicklung der Produktivkräfte auf eine neue Stufe hob.“[65] Auf der Grundlage dieser Entwicklung stiegen der Lebensstandard und das kulturelle Niveau einer signifikanten Schicht in der Bevölkerung, speziell in den Städten. Diese Entwicklung lässt sich am Aufkommen der Schrift und des Geldes ablesen, zwei der wichtigsten Innovationen der Menschheitsgeschichte.
Die Entwicklung des Geldes, der Schrift und der Klassengesellschaft dürfte eng miteinander verwoben gewesen sein. Die Schrift entwickelte sich mehr oder weniger gleichzeitig in Mesopotamien und in Ägypten, doch aus Gründen der Einfachheit fokussieren wir uns in diesem Text auf Mesopotamien. Symbole auf Tontafeln, die als Token bezeichnet werden, dürften im Gebiet des heutigen Iran bereits 4.000 v. Chr. Anwendung gefunden haben. Wer drei Schafe verzeichnen wollte, nahm drei „Schaf“-Token und band sie mit einer Schnur zusammen. Mit der Zeit, als die Herden größer wurden, erfand man Symbole, die verschieden große Mengen an Viehbestand repräsentierten. Diese Tokens wurden dann oft in eine Tonhülle, die als bulla bezeichnet wurde, eingeschlossen und dann in einem Backofen gebrannt.[66] Auf piktographischen Tafeln, die man in Ausgrabungsstätten wie Tell Brak in Syrien fand, sieht man Bilder von Tieren neben Zahlen, was zeigt, dass sich die Verwendung von Symbolen schon vor dem Auftreten eines Schriftsystems entwickeln konnte.
In Uruk entwickelte sich, gestützt auf die Piktogramme der vorangegangenen Periode, ein Schriftsystem, das es den Beamten im Tempel erlaubte, das ökonomische Leben zu organisieren. Um 3.200 v. Chr. dürfte diese Keilschrift (benannt nach der keilartigen Form der Schriftzeichen) entstanden sein. Die uns bekannten Keilschrifttafeln aus Uruk dienten zu 85% der Aufzeichnung wirtschaftlicher und sonstiger administrativer Belange. Ein so außerordentlich komplexes Schriftsystem, wie jenes der Keilschrift, setzt die Existenz einer Schicht in der Gesellschaft voraus, die die Zeit hatte, lesen und schreiben zu lernen: die Schriftgelehrten. Da sie über ein besonderes Wissen verfügten, nahmen sie sowohl in Mesopotamien als auch in Ägypten im Rahmen der herrschenden Klassen eine sehr wichtige Stellung ein. Wie es in der Lehre des Cheti im alten Ägypten zu lesen steht: „Du siehst: Es gibt keinen Beruf ohne Chef. Mit Ausnahme des Schreibers – der ist selbst Chef!“[67]
Auch wenn die Schrift als Verwaltungshilfsmittel aus einer ökonomischen Notwendigkeit heraus entstand, kam sie in der Folge auch auf vielen anderen Gebieten zum Einsatz. Die Keilschrift wurde über Tausende von Jahren in ganz Mesopotamien verwendet. Schließlich wurden auch die ersten Werke der Literatur und der Dichtkunst, wie das berühmte Gilgamesch-Epos, oder die Hurritischen Hymnen (wie die Hymne an Nikkal), die ältesten heute noch bekannten Lieder, oder der Codex Hammurapi alle in Keilschrift verfasst. In diesem Sinne trägt jeder Poet den „Scherbenhaufen“ eines Buchhalters in sich.
So wie das Wachstum des Mehrprodukts und die zunehmende Macht der Tempelbürokratie ein gesellschaftliches Bedürfnis nach schriftlicher Kommunikation und Informationsweitergabe geschaffen haben, so machte auch die verstärkte Spezialisierung und die damit einhergehende wechselseitige Abhängigkeit innerhalb der Gesellschaft einen konstanten Austausch von immer mehr Produkten notwendig. In Uruk erfolgte dieser Austausch großteils über den Tempel. Ein Töpfer, der Glockentöpfe herstellte, konnte zum Beispiel davon ausgehen, dass er vom Tempel dafür eine ausreichend große Ration Gerste bekam, die als eine Art Zehent in den Dörfern eingehoben wurde.
Was das Ausmaß und die Komplexität der über den Tempel laufenden Distribution anlangt, so ging dies weit über die Tauschbeziehungen in der neolithischen Periode hinaus. Deshalb benötigte man auch ein objektiveres System an Maßeinheiten. Silbergewichte wurden in Gran, Schekel, Mine und Talent gemessen. Aus diesem System entstanden dann Zähleinheiten, womit die Tempelbeamten den Wert der verschiedenen Waren miteinander vergleichen konnten, was wiederum die früheste und grundlegendste Stufe in der Entwicklung des Geldes – „als allgemeines Maß der Werte“[68] – darstellt. Diese Funktion übernahmen anfangs die Volumina von Gerste und die Gewichte wertvoller Metalle: 300 Liter Gerste entsprachen einem Schekel Silber. Diese frühen Formen von Geld zirkulierten gewiss nicht in Form von Münzen in der Bevölkerung. In der Tat wurde im Tempel mit Gerste und Silber der Wert von Produkten bestimmt. Aber wie die Schrift sollte auch das Geld nicht für immer und ewig den Tempelbürokraten vorbehalten sein. Es war dazu prädestiniert, in der Geschichte der Zivilisation eine größere Rolle einzunehmen.
Das Zeitmaß wurde mit dem Sexagesimalsystem ebenfalls standardisiert, mit dem man erstaunlicherweise die Länge des Jahres mit 12 Monaten bzw. 360 Tagen festsetzte. Auf dieses System lässt sich auch zurückführen, dass unsere Stunden 60 Minuten haben. Gleichermaßen wurden standardisierte Längenmaße eingeführt, um die Planung der Bewässerungskanäle und Felderbewirtschaftung zu unterstützen. All diese Innovationen, die, wie schon Aristoteles bemerkte, erst durch die Freistellung der Priester und Schriftgelehrten von der Handarbeit möglich wurden, beflügelten das wissenschaftliche Denken in unvorstellbarem Ausmaß und führten zur Entwicklung der Astronomie und der Mathematik.
Für die Zeit um 3.100 v. Chr. gibt es ausreichend Beweise für die Existenz einer Klasse von Priestern und Schriftgelehrten, deren Machtzentrum der Tempel war. Sie übten die ausschließliche Kontrolle über die Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums aus und begannen für sich selbst privaten Reichtum zu sichern, den sie auch vererben konnten. Wir können auch sehen, dass sich diese Klasse ihrer Stellung selbst bewusst wurde, und zwar in dem Sinne, dass sie sich als eine Gruppe verstand, die sich über den Rest der Gesellschaft erhoben hatte und die eine Herrschaftsideologie propagierte, die ihre sozialen Interessen widerspiegelte.
Ein weiteres Merkmal des Aufkommens einer neuen herrschenden Klasse in Uruk war der Aufstieg erster „Priesterkönige“, denen Statuen gewidmet wurden und die auf Tonsiegeln dieser Periode abgebildet wurden. Es gibt jedoch keine historisch belegbaren Akten, die mit diesen anonymen Herrschern zuverlässig assoziiert werden können. Selbst die Bezeichnung „Priesterkönig“ ist nicht ganz zutreffend, da der früheste Titel, der für den Herrscher von Uruk nachgewiesen werden konnte, En lautet, was ganz einfach „hoher Priester“ bedeutet. Ob diese Könige wirklich als Staatsoberhaupt im vollen Sinne des Wortes angesehen werden können, ist in Fachkreisen noch umstritten. Wir können aber sicher sein, dass das Auftreten dieser „Priesterkönige“ eine weitere qualitative Verschiebung im Auflösungsprozess der alten gemeinschaftlichen Sozialordnung war und den Anfang einer neuen Form politischer Ordnung markierte.
Mit der deutlichen Zunahme an Überschüssen aus der Landwirtschaft und deren Konzentration in den Tempeln wurde es für Städte wie Uruk zunehmend wichtiger, Stadtmauern zu errichten und eine Art militärische Verteidigung zu organisieren, um Überfälle von nomadischen Hirtenstämmen oder rivalisierenden Städten abwehren zu können. Diese militärische Organisation machte auch eine Kommandostruktur erforderlich. Tonsiegel aus jener Zeit lassen vermuten, dass die Priesterkönige von Uruk und die späteren sumerischen Herrscher diese Rolle einnahmen.[69]
Unter dem König stand in der Hierarchie der unkin, eine Versammlung von Vertretern der Gemeinschaft, die aber keine einfache Fortsetzung der alten Gemeindeorganisation war. Die alten Dorfversammlungen hatten einst Entscheidungsbefugnisse, um Konflikte innerhalb der Familien des Dorfes schlichten zu können. Im Gegensatz dazu beanspruchte der aufkommende Staat, oder Proto-Staat, die absolute Autorität nicht nur über die Stadt, in der der Priesterkönig residierte, sondern auch über die umliegenden Gebiete. Die Versammlung konnte ihn beraten, wie die „Ältesten“ im Gilgamesch-Epos, die den ungestümen König vor einem Kampf mit dem Riesen Chumbaba warnten.[70] Doch schlussendlich unterstand der Priesterkönig nur dem Gott, der die Stadt beschützte, und in Wirklichkeit der herrschenden Klasse, in deren Interesse er regierte.
Nicht lange nach dem Aufstieg der Priesterkönige durchlebte Uruk eine Periode von Krisen, die auch zum Niedergang dieser „ersten Urbanisierung“ führte. Nach 3.100 v. Chr. ist nicht nur ein bedeutsamer Abstieg der Uruk-Kultur erkennbar,[71] sondern der kontinuierliche Niedergang bis zum völligen Verschwinden anderer Städte in der Region, die mehr oder weniger zeitgleich mit Uruk entstanden waren. So fand man in der Ausgrabungsstätte von Arslantepe, im Norden Mesopotamiens, Beweise, dass der Tempelkomplex der Stadt durch ein Feuer zerstört und nie mehr wiederaufgebaut wurde.[72]
Die Quellen sind jedoch zu rar, um die Gründe dieses weitverbreiteten Zusammenbruchs definitiv klären zu können. Ein möglicher Faktor könnte eine Dürreperiode gewesen sein. Vielleicht war die Bewirtschaftung der Felder zu intensiv und stieß an ihre Grenzen. Es können aber auch andere soziale Faktoren eine wichtige, wenngleich nicht entscheidende Rolle in diesem Niedergangsprozess gespielt haben. Wie man über die gesamte Geschichte der Klassengesellschaften, einschließlich unserer Periode, beobachten kann, versucht die herrschende Klasse stets die Lasten einer Krise auf die Schultern der Arbeitenden abzuwälzen. Wenn die Produktion ausgeweitet werden konnte, war es auch durchaus möglich, die neuen Klassenwidersprüche in der Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad zu verschleiern, doch mit dem Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion, so können wir annehmen, wurde wahrscheinlich der Interessenskonflikt zwischen der Dorfbevölkerung und der herrschenden Klasse in den Städten deutlich sichtbar.
Mario Liverani behauptet in seinem Buch The Ancient Near East, dass die Zerstörung des Tempels von Arslantepe durch einen Brand auf eine gewaltsame Auseinandersetzung hindeuten würde. Was man mit ziemlicher Gewissheit sagen kann, ist, dass an der Stelle des Tempels nur einige wenige einfache Haushalte errichtet wurden und keine zentralisierte Tempelstruktur mehr entstand. Es ist durchaus im Rahmen des Möglichen, dass ein ähnlicher Kampf auf dem Territorium von Uruk ausgebrochen war, indem Dörfer den Forderungen des Tempels nach einer Steigerung des Mehrprodukts nicht länger nachkommen wollten und versuchten, sich aus dieser Herrschaft zu befreien.
Infolge der Krise Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. taucht eine völlig neue architektonische Struktur auf: der Palast. Uruk und ähnliche Siedlungen hatten in ihrem Zentrum einen Tempelkomplex, wo das gesamte Mehrprodukt gelagert und verwaltet wurde. Spätere Siedlungen wie Jemdet Nasr verfügten sowohl über einen Tempel- wie auch einen Palastkomplex, mit Lagerhallen und Werkstätten ähnlich den Tempeln der Uruk-Periode.[73] Der Palast, genannt e-gal (was so viel bedeutet wie „großes Gebäude“), diente also als wirtschaftliches und administratives Zentrum und war die Residenz des lugal („großer Mann“). Von diesem Zeitpunkt an ist die Existenz des Staates im eigentlichen Wortsinn unumstritten.
Die Krise, die Uruk durchlebte, und der völlige Niedergang anderer Orte wie Arslantepe lassen darauf schließen, dass die Priester trotz ihrer beachtlichen ideologischen Macht doch nicht über die nötigen Mittel zur Ausübung offener Gewalt gegen die arbeitende Bevölkerung verfügten. Die ersten Armeen existierten im Wesentlichen noch in Form der bewaffneten Bevölkerung, die zum Militärdienst herangezogen wurde. Wenn das Volk selbst aufbegehrte, hatten die Priester kaum bewaffnete Kräfte, auf die sie sich stützen konnten. Um die neuen Klassenverhältnisse abzusichern, war eine permanente Kraft von hauptberuflichen Soldaten[74] vonnöten, die vom Rest der Bevölkerung weitgehend abgesondert waren. Diese Kraft sollte die Stadt nicht nur gegen äußere Feinde beschützen, sondern auch die herrschende Klasse vor den unterdrückten Massen verteidigen. Aus diesen „besonderen Formationen bewaffneter Menschen“ sollte der Staat entstehen, an dessen Spitze ein „großer Mann“ stand. Wie schon Engels darlegte:
„Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungne Macht; ebensowenig ist er ‚die Wirklichkeit der sittlichen Idee‘, ‚das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft‘ (…) Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der ‚Ordnung‘ halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangne, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.“[75]
Im Gegensatz zu dieser Auffassung behaupteten anarchistische TheoretikerInnen, der Staat sei die Wurzel allen Übels und dass Klassenunterdrückung, Ungleichheit und Geld erst auf der Grundlage der organisierten Gewalt von Herrschern und Staaten entstehen konnten. David Graeber zum Beispiel behauptet, dass „die Ursprünge des Geldes bei Verbrechen und Vergeltung zu finden sind, bei Krieg und Sklaverei, Ehre, Schuld und Sühne“.[76] Doch diese These steht im deutlichen Widerspruch zu den archäologischen Erkenntnissen, die eher für die Position von Engels sprechen.
Wo der Anarchismus in Bezug auf den Staat durchaus richtig liegt, ist die Betonung der absoluten Wechselbeziehung von Staat und Klassengesellschaft. Die Geschichte von Uruk zeigt, dass keine Klassengesellschaft dauerhaft überleben kann, wenn es nicht einen Staat gibt, der die herrschende Klasse beschützt und in der Gesellschaft eine regulierende Funktion einnimmt. Wenn wir Klassenausbeutung jedoch als Produkt des Staates interpretieren, dann würden wir das Pferd von hinten aufzäumen. Solange wir nicht den Staat mit jeglicher Form von Gewalt und Kontrolle gleichsetzen, und so den Staatsbegriff verewigen und bedeutungslos machen, dann ist aus der Erforschung der ersten Staaten offensichtlich, dass sich die Klassengesellschaft zu dem Zeitpunkt, als die ersten echten Könige und ein erster Staatsapparat aufkamen, bereits in einem Entstehungsprozess befand.
Dass der Aufstieg der Klassengesellschaft überall die gewaltsame Schaffung eines Staates erforderte, spiegelt nur die Tatsache wider, dass die endgültige Auflösung der alten gemeinschaftlichen Verhältnisse, die sich über Jahrtausende anbahnte, nicht auf friedlichem und graduellem Wege vor sich ging. Ein viel zu großer Teil der Gesellschaft hatte Interessen, die unmittelbar mit den neuen Ausbeutungsverhältnissen in Konflikt standen. Gleichzeitig gab es offensichtlich sehr einflussreiche Sektoren in der Gesellschaft, die von der neuen Ordnung sehr profitierten. Daraus erwuchs ein Konflikt, der an einem entscheidenden Punkt die Gesellschaft in zwei gegensätzliche Lager spaltete und der letztlich nur mit den Mitteln der Gewalt gelöst werden konnte:
„Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.“[77]
Die Staatsgründung in Mesopotamien liefert uns ein beeindruckendes Beispiel, wie die Klassengesellschaft aus der gemeinschaftlichen Gesellschaft des Neolithikums entstehen konnte. Gordon Childe erarbeitete eine Liste von wichtigen „Merkmalen“, die er bei diesen frühen Klassengesellschaften entdeckte. Dazu zählten „spezialisierte Handwerker, Transportarbeiter, Kaufleute, Beamte und Priester“, die Aneignung des Mehrprodukts, die Schrift sowie „eine staatliche Organisation basierend auf dem Wohnort und weniger auf Verwandtschaftsverhältnissen.“[78]
Die KritikerInnen von Childe haben diese wertvolle Beschreibung von einem der wichtigsten Prozesse der Menschheitsgeschichte zu einer Art „Rezept“ für die Gründung von Staaten verabsolutiert. In dieser Darstellung wird der Staat gleichgesetzt mit einer Gesellschaft, in der es Städte sowie die anderen hier angeführten Merkmale gibt. MarxistInnen verstehen, dass Gesellschaften, in denen es einen Staat gibt, nicht auf eine derartige Liste von Merkmalen reduziert werden können. Es gibt Zivilisationen, wie die Inka, die keine Schrift entwickelten; und in anderen, wie dem Alten Ägypten spielten Städte bei weitem nicht so eine große wirtschaftliche Rolle wie in Mesopotamien. Anstatt Gesellschaften allein auf der Grundlage von oberflächlichen Erscheinungen empirisch, taxonomisch zu klassifizieren, ist es notwendig, ihren Ursprung, ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zu anderen Gesellschaften der damaligen Zeit genauer zu betrachten.
Im Kapital schreibt Marx ausführlich über die Entwicklung des Kapitalismus in England, wo dieser seine „klassische Form“[79] besaß, andere Länder sind ihm jedoch nur beiläufige Erwähnungen wert. Gleichzeitig behauptete er an keiner Stelle, dass der Prozess, wie er in England vor sich gegangen war, der einzig mögliche Weg sei, wie sich eine kapitalistische Gesellschaft entwickeln könnte. Die Elemente, die England zum klassischen Land der kapitalistischen Entwicklung machten, trugen auch dazu bei, dass England eine Sonderstellung einnehmen konnte. Die Tatsache, dass England das erste Land war, in dem sich aus der Entwicklung des Feudalismus eine kapitalistische Ökonomie formierte, bedeutete, dass sich der Prozess über Hunderte von Jahren zog und viele Übergangsformen annahm. Das erlaubte eine sehr genaue Erforschung des zugrunde liegenden, generellen Prozesses, der sich nicht nur in England, sondern in vielen Ländern vollzog. Das bedeutet aber umgekehrt nicht, dass jedes Land dieselbe Stufe einer auf den Markt ausgerichteten Wollproduktion, gefolgt von Manufakturen und schlussendlich dem Fabriksystem durchlaufen musste, um eine kapitalistische Produktionsweise zu entwickeln.
Dasselbe kann über die sogenannten „ursprünglichen“ Staaten in Sumer, Ägypten und China gesagt werden. Diese frühen Klassengesellschaften waren alles andere als „ursprünglich“, sondern äußerst widersprüchlich und trugen noch den Stempel früherer, kommunistischer Verhältnisse. Jene, die zu späterem Zeitpunkt und bereits unter dem Einfluss dieser Zivilisationen entstanden, durchliefen eine viel schnellere Entwicklung und ohne viel von dem urgeschichtlichen Erbe, das in Uruk noch vorzufinden war. Die sumerischen Stadtstaaten wie Ur, die sich später entwickelten, konnten Stufen in der Entwicklung ihrer Vorgänger überspringen. Das Privileg als erste Gesellschaft eine gewisse Entwicklung durch zu machen, wird schnell vom „Privileg der Rückständigkeit“ abgelöst werden, wobei ökonomisch rückständigere Gesellschaften sich schneller und planmäßiger entwickeln können, in dem sie sich auf die Errungenschaften der bereits fortgeschritteneren Konkurrenten stützen. Dieses Phänomen kommt im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder vor, so auch in der Entwicklung des Kapitalismus.
Einen ähnlichen Prozess beschreibt Engels in seinem Buch Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Darin erklärt er, dass die Ursprünge des Staates im antiken Athen bis zu den massiven sozialen Unruhen zurückverfolgt werden können, die ihre Ursache in der „zersetzenden“ Wirkung von Privateigentum, Sklaven- und Geldwirtschaft hatten. Unter diesen Bedingungen setzte sich die Klassengesellschaft in Athen nicht nur viel schneller durch als in Uruk, sondern nahm auch eine ganz andere Form an. So gab es keine zentralisierte Tempelbürokratie und auch kein Steuersystem als vorrangiges Mittel zur Aneignung des Mehrprodukts. Athen war eine Gesellschaft, die sich auf eine qualitativ andere Produktionsweise stützte, weil das Privateigentum und damit einhergehend die Sklavenwirtschaft ein anderes Ausmaß erreicht hatten. Der Grund, warum das so war, liegt darin begründet, dass sich Athen erst später, auf der Grundlage der Eisenproduktion und nicht der Technologie der Bronzezeit, und – verglichen mit Sumer und Ägypten – unter anderen Umweltbedingungen entwickelt hatte.
MarxistInnen werden oft dafür kritisiert, bei der Analyse des Entstehens von Klassengesellschaften eine sehr rigide Schablone zu verwenden. Wenn wir aber die marxistische Methode ordentlich anwenden, zeigt sich sehr rasch, dass das Gegenteil der Fall ist. Wir könnten sogar sagen, dass es zu den ehernen Gesetzen des historischen Materialismus gehört, dass die ständige Interaktion zwischen Gesellschaften, die sich auf verschiedenen Entwicklungsstufen befinden, notwendigerweise Sprünge und sehr vielfältige Formen der sozialen Entwicklung hervorbringt. Leo Trotzki verwendete in Bezug auf dieses Phänomen den Begriff der „kombinierten und ungleichen Entwicklung“.
Was auch immer die Unterschiede zwischen Mesopotamien und Ägypten, zwischen dem Maurya-Reich und den Maya, oder zwischen Griechenland und Rom gewesen sein mögen, der Prozess, der der Herausbildung dieser Staaten zugrunde lag, war stets derselbe. In all diesen Fällen führte die notwendige Entwicklung der Produktivkräfte zur Erzeugung eines gesellschaftlichen Mehrprodukts, das es einer Gruppe von Menschen ermöglichte, von der Arbeit anderer Menschen zu leben. Diese Gruppen entwickelten sich in der Folge zu einer eigenen Klasse mit eigenen Interessen; entweder aufgrund von äußerem Druck oder aufgrund der inneren Widersprüche dieser neuen Klassengesellschaften (gewöhnlich wird beides der Fall gewesen sein), erhob sich früher oder später ein Staat, der die Interessen der herrschenden Klasse repräsentierte, über den Rest der Gesellschaft und nahm die Rolle eines Hüters der „Ordnung“ ein – sprich der Stabilität und der bestehenden Produktionsverhältnisse. Dieser Prozess konnte unterschiedlichste Formen annehmen und sich in gewissen Fällen über Tausende von Jahren erstrecken, in anderen Fällen vollzog er sich viel schneller. Doch die wichtigste Lehre aus der Geschichte ist, dass die Herausbildung des Staates grundsätzlich von der Entwicklung sozialer Klassen und den sich daraus ergebenden Klassenwidersprüchen hervorgerufen wurde.
Das soll nicht heißen, dass sich der Staat und Klassen in jeder Gemeinschaft, die ein gewisses ökonomisches Niveau erreicht hatte, automatisch entwickeln musste. Ein solcher Prozess konnte unterbrochen werden, sich wieder verlangsamen oder unter dem Eindruck bestimmter historischer Ereignisse, speziell im Zuge von Klassenkämpfen in den besagten Gesellschaften, auch wieder rückgängig gemacht werden. Marx erklärte dazu in Die Heilige Familie:
„Die Geschichte tut nichts, sie ‚besitzt keinen ungeheuren Reichtum‘, sie ‚kämpft keine Kämpfe‘! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die ‚Geschichte‘, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.“[80]
Individuen konnten im Prozess der Herausbildung der frühen Staaten eine sehr entscheidende Rolle spielen, wie dies auch im modernen Klassenkampf der Fall ist. In der Archäologie ist ein Konzept sehr populär, wonach der Übergang vom Häuptlingstum zu einem Staat mit einem Herrscher an der Spitze auf die Rolle „großer Männer“ zurückzuführen ist. Die Motivation dieser „großen Männer“ sei die Steigerung ihrer eigenen persönlichen Macht gewesen. Dieses Geschichtsbild präsentiert die Taten großer Einzelpersonen als einen unabhängigen, zentralen Faktor in der Menschheitsgeschichte. Auf der Grundlage einer materialistischen Herangehensweise an die Gründung von Staaten ist es jedoch möglich, diesen „großen Männern“ den ihnen gebührenden Platz zuzuweisen. Am Beispiel der ägyptischen Staatsgründung wird das sehr deutlich, weil wir viele Funde haben, die Rückschlüsse auf aufwändige Begräbnisrituale und die Bestattung von Königen ermöglichen.
Anhand von Darstellungen von Narmer, dem Pharao, der Ober- und Unterägypten vereinte, können wir sehen, dass der Staatsgründungsprozess in Ägypten alles andere als automatisch erfolgte. Die Narmer-Palette, eine der ersten uns bekannten Abbildungen eines Königs in der Menschheitsgeschichte, zeigt Narmer mit der Krone Oberägyptens, wie er mit einer Keule in der Hand einen Mann aus Unterägypten zur Aufgabe zwingt. Die frühdynastischen Könige bekamen keinen fixfertigen Staat vererbt, sondern mussten diesen mittels Gewalt erst errichten.
Wäre Narmer ein inkompetenter, feiger Anführer gewesen, dann hätte die Gründung des ägyptischen Staates gewiss andere Formen angenommen. In diesem Sinne sind die Persönlichkeit und die Taten von Individuen sogar von entscheidender Bedeutung: Wie sich historische Ereignisse abspielen, hängt immer von den handelnden Menschen ab. Ehrgeizige, charismatische Individuen gab es zu jedem Zeitpunkt der Geschichte. Die Frage, die wir jedoch beantworten müssen, wenn wir den Staatsgründungsprozess erklären wollen, ist, warum diese Individuen ausgerechnet an diesem konkreten Punkt der Geschichte ihre Ziele auf so geschichtsmächtige Art und Weise erreichen konnten.
Individuen wie Narmer in Ägypten, König Jaguar bei den Zapoteken oder die lugals in Sumer mögen aus Eigeninteresse gehandelt haben, doch sie reflektierten auch die historische Notwendigkeit, die sich aus den Widersprüchen der jeweiligen Klassengesellschaft ergab. In den Worten Plechanows:
„Ein großer Mann ist nicht dadurch groß, daß seine persönlichen Besonderheiten den großen geschichtlichen Geschehnissen ein individuelles Gepräge verleihen, sondern dadurch. daß er Besonderheiten besitzt, die ihn am fähigsten machen, den großen gesellschaftlichen Bedürfnissen seiner Zeit zu dienen, die unter dem Einfluß der allgemeinen und besonderen Ursachen entstanden sind.“[81]
Wie die Erbauer des Tempels in Göbekli Tepe und die neolithischen Siedler, die die Sumpfgebiete von Sumer trockenlegten, so waren auch die ersten „großen Männer“ Individuen, die mit ihren Taten und Fähigkeiten Geschichte schrieben. Das erreichten sie aber nicht allein kraft ihres Willens. Ihre Vision von der Zukunft knüpfte an die Bedingungen an, die durch andere materielle Faktoren geschaffen worden waren und die stärker sind als der Wille einzelner Menschen.
In den Anfängen der Klassengesellschaft gehört die Überwindung der Dorfgemeinde und die Gründung von Staaten zu den „großen gesellschaftlichen Bedürfnissen“ jener Zeit. Es brauchte eine Lösung der Krise, die in der Gesellschaft Wirkung entfaltete, und der Staat schien diese Lösung zu bieten. Das Handeln von Führungspersönlichkeiten vom Schlage eines Narmer spielte dabei eine wichtige Rolle. Viele HistorikerInnen und ArchäologInnen machen aber den Fehler, dass sie nicht den Zusammenhang zwischen der Rolle des Individuums und dem Faktor geschichtlicher Notwendigkeit erkennen, obwohl in allen historischen Ereignissen beides zusammenspielt. In der Realität kommt genau durch den Konflikt unzähliger individueller Willenskundgebungen die historische Notwendigkeit zur Geltung.
Angesichts der harten Lebensbedingungen, denen neolithische Bauern ausgesetzt waren, und der Ausbeutung, die so viele ihrer Nachkommen in den frühen Klassengesellschaften erleiden mussten, wird oft bezweifelt, ob es legitim ist, diese Entwicklung überhaupt als „Fortschritt“ zu beschreiben. Mit Gewissheit können wir sagen, dass der liberale Mythos von einem aufgeklärten „Gesellschaftsvertrag“, in dessen Rahmen die gesamte Menschheit in Frieden und Wohlstand lebte, offenkundig falsch ist. Das Leben eines sumerischen Bauern war wahrscheinlich genauso „armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ wie das seiner neolithischen Vorfahren. Fortschritt kann auch nicht als eine Art moralischer Überlegenheit gegenüber vorangegangenen historischen Epochen aufgefasst werden, wenn man die Versklavung der Frau berücksichtigt. Das einzige Konzept von Fortschritt, das stimmig ist, liefert eine Analyse der Entwicklung der Produktivkräfte: die Beherrschung der Naturkräfte durch den Menschen und die Kontrolle des Menschen über seine eigene gesellschaftliche Entwicklung.
Wenn wir unter Fortschritt eine Verbesserung in allen Lebensbereichen für alle Menschen verstehen, dann wird es uns schwerfallen, ausgehend von der letzten Eiszeit genuinen Fortschritt für die Menschheit ausfindig machen zu können. Nichtsdestotrotz ist der Fortschritt der Menschheit als Gesamtheit in dieser Periode unübersehbar. Zwischen 5.000 v. Chr. und 2.000 v. Chr. wuchs die Weltbevölkerung von schätzungsweise 5 Millionen auf 25 Millionen Menschen an.[82] Liverani schätzt, dass der Aufstieg der ersten Stadtstaaten, im Vergleich zum Niveau des Neolithikums, mit einer Verzehnfachung der Produktion einherging.[83] Dieser Anstieg in der Produktivität, der auch mit wichtigen, noch für uns heute relevanten Entdeckungen auf den Gebieten der Naturwissenschaft, der Mathematik und der Kunst einherging, wurde unter Verhältnissen erreicht, die viel ungleicher und unterdrückerischer waren; und er verfestigte diese Verhältnisse noch mehr. Dasselbe könnte über den Aufstieg des Kapitalismus gesagt werden. Was aber sowohl den Aufstieg der ersten Klassengesellschaften als auch des Kapitalismus fortschrittlich machte, war nicht die abstrakte moralische Überlegenheit dieser Gesellschaftsordnungen, sondern deren konkrete Notwendigkeit als Stufen in der Entwicklung der Produktivkräfte. Und nur in dieser Form konnte eine weitere Entwicklung vonstatten gehen.
Die Tatsache jedoch, dass Ausbeutung und Unterdrückung zu einem bestimmten Zeitpunkt ein notwendiger Teil gesellschaftlicher Entwicklung waren, bedeutet nicht, dass das für immer und ewig der Fall sein muss. Der Urkommunismus war notwendig und unvermeidlich, und dennoch war seine Überwindung ebenfalls unvermeidlich. Mit welchem Recht kann die Klassengesellschaft als letztgültige und absolute Ausdrucksform der menschlichen Natur angesehen werden? In der Geschichte wie in der Natur ist „alles was entsteht; wert, dass es zugrunde geht“; alles, was der Entwicklung dient, ist schlussendlich dazu verdammt, durch den Lauf der Dinge überwunden zu werden.
Jede Errungenschaft, die dem Menschen in seinem Existenzkampf gelungen ist, stellt ihn vor neue Hürden, konfrontiert ihn mit neuen Bedrohungen. Diese zu meistern, ist die Aufgabe des Kampfes um weiteren Fortschritt. Das gilt umso mehr in einer Klassengesellschaft, in der „jeder Fortschritt zugleich ein relativer Rückschritt [ist], in dem das Wohl und die Entwicklung der einen sich durchsetzt durch das Wehe und die Zurückdrängung der andern“.[84] Der wahre Gehalt von Fortschritt, die Entwicklung der Produktivkräfte der Menschheit, wird somit in einer Abfolge von in sich begrenzten und widersprüchlichen Formen realisiert. Wenn uns aus heutiger Sicht vergangene Ausdrucksformen dieser Entwicklung verwerflich erscheinen, dann sagt uns das vor allem, dass sie mit der Zeit obsolet geworden sind. Das widerspricht keinesfalls der Tatsache, dass es im Allgemeinen einen Fortschritt gibt.
Wir leben heute in einer Welt, in der die Produktivkräfte an die Grenzen stoßen, die ihnen durch das Privateigentum, den sogenannten „freien Markt“ und die Teilung der Welt in kapitalistische Nationalstaaten, gesetzt sind. Die regelmäßigen Wirtschaftskrisen, imperialistische Kriege und die zunehmende Bedrohung durch den Klimawandel sind allesamt Hinweise dafür, dass es unter kapitalistischen Bedingungen für die Menschheit keinen Fortschritt geben kann. Nur durch die Überwindung dieses dahinsiechenden Systems können wir hoffen, die Menschheit aus diesem Alptraum zu befreien. Doch das ist nur denkbar, wenn es gelingt, die gigantischen Produktivkräfte, die von Milliarden eigentumsloser ArbeiterInnen geschaffen wurden, in öffentliches Eigentum zu überführen und die Weltwirtschaft nach dem Vernunftprinzip und auf demokratischer Grundlage zu planen. Kurzum, der weitere Fortschritt der Menschheit setzt das Ende der Klassengesellschaft und des Staates voraus.
Friedrich Engels schrieb in diesem Sinne schon im Jahr 1884:
„Wir nähern uns jetzt mit raschen Schritten einer Entwicklungsstufe der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives Hindernis der Produktion wird. Sie werden fallen, ebenso unvermeidlich, wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.“[85]
Heute haben wir diese Stufe längst erreicht. Die Bedingungen für die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung des Sozialismus sind nicht nur gegeben, sie sind überreif. Kämpfen wir dafür, dass Engels’ Vorhersage Wirklichkeit wird und bauen wir eine Zukunft, in der die obersten Prinzipien die Freiheit und die Bedürfnisbefriedigung für die gesamte Menschheit sind.
Josh Holroyd und Laurie O´Connel, International Marxist Tendency
Für eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Thema und den beschriebenen Prozesse empfehlen wir folgende Literatur:
Andere wichtige Quellen des Artikels:
Quellenverzeichnis:
[1] Karl Marx (1847/1977): Das Elend der Philosophie, in: MEW Bd. 4. Dietz Verlag, Berlin, S. 160.Nordamerika — von Alan Woods, marxist.com — 27. 11. 2024
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024