In Genf führte eine versuchte Arbeitszeitverlängerung bei den Oberstufenlehrern zu einer Reihe von Arbeitskämpfen, die im Frühling 2024 in einen Streik mündeten. Letzten Monat wurden die Verhandlungen ergebnislos beendet. Wir trafen die langjährige Oberstufenlehrerin Morgane (Name d. R. bekannt) und besprachen die Umstände, unter denen diese Angriffe und Arbeitskämpfe stattfinden.
Wie haben sich die Lehrbedingungen in den letzten Jahren verändert?
Klar ist, dass sich die Problemherde über die Jahre stetig angehäuft haben. Meiner Meinung nach sind die Schüler geschädigt, ja sie werden gehindert. Die Schule steht der Verschlechterung des psychischen und sozialen Klimas machtlos gegenüber. Die Umstände der Schüler führen zu aller Art von dramatischen Missständen, die wir dann irgendwie bereinigen müssen. Es handelt sich um eine allgemeine Tendenz: Das Sozialwesen durchlebt ebenso eine Krise wie der öffentliche Dienst, letztlich auch die gesamte Gesellschaft.
In den letzten 15 Jahren haben sich unsere Arbeitsbedingungen besonders hinsichtlich emotionaler, affektiver und psychologischer Belastung stark zum Negativen entwickelt. Wir haben teils so schwerwiegende, belastende Fälle, verzweifelte oder auch wütende Kinder. All das verlangt sehr viel Aufmerksamkeit und erschwert die administrative Arbeit. Es ist vollkommen irrsinnig, hier noch von einem Sparpotenzial zu fantasieren. Wir brauchen Millionen, um das aktuelle Niveau überhaupt zu stabilisieren. Es ist möglich, psyschisch geschädigten Kindern zu helfen, aber das kostet Geld.
Und wofür kämpfen Lehrer unter solchen Umständen?
Wir möchten eigentlich nur ordentlich unsere Arbeit machen. Aber der Kantonsrat verlangt, dass Lehrpersonen pro Woche zwei weitere Stunden unterrichten sollen. Für einige bedeutet dies, dass sogar eine ganze neue Klasse hinzukommt, das sind 24 Schüler. Das ist eine riesige Mehrarbeit. Die Lehrer kämpfen nicht für mehr Geld. Wir wollen unsere bestehenden sozialen Errungenschaften natürlich behalten. Doch in erster Linie geht es ihnen um die Schüler und eine hochwertige Bildung.
Deswegen wurde letztes Jahr noch gestreikt. Welche Stimmung herrscht heute im Lehrpersonal?
Eine Mischung aus Wut und Entmutigung. Wir hoffen, noch genügend Kraft zum Weiterkämpfen zu haben, die Lehrer sind aber erschöpft und teilweise resigniert. Die alte Garde ist ausser sich. Die jungen, nicht fest Beschäftigten haben Angst und machen darum den Mund nicht auf, und zwischen den beiden Polen gibt es alles Mögliche. Selbst bin ich sehr besorgt. Nicht ein einziger Lehrer meint, gleichzeitig mehr und gleich gut unterrichten zu können, aber viele haben schon aufgegeben.
Die Lehrer haben Angst. Natürlich, wenn du allein zu weit vorpreschst, bist du erledigt und wirst entlassen. Sie wagen es nicht zu kämpfen, aber die Magistratin kann unmöglich 500 Lehrer entlassen. Wenn wir 1’000 sind, was soll sie schon machen?
Sie fühlen sich isoliert, jedoch geraten andere Sektoren ebenso in Bewegung.
Ja, wir sind mit den anderen öffentlichen Bediensteten extrem solidarisch. Es steht fest, dass wir nur zusammen gewinnen können. Wir versuchen, eine grosse Bewegung gegen Sparpolitik zu führen, indem wir alle Kämpfe vereinen. Denn es handelt sich um eine weit angelegte Politik, die den gesamten öffentlichen Dienst betrifft.
Was ist die Strategie der führenden Gewerkschaften in dieser Lage?
Die Gewerkschaften sind ausser Puste. Unterschriften sammeln und ab und zu ein Referendum: Das funktioniert so nicht mehr. Wir brauchen politische Gewerkschaften. Wir brauchen grösstmögliche Einigkeit, weil auch die gesamte Gesellschaft betroffen ist. Die Eltern, sogar die Schüler, müssen dabei sein. Der Arbeitgeber will immer «teilen und herrschen», insbesondere zwischen den verschiedenen Berufsgruppen.
Wir sollten uns auf Kämpfe vorbereiten. Die Zustände werden sich weiterhin verschlechtern.
Deswegen seid ihr eine revolutionäre Partei, nur so kann es klappen. Im politischen Betrieb ist eine Besserung nicht möglich, und beim Reformismus sehen wir ja, was dabei rauskommt. Nichts verbessert sich und auch kleine Gewinne sind nur Verschnaufpausen vor dem nächsten Angriff. Ich hoffe, wir können sie zurückschlagen – aber wenn sie durchkommen, wird es früher oder später doch zum Clash kommen.
Wie Morgane erklärt, werden Angriffe und Kämpfe sich verstärken, weil dieses System der Bildung nichts mehr zu bieten hat. Die Kommunisten der RKP kämpfen auf der Seite der Lehrer für ein Ende der Sparmassnahmen und ein gross angelegtes Investitionsprogramm für die öffentlichen Dienste. Das Bildungswesen braucht mehr Fachleute, Mittel und Arbeitszeit, um der aktuellen sozialen Lage zu entsprechen. Das Geld dafür ist da, in den Taschen parasitärer Kapitalisten, die sich fleissig weiter bereichern, während die Gesellschaft zugrunde geht. Ein Ende der Sparmassnahmen und ein gutes Bildungswesen ist möglich – aber nur durch die Enteignung der Banken, der Milliardäre und der grossen Industriebetriebe. Keine kapitalistische Regierung wird dies für uns tun; nur eine Massenbewegung der Arbeiterklasse kann eine Arbeiterregierung bilden. Unsere erste Aufgabe ist es, uns um dieses Programm und diese Strategie zu organisieren.
Von «Entspannung» spricht das Zürcher Volksschulamt in Bezug auf den Mangel an Lehrpersonen. «Nur» noch 600 Stellen an Schulen fürs nächste Schuljahr sind noch unbesetzt, in den vergangenen Jahren waren es 700-800. Die Konsequenz: Personen ohne Lehrdiplom, auf die immer mehr Schulen angewiesen sind, sollen im Schuljahr 26/27 nicht mehr angestellt werden dürfen. Als wäre auch nur ein einziges der Probleme, die Menschen vom Lehrberuf abschrecken, gelöst! Tatsächlich steigt die Zahl der Studierenden an den Pädagogischen Hochschulen ständig, doch ebenso steigt die Rate der Berufsaussteiger. Gründe dafür gibt es zahlreiche: zu grosse Klassen, zu wenig Ressourcen, um anspruchsvollen Schülern das richtige Setting zu ermöglichen, und nicht zuletzt: die unzähligen unbezahlten Stunden, die Lehrpersonen jedes Jahr leisten. Ein Beispiel: Klassenlehrpersonen erhalten 150 Stunden pro Jahr für ihre zusätzliche Verantwortung für die Klasse, Elternkommunikation, Ausflüge und Termine etc. gesprochen. Ein Hohn! Mit dem Organisieren eines einzigen Klassenlagers hat man diese Stunden bereits locker aufgebraucht. Welch Arroganz, wenn dann Myriam Ziegler vom Volksschulamt meint, eine bessere Bezahlung der Lehrpersonen führe nur dazu, dass diese ihr Pensum reduzierten! Das Geld für genügend, ausgeruhtes und gesundes Lehrpersonal ist da, man müsste es lediglich bei den Bonzen und Kapitalisten holen.
Julian Scherler, Lehrer aus Zürich
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