Aus der Funke-Sonderausgabe zum Jahr 1968: Jede gesellschaftliche Entwicklung manifestiert sich früher oder später im Bereich der Bildung. Zwar zeigen sich in der Schweiz die Auswirkungen der 68er auf Bildungsebene – aber nicht ihrem Ursprungsgedanken entsprechend.
8. März 1968, Ausnahmezustand am LehrerInnenseminar Locarno: die Studierenden rennen aus den morgendlich laufenden Vorlesungen. In den Gängen, in denen sonst Zucht und Ordnung herrscht, herrscht nun lautes Getöse. Das Ziel der Studierenden: die Aula, die sie während der folgenden Tage besetzen werden. Sie protestieren gegen die autoritäre Schulführung sowie den repressiven Unterrichtsstil und fordern eine Schule, die sich ihren Bedürfnissen nach mehr Freiheit und Mitsprache anpasst. Ausgerechnet in einer Lehranstalt für LehrerInnen entfachte sich in der Schweiz das erste grosse Ereignis des «Revolutionsjahrs 1968»; dazu noch in einer konservativ geprägten Kleinstadt. Diese Schule machte rasch schweizweit Schule.
Recht auf Mitgestaltung
Im April ‘68 gründete sich in Burgdorf die «Schweizerische Vereinigung progressiver Mittelschüler». Sie forderte in ihrem Manifest Erziehung zum kritischen Denken und Entfaltungsmöglichkeiten der schöpferischen Kräfte durch einen aktiven Unterricht.
Auf Hochschulebene nahm der Kampf für neue Lernmethoden und Organisationsprinzipien vorerst noch recht gemässigte Formen an. Der Verband der Schweizerischen Studentenschaft lehnte wegen des fehlenden Mitbestimmungsrechts des Lehrkörpers und der Studierenden in der Hochschulkonferenz die Vorlage für das Bundesgesetz der Hochschulförderung ab. Wie bedroht sich das Establishment damals sah, zeigte sich am Gewerbeverband. Dieser drohte, der Vorlage nur zuzustimmen, sofern die Hochschullehrer für das «politische Wohlverhalten ihrer StudentInnen» garantieren würden.
Während in der Deutschschweiz trotz Protestaktionen die universitäre Tagesordnung fortgesetzt werden konnte, radikalisierte sich die Bewegung an den welschen Universitäten – auch aufgrund der Nähe zu Frankreich (siehe «Wenn Fabrik und Uni verfliessen», Seite 12 im Funke Nr.72). 1969 wurde das Rektorat der Uni Genf besetzt, um das Mitspracherecht zu erwirken. Opposition gegen Bevormundung, v.a. in Genf, machte sich auch bei den Auszubildenden breit. Sie wurden 1968 erstmals zu Sozialpartnerverhandlungen beigezogen.
Bildung als gesellschaftsverändernde Instanz
Ein Grossteil der Jugendlichen der 60er hatte die repressive und systemerhaltende Funktion des Bildungssystems erkannt: Fremdbestimmung durch Sozialdisziplinierung. Die durch die Bildungsinstitutionen vermittelten und gelebten Werte und Normen wie Fleiss, Ordnung und Gehorsam sprachen ihnen auf individueller Ebene jegliche Art von Selbstbestimmung ab. Und auf gesellschaftspolitischer Ebene konnten sie weder die Gräueltaten der Weltkriege noch des Vietnamkriegs verhindern.
Dass ihnen auch der wirtschaftliche Zweck von Bildungsinstitutionen bewusst war, wird durch den von der 68er-Generation geprägten Begriff der «Bildungs-» bzw. «Lernfabrik» offensichtlich. Dementsprechend sind Lernende blosser Rohstoff, der einen starren, an seiner Effizienz gemessenen Produktionsvorgang durchläuft. Als Produkt wirft dieser gut ausgebildete – nicht gebildete, sondern funktionierende –, nach Güterklasse HandwerkerIn, AbteilungsleiterIn, HilfsarbeiterIn etc. sortierte Arbeitende auf den Markt. Selbstverständlich mit den gewünschten Eigenschaften Kopfnicken und Konkurrenzdenken zertifiziert.
Die Schlussfolgerung lag auf der Hand: Wenn Bildung ein Mittel zu diesen unterdrückenden Zwecken sein konnte, so konnte sie auch eines sein, um deren Umkehrung zu bewirken. Dieser Logik folgend musste man sich der Bildungseinrichtungen «bemächtigen», um ihre Funktion zu ändern. Ziel war es, ein System zu schaffen, in dem Lernende nicht weiterhin zurechtgestutzte Objekte sind, sondern als handlungs- und denkfähige Subjekte ernst genommen werden. Durch das Gestalten entsprechender Lernräume sollten bewusste Menschen erzogen werden, die die unterdrückenden Gesellschaftsverhältnisse erkennen und bekämpfen. Das Bildungswesen sollte aus einer gesellschaftserhaltenden in eine gesellschaftsverändernde Instanz transformiert werden.
LehrerIn – ein Traumberuf?
Genau in dieser Absicht ergriffen zahlreiche Jugendliche, die sich infolge der Geschehnisse der 60er-Jahre politisiert hatten, einen Lehrberuf. Viele unter ihnen organisierten sich anfangs der 70er in autonomen, radikalen, sozialistischen, anarchistischen und kommunistischen Gruppierungen. Sowohl LehrerInnenseminare als auch der Studienbereich «Erziehungswissenschaften» galten gemeinhin als linke Hochburgen.
Dem damaligen Züricher Erziehungsdirektor Alfred Gilgen widerstrebte diese politische Gesinnung der Jugend. Neu im Amt, schloss er 1971 die Universität Zürich wegen der antifaschistischen Woche linker StudentInnen. Trotz des enormen Lehrermangels belegte er die «roten Lehrer» willkürlich mit einem Berufsverbot. Er befürchtete wohl, dass die Schule tatsächlich zu einer gesellschaftsverändernden Instanz werden könnte.
Zwar kam es auch in anderen Kantonen aus dem gleichen Grund zu Berufsverboten, aber v.a. in Zürich gewährte die Gewerkschaft vpod den Betroffenen Rechtsschutz. Folglich traten Scharen von JunglehrerInnen dem vpod bei. Die dadurch gestärkte LehrerInnensektion prägte die Politik des vpod – über Fragen hinaus, die direkt die Bildung betrafen. Innerhalb der Gewerkschaft wurde ihre fortschrittliche Rolle etwa durch ihre Solidarisierung mit der Jugendbewegung der 80er-Jahre offensichtlich, wobei die traditionellen Sektionen sich dagegen aussprachen.
Pädagogisches Erbe der 68er
Die Kraft dieser Generation von PädagogInnen blieb nicht wirkungslos. Sie trug massgeblich dazu bei, dass extreme Machtmittel der Unterwerfung, wie etwa körperliche Züchtigung, in der Schule abgeschafft wurden. Statt Angst und Peinigung prägt heute normalerweise Wertschätzung das Unterrichtsklima. Der heutige Unterricht gewährt Lernenden mehr Mitspracherecht in Bezug auf den eigenen Lernprozess und den Schulalltag. Institutionen wie der Klassen- und SchülerInnenenrat sind Ausdruck davon.
Diese grundsätzliche Umgestaltung der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden ist die grosse Errungenschaft der 68er-Generation. Deren Bestreben, eine den Lernenden angepasste Schule zu schaffen, konnte durch ihre direkte Präsenz als Lehrperson und ihre Vertretung im Bereich der Erziehungswissenschaft im «kleinen Rahmen des Klassenzimmers» verwirklicht werden. Eine wirkliche strukturelle Reformierung des Bildungswesens konnte jedoch nicht erwirkt werden.
Rückblickend lässt sich feststellen, dass ihre Forderungen oft Anstoss zu Bildungsreformen gaben, deren Umsetzungen aber in Konterreformen mündeten. Stellvertretend dafür steht die Ausgestaltung der Forderung der Chancengleichheit.
Chancengleichheit
Die Nachkriegszeit war einerseits durch ein starkes Bevölkerungswachstum und andererseits durch Mangel an qualifizierten Arbeitskräften gekennzeichnet. Um letzterem entgegenzuwirken, realisierte der Staat Reformen zur Nutzbarmachung eines «ungenutzten Reservoirs an Nachwuchskräften» durch die Integration bildungsferner Schichten in die höhere Schulbildung (Eidgenöss. Kommission für Nachwuchsfragen, 1963). Das Mittel- und Hochschulwesen wurde hierfür geöffnet und ausgebaut. Die Forderung nach Chancengleichheit dominierte den damaligen bildungspolitischen Diskurs. Alle politischen Lager waren sich einig, dass es eines Bildungssystems bedurfte, das gleiche Chancen gewährt ungeachtet der Herkunft.
Diese Forderung entspricht absolut dem pädagogischen Geist der 68er. Während jedoch die vollzogenen Reformen die Eingliederung von ArbeiterInnenkindern in das der Selektion dienende System beabsichtigten, forderten die 68er einen Abbau dieser Mechanismen. Hier prallte die systemintegrierende Vorstellung von sozialem Aufstieg auf diejenige der 68er-Generation, soziale Hierarchien im Bildungssystem abzuschaffen.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends schien diese Forderung endlich Gehör zu finden. Die Realisierung des integrativen Schulsystems wurde beschlossen. Das erklärte Ziel dieser Reform entsprach gänzlich der Vorstellung der 68er-Generation von Chancengleichheit: Alle Kinder werden entsprechend ihren Voraussetzungen in der gleichen Schule gefördert. Eine gerechte Schule für alle – nicht im Sinne von gleich, sondern gleichwertig.
Das heutige Resultat dieser Reform könnte nicht deutlicher zeigen, wie die pädagogischen Absichten der 68er als Deckmantel zur Umsetzung von Konterreformen missbraucht wurden. Die Bürgerlichen setzten gekonnt den Rotstift an. Ehemals teure Sonderschulen wurden vielerorts aufgelöst, ohne dass die zuvor geflossenen finanziellen Mittel weiterhin gesprochen wurden. Die Folgen: Lehrpersonen, die es aufgrund fehlender Ressourcen zerreibt zwischen ihrem Anspruch, individuell und kindgerecht zu unterrichten, und der vorgefunden Überforderung. Lernende, deren Bedürfnisse keine Genugtuung finden. Und Eltern, die sich um das Wohlergehen und die Zukunft ihrer Kinder sorgen. Wer hat hier also überhaupt noch eine Chance?
Ernüchternde Bilanz
Die öffentliche Bildung hat sich seit den 60ern der Form nach verändert: Die Unterrichtsmethoden haben sich entsprechend den pädagogischen Vorstellungen der 68er-Generation über den Weg von Erziehungswissenschaften und Gewerkschaften zum Wohle der Lernenden entwickelt. Es gilt, diese errungenen Fortschritte mit allen Mitteln zu verteidigen. Umso mehr, da diese Gestaltungsräume aktuell durch Sparmassnahmen und bevorstehende Bildungsreformen angegriffen werden.
Andererseits zeigt diese Entwicklung aber auch, dass die Verwirklichung des Ideals der 68er – das Bildungswesen und somit dessen Funktion grundsätzlich zu ändern – kläglich gescheitert ist. Dass das Ideal eine Illusion bleiben musste, liegt am Charakter der gewählten Methode. Bildungsinstitutionen spiegeln immer die Gesellschaft wider und nicht umgekehrt. Ein hoher Bildungsstand ist von Vorteil, um gesellschaftliche Vorgänge zu verstehen und bewusst zu verändern. Grundlegend finanziert sich die öffentliche Bildung aber über den Staat. Solange dieser ein bürgerlicher ist, macht er die Interessen der bürgerlichen, herrschenden Klasse geltend. Jede Reform – mag sie in ihrer Absicht auch noch so pädagogisch wertvoll sein – wird an diese Grenze stossen. Diese Grenzen lassen keine Bildung zu, die über die Reproduktion der Gesellschaft hinausgeht und den Menschen zur bewussten Veränderung der Welt befähigt. Solange der Kampf für eine solche Bildung abgekoppelt von einem gesamtgesellschaftlichen Kampf geführt wird, werden die Fliessbänder der Bildungsfabriken weiter rattern.
Aline Waitschies
Winterthur
Erstmals publiziert am 10. August, 2018
Bild: flickr.com (Yann Caradec)
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