Mit der Renten-Vorlage «AHV 21» spitzt sich der Klassenkampf in der Schweiz wegweisend
zu. Die Bürgerlichen müssen die Arbeiterklasse immer dringender angreifen, diese muss
und will sich immer dringender wehren. Ein gutes Leben (im Alter) für alle war noch nie so
möglich wie heute. Es fehlt einzig eine Partei, die konsequent mit den Bürgerlichen bricht.
Am 25. September wird bei der Renten-Vorlage «AHV 21» über zwei Dinge abgestimmt: Die
Mehrwertsteuer soll um 0,4 Prozent und das Frauenrentenalter auf 65 Jahre erhöht werden.
Ersteres bedeutet, dass das Leben zusätzlich teurer wird – vor allem für arme Leute.
Zweiteres bedeutet, dass Frauen ein Jahr länger arbeiten müssen und ein Jahr weniger
Rente bekommen. Von einer Massnahme zur «Gleichberechtigung» (FDP-Präsident
Burkart) zu reden, ist pure Heuchelei. Bei der Vorlage «AHV 21» geht es um einen Angriff
gegen die Lebensbedingungen der ganzen Arbeiterklasse, speziell der armen Schichten.
Frauen kriegen bereits heute ein Drittel weniger Rente. Der Funke ist für ein doppeltes
«Nein» bei der Abstimmung, weil die Arbeiterklasse ein objektives Interesse daran hat, sich
gegen schlechtere Lebensbedingungen zu wehren.
Gleichzeitig steht für die Arbeiterklasse mehr auf dem Spiel. Die «AHV 21»-Reform ist zwar
ein fetter Angriff, gleichzeitig aber auch nur Dosenöffner für «eine monströse Demontierung
des Rentensystems» (SEV-Präsident Tuti): Die allgemeine Erhöhung des Rentenalters auf
67 Jahre und eine weitere Senkung des Umwandlungssatzes, also weniger Rente aus der
zweiten Säule, sind bereits in der Pipeline. Nicht nur in der Altersvorsorge, sondern in allen
Bereichen bereiten die Bosse und ihre bürgerlichen Handlanger Angriffe vor: Auf
Betriebsebene soll die 63-Stunden-Woche kommen, Massenentlassungen nehmen zu und
im öffentlichen Sektor pochen sie auf Sparmassnahmen, um Corona-Schulden abzubauen.
All das türmt sich auf eine langjährige Angriffswelle. Seit 25 Jahren stagnieren die Löhne
und die Lebensbedingungen. Die Renten sind im Vergleich zu 2010 im Durchschnitt um fast
20% geschrumpft. Ein Viertel aller Pensionierten (Europa-Negativrekord) und knapp eine
Million Menschen insgesamt in der Schweiz lebten bereits vor der Pandemie in Armut. Jetzt
mit der Inflation wird für viele (ältere) Menschen das Einkaufen zur Qual. Zunehmende
Verschlechterungen seit Jahrzehnten, das ist die Realität der Arbeiterklasse – auch in der
Schweiz. Deshalb geht es bei der «AHV 21»-Reform für die Arbeiterklasse um mehr als nur
ein weiteres «Nein» an der Urne. Es geht darum, die ganze Angriffswelle zu stoppen und
damit den Lebensstandard (im Alter) zu verteidigen.
Dabei darf die Arbeiterklasse keinerlei Vertrauen in die Kapitalisten und ihren Staat haben.
Diese haben ihr noch nie etwas freiwillig geschenkt – auch nicht bei der Altersvorsorge. Bis
nach dem Zweiten Weltkrieg gab es keine staatliche Rente. Die Mehrheit der Arbeiterklasse
kannte keinen Ruhestand, wurde bis zum Tod ausgebeutet. Und seit Einführung der AHV
1948 reichten die AHV-Renten bei Weitem nie alleine zum Überleben aus. Sie waren trotz
Nachkriegsboom nie höher als ein Drittel des Durchschnittslohns.
Das war stets voll im Interesse der Pensionskassen. Denn so wird die Arbeiterklasse zum
privaten Sparen fürs Alter gezwungen. Wer es sich erlauben kann, nicht ganz bis zum Tod
zu schuften, muss Geld für den Ruhestand bei Pensionskassen deponieren. Diese Parasiten
machen nichts anderes, als das zwangsersparte Geld der Arbeiterklasse auf den
Finanzmärkten zu investieren und so Kapital anzuhäufen. Heute verfügen sie über 1000
Milliarden CHF (135% des Schweizer BIPs). Das ist ein wichtiger Bestandteil des
Finanzkapitals, welches hauptsächlich die Grossbanken und die fetten Lebensversicherer
kontrollieren. Diese kassieren ab, weil die Arbeiterklasse im Alter leidet. Je tiefer unsere
Renten, desto mehr Kapital und Aussicht auf Profit für die Pensionskassen und das ganze
Finanzkapital.
Nur dank dem Kampf gegen diese Parasiten hat die Arbeiterklasse überhaupt eine staatliche
Rente. Die Forderung nach einer AHV kam im Generalstreik von 1918 auf und wurde nur
unter Druck der Streikwelle Ende des Zweiten Weltkriegs eingeführt. Gleichzeitig
bestimmten die Kapitalisten aber weiterhin die Spielregeln. Erstens, weil das AHV-Geld nicht
investiert werden darf, wodurch die AHV nicht mit den Pensionskassen konkurriert.
Zweitens, weil die AHV-Renten so tief angesetzt waren, dass sie die Expansion der
Pensionskassen nie gefährdeten.
Die AHV ist also seit jeher eine Klassenfrage. Ein besseres Leben (im Alter) für die
Arbeiterklasse oder bessere Profitaussichten für die Kapitalisten – um das geht es. Jede
Reform der AHV verbessert entweder die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse oder die
Profitbedingungen der Kapitalisten. Beides geht nicht. Es gibt keine «nachhaltige Reform»
für alle, wenn man mit «richtigen Zahlen» rechnet. Das sind Illusionen von Reformisten wie
SGB-Chefökonom Lampart in klassenübergreifende Lösungen.
Die kapitalistische Realität ist Klassenkampf. Die Arbeiterklasse wird ausgebeutet. Sie
produziert allen gesellschaftlichen Wert, kriegt aber nur einen Teil davon als Lohn zurück.
Mit dem Lohn reproduziert die Arbeiterklasse ihre Fähigkeit, für die Kapitalisten arbeiten zu
gehen. Entweder indem sie sich mit dem direkt ausbezahlten Lohn Waren dazu kauft (für
Essen, Wohnen, Freizeit etc.). Oder indem sie selbst erkämpfte Sozialleistungen bezieht
(AHV, Bildung), welche zum «sozialen Lohn» gehören. Die Arbeiterklasse hat ein objektives
Interesse daran, dass beides zusammen – der Gesamtlohn – möglichst gross ist. Anders
gesagt: Sie hat ein objektives Interesse an möglichst guten Lebensbedingungen.
Die Kapitalistenklasse hat das entgegengesetzte objektive Interesse. Nämlich, dass der
Gesamtlohn der Arbeiterklasse möglichst tief ist. Weil dann der Mehrwert, den sie vom
gesamten Wert abschöpft, möglichst gross ist. Dieses Interesse verteidigen die Bürgerlichen
auch mit der «AHV 21»-Reform. Ein höheres Rentenalter bedeutet, dass der soziale Lohn
(AHV-Rente) sinkt und länger für die Kapitalisten Mehrwert geschaffen wird. Eine höhere
Mehrwertsteuer bedeutet, dass die Waren teurer werden und somit der Gesamtlohn real
sinkt. Die Vorlage «AHV 21» ist also Klassenkampf von oben – eine Reform im Interesse der
Kapitalisten, gegen das Interesse der Arbeiterklasse.
Dieser Klassenkampf von oben spitzt sich seit Jahrzehnten weltweit zu. Auch in der Schweiz
wurden seit den 1970ern die AHV und andere Sozialleistungen nicht mehr ausgebaut. Und
seit den 1990ern stehen sie zunehmend unter Beschuss – in Form von Angriffen auf die
Renten (10. und 11. AHV-Reform), Sparmassnahmen (Gesundheit und Bildung) und
Privatisierungen (Post, Swisscom). Auch in der Schweiz hat der Kapitalismus der
Arbeiterklasse nichts mehr zu bieten.
Das ist kein Zufall, steckt er doch seit den 1970ern in einer tiefen Überproduktionskrise. In
dieser wird mehr produziert, als profitabel abgesetzt werden kann. Die Konkurrenz auf den
Weltmärkten spitzt sich zu – damit der Überlebenskampf zwischen den Kapitalisten. Sie sind
gezwungen, ihre Profitbedingungen um jeden Preis zu verbessern. Auf politischer Ebene
erreichen sie dies unter anderem durch Senkungen der Steuern für Grosskonzerne (USR
1-3) oder der Umwandlungssätze für Pensionskassen. Mehr Profite für die Kapitalisten ist
der Zweck der Angriffswelle auf die Sozialleistungen der Arbeiterklasse.
Die Konsequenz aus diesem Überlebenskampf bei den Pensionskassen: Im Vergleich zu
1978 gibt es heute fünfmal weniger Pensionskassen, diese verfügen aber über mehr als
dreimal so viel Kapitalreserven. Die grossen Kapitalisten setzen sich durch, brauchen dafür
aber mehr und schnellere Massnahmen zur Verbesserung ihrer Profitbedingungen. Denn
der Überlebenskampf verschärft sich weiter mit den krisenbedingt grossen Unsicherheiten
auf den Finanzmärkten. Der Klassenkampf von oben wird zunehmen, nicht nur in der
Altersvorsorge.
Gegen diese jahrzehntelange Angriffswelle muss und will sich die Arbeiterklasse immer
dringender wehren. Das hat sie in den letzten Jahren mehrfach bewiesen: Mehrere
Konterreformen wurden an der Urne versenkt (zweimal die AHV-Reform, USR 3), die
Pflegeinitiative dank einer grossen Solidarität in der Arbeiterklasse angenommen. Was diese
Mobilisierungen zur Urne aber auch zeigen: Sie reichen nicht aus. Die Bürgerlichen bringen
ihre Angriffe wieder und wieder – und irgendwann durch (STAF). Oder erkämpfte
Versprechen werden vom Bundesrat einfach sabotiert (Pflegeinitiative).
Daraus gibt es nur eine mögliche Schlussfolgerung. Die Arbeiterklasse muss ihren
Lebensstandard selbst verteidigen – gegen die Kapitalisten und ihren Bundesrat. Die
Kapitalisten können ihre Profitbedingungen nur auf Kosten unserer Lebensbedingungen
verteidigen – das gleiche gilt auch umgekehrt. Anständige Lebensbedingungen kann die
Arbeiterklasse nur auf Kosten der Profite der Kapitalisten erringen.
Diese besitzen den gesamten von der Arbeiterklasse geschaffenen Reichtum. Bei ihnen
muss er geholt werden. Allein mit den 1’000 Milliarden CHF in den Pensionskassen kann
allen Lohnabhängigen 200’000 CHF gegeben werden. Doch das Potenzial ist viel grösser:
Die Produktivität war in der Geschichte der Menschheit noch nie so hoch wie heute. Noch
nie konnte so viel in der gleichen Zeit produziert werden wie jetzt. Die Arbeitszeit (Stunden
pro Tag und Jahre pro Leben) kann jetzt massiv reduziert und zugleich mehr als genug für
die ganze Menschheit produziert werden.
Altersarmut, Hunger, Pflegemangel usw. – die dringendsten Probleme der Menschheit
können mit dem heutigen technologischen Niveau sofort gelöst werden. Doch die Besitzer
dieser Mittel, die Kapitalisten, wollen und können ihre Profite nicht schmälern – vor allem
nicht in der tiefsten Krise ihres Systems. Die zugespitzte Konkurrenz zwingt sie, mehr aus
der Arbeiterklasse herauszupressen und weiter blind für den Markt zu produzieren, um
maximale Profite zu realisieren. Dabei führen sie die Arbeiterklasse von einer Katastrophe
zur nächsten (Finanzcrash, Covid, Krieg, Klimakatastrophe) und lassen sie dafür bezahlen.
Wir müssen konsequent sein: Das einzige, was einem guten Leben (einem fantastischen!)
im Weg steht, sind die Kapitalisten mit ihrem Profitmotiv. Oder in den Worten Trotzkis:
«Wenn der Kapitalismus unfähig ist, die Forderungen zu befriedigen, die unausweichlich aus
den Übeln hervorgehen, die er selbst erzeugt hat, dann soll er untergehen!». Die selbst
geschaffenen technologischen Schätze zurückholen und in den Dienst der Menschheit
stellen. Das – also der Kampf für den Sozialismus – ist die historische Aufgabe der
Arbeiterklasse. Und gleichzeitig der einzige Ausweg aus diesem barbarischen System, denn
keines der Probleme kann im Kapitalismus gelöst werden.
Die Arbeiterklasse ist bereit, diesen Kampf gegen die Kapitalisten aufzunehmen – auch in
der Schweiz. In ersten Betrieben wie Swissport oder TPG haben die Arbeiter den Kampf
gegen die kapitalistische Krisenpolitk bereits aufgenommen. Das sind keine Ausnahmen.
Die Bedingungen für den Klassenkampf von unten sind allgemein gegeben. Aus allen
Branchen kommt die Forderung von 5 % mehr Lohn – die höchste Lohnforderung in der
Schweiz seit 30 Jahren!
Der Arbeiterklasse fehlt nur etwas, um der Angriffswelle ein Ende zu setzen: eine Partei, die
konsequent ihre Interessen verteidigt. Das ist die Aufgabe der SP, ihrer historischen Partei.
Diese hat korrekterweise das Referendum gegen die «AHV 21»-Vorlage ergriffen. Aber ihre
Führung steckt voll in der Illusion fest, es gebe Kompromisse im Interesse beider Klassen.
Weil es diese nicht gibt und die Bürgerlichen immer mehr angreifen müssen, verteidigt sie
seit Jahren trotz Referenden schlussendlich Angriffe gegen die Arbeiterklasse.
Auch jetzt wieder sagt Co-Präsidentin Meyer vor der Abstimmung: «Es ist klar, dass Frauen
in 30 Jahren gleich lang arbeiten werden wie Männer». Das ist das Gegenteil von
konsequent. Das ist Kapitulieren unter den Zwängen der bürgerlichen Krisenpolitik. Im
Bundesrat kapitulieren die SP-Mitglieder nicht nur, sie arbeiten die Angriffe direkt für die
Kapitalisten aus: 1995 wurde das Frauenrentenalter dank Dreyfuss erhöht (10.
AHV-Reform), seit 2017 kämpft Berset an vorderster Front für tiefere Renten und mehr Profit
für die Pensionskassen («AHV 20», «STAF», jetzt «AHV 21»). Die SP kann unmöglich
Politik für die Arbeiterklasse gegen die Kapitalisten machen, wenn sie mithilft, ihr System zu
verwalten.
Was die Arbeiterklasse braucht, ist eine Partei, welche die Wahrheit sagt und entsprechend
handelt. Die Wahrheit ist: Es ist voll möglich, die «AHV 21»-Vorlage abzuwehren. Aber das
geht nur im Kampf gegen die Kapitalisten. «Wir bezahlen eure Krise nicht, gegen alle
Angriffe auf unsere Lebensbedingungen. Kein Rappen weniger, keine Minute mehr
arbeiten!» – Um dieses Programm muss für eine grosse nationale Demonstration gegen die
AHV-Reform mobilisiert werden. Dies als Startschuss, um das Programm in den Betrieben
zu verankern. Denn dort liegt die Macht der Arbeiterklasse, dort produziert sie sämtlichen
Wert, dort kann sie den Kapitalisten mit Streiks wehtun und Zugeständnisse erzwingen. In
den Betrieben kann die Arbeiterklasse von der Defensive in die Offensive – zum Kampf für
Verbesserungen – übergehen.
Die grösste Bremse für diesen Kampf gegen die Kapitalisten und ihre Regierungen ist der
Reformismus der Führung der Arbeiterbewegung. Doch Bremsen nutzen sich mit der Zeit
ab. Seit 30 Jahren hat der Reformismus ihr nur noch Verschlechterungen zu bieten.
Gleichzeitig können immer grössere Schichten keine weiteren Verschlechterungen mehr
hinnehmen, die Arbeiterklasse ist weltweit am Erwachen. Sie beginnt, ihr Schicksal selbst in
die Hand zu nehmen.
Diese Aufgabe kann sie unmöglich mit utopischen Ideen lösen. Der Bruch mit dem
Reformismus wird zunehmend dringend – auch in der Schweiz. Die falschen Ideen müssen
durch wahre ersetzt werden. Zu Letzteren gelangt man nur durch den Marxismus. Die
Methode, welche dem unbewussten Willen der Arbeiterklasse, die Gesellschaft zu
verändern, einen bewussten Ausdruck geben kann.
Die Aufgabe von Revolutionären ist es, heute die Ideen des Marxismus zu studieren und die
fortgeschrittensten Kämpfer davon zu überzeugen. Damit wir morgen ein Stück näher am
Punkt sind, wo wir der Arbeiterklasse helfen können, den Kapitalismus zu überwinden.
20.08.2022
Die Redaktion
Bildquelle:
Tim Reckmann, Flickr
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