Mit «Die Krume Brot» hat Lukas Bärfuss 2023 einen Roman veröffentlicht, der mitreisst. Er erzählt die Geschichte der italienischen Migrantentochter Adelina, die vergeblich versucht, sich in der Schweiz ein Leben aufzubauen. Lukas Bärfuss zeichnet in seinem Werk einen feinen Charakter mit vielen Details und Eigenheiten, der keinesfalls plump – Adelina erscheint uns nie als eine Karikatur – aber messerscharf grössere gesellschaftliche Probleme aufzeigt.
«Du wünschst dir Ruhe, aber es gibt keine Ruhe, nicht bevor du die nächste Miete bezahlt hast.» (Die Krume Brot, S. 114)
In Adelinas Leben kehrt nie Ruhe ein. Das einzige, was die junge Frau von ihren Eltern erbt, sind Schulden. Und spätestens ab diesem Moment ist ihr Leben eine einzige Negativspirale. Um die Schulden abzubezahlen, muss sie ihre ideale Lehrstelle verlassen und in der Fabrik ans Fliessband stehen. Dort herrschen Eintönigkeit und Entfremdung, der einzige Lichtblick für die Arbeiterinnen ist die kollektive Tagträumerei einer Weltreise, bis der lange Arbeitstag endlich überstanden ist.
Doch nur in ihrem Kopf kann Adelina ihrem vorprogrammierten Niedergang entfliehen. Zwar lernt sie einen Mann kennen, ebenfalls aus Italien. Als sie aber schwanger wird und er als Saisonnier zwischenzeitlich nach Italien zurück muss, bleibt er dort und lässt sie alleine. In der Bar in der sie anschliessend arbeitet kommt sie in einen unlösbaren Widerspruch: Als alleinerziehende Mutter darf sie ihr Kind zwar nicht zur Arbeit mitnehmen, kann sich aber auch keine Krippe leisten.
Vom Beginn ihres Lebens ist Bärfuss’ Hauptfigur Adelina in einem Teufelskreis gefangen, dem sie nicht alleine entkommen kann. Verschnaufpausen werden von existenziellen Ängsten begleitet und sind nur von minimaler Dauer. Im einzigen Moment, indem sich etwas Erholung bietet zwischen all den Krisen in ihrem Leben – da stürzt sie eine Zahnarztrechnung ins Elend. Sie verliert ihre Stelle und Wohnung und gerät in die Fänge von Kredithaien. Der einzige Ausweg ist die Abhängigkeit von einem Mann, Emil, der ihre Schulden bezahlt und sie bei sich aufnimmt.
Armut, Rassismus und Sexismus begleiten Adelina auf Schritt und Tritt. Sie treten im Buch mal subtil im Unterton, mal schreiend laut auf. Sie lebt im Zürich der 1970er Jahre. Das heisst, in Zeiten der Wirtschaftskrise und der Hochkonjunktur der rassistischen Politik des Schweizer Staats. Zwar wurde die fremdenfeindliche Schwarzenbach-Initiative 1970 abgelehnt, doch die Schweiz exportiert nach dem Krisenausbruch 1974 die Arbeitslosigkeit, indem sie Hunderttausende Ausländer, besonders jene unter dem rassistischen Saisonnier-Statut, ausweist. Das trifft insbesondere Migranten aus Südeuropa und wir spüren diese Stimmung im Buch konstant. Die ausführliche Vorgeschichte ihrer Familie beschreibt auf unkonventionelle Art wie Krieg, Faschismus und zerstörte Träume die Menschen schufen, die damals in die Schweiz kamen. Als Frau und alleinerziehende Mutter ist Adelina den Launen und der Lust der Männer um sie herum ausgesetzt. Von ihrem realitätsfernen Vater der sich für einen grossen Schriftsteller hält, über den schmierigen Vermieter der ihr Mietrabatt gegen sexuelle Dienste gewähren will, bis zum scheinbaren Ritter in weisser Rüstung Emil, der ihre Schulden zwar bezahlt und (ausnahmsweise) nicht offen sexistisch ist, aber dennoch über ihr Leben bestimmen kann. So wird die Geschichte zu einem Spiegel der damaligen Gesellschaft.
Doch Bärfuss zeigt auch auf, dass Adelinas Geschichte nicht nur für die damalige Zeit exemplarisch ist. Sie steht auch repräsentativ für die ganze Arbeiterklasse heute, in der Migranten und Frauen doppelt unterdrückt werden. Gegen Ende des Buches stösst sie auf die Revolutionäre der damals in Italien aktiven Brigate Rosse. Ein Mitglied der Organisation zeigt ihr in einem 10-seitigen Monolog auf, wie Ausbeutung in der kapitalistischen Gesellschaft funktioniert und erklärt: «Was du erlebst, ist ein Typenschicksal.»
Die spezifische Geschichte der alleinerziehenden Mutter mit Migrationshintergrund ist eben tatsächlich ein «Typenschicksal» für die untragbare Situation, mit der sich die Arbeiterklasse damals wie auch heute konfrontiert sieht. Rassismus, Sexismus, Armut, Stress, psychische Probleme sind allgegenwärtig. Ein Fünftel der Bevölkerung kann heute eine unerwartete Ausgabe von 2’500 (wie eine Zahnarztrechnung) nicht stemmen und für 52 % der Familien reicht das Einkommen am Ende des Monats nur knapp oder gar nicht. Eben gerade weil wir den Wahrheitsgehalt der Geschichte auch in der heutigen Zeit fühlen, ist sie so mitreissend. Darin steckt das Schicksal Hunderttausender heute und Millionen von morgen, auch in der Schweiz.
Immer mehr drängt sich im Buch die notwendige Schlussfolgerung auf: Nicht Adelina ist das Problem, sondern die Welt um sie herum. Für Bärfuss scheint Adelina in ihrem «Schicksal» gefangen.
Doch als Kommunisten verstehen wir: Die Welt, die verantwortlich ist für ihre Geschichte und ihr Leiden, ist menschengemacht. Heute könnten alle Adelinas dieser Welt ohne Sorgen leben. Doch dafür muss der Kapitalismus sterben. Der einzig realistische Ausweg für Adelina und die Millionen wie sie wäre der kollektive Kampf gegen das herrschende System. Das Buch hingegen endet offen und tragisch. Dennoch ist es eine hervorragende Lektüre.
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