Nach einer Woche voller eskalierender Proteste im Süd- und Zentralirak gingen am Freitag dem 7. August bis zu 500.000 DemonstrantInnen in Bagdad auf die Strasse.
Am Freitag versammelten sich hunderttausende Irakerinnen und Iraker auf dem Tahrir-Platz in Bagdad, um gegen die wuchernde Korruption und das Sektierertum des irakischen Regimes zu protestieren. Ein populärer Slogan lautete: „Säkularismus, Säkularismus, nein zur Sunna, nein zur Schia“, der sich gegen das sektiererische Repräsentationssystem richtet, das von der US-Besatzung eingeführt wurde. Unter Slogans wie: „Jeder von euch vor Gericht, jeder von euch ist ein Dieb“, oder „Freitag für Freitag schmeissen wir die Korrupten raus“, riefen viele nach dem Rausschmiss der Energieminister, manche forderten den Sturz der ganzen Regierung. Zeitgleich fanden grosse Proteste in den südlichen, grösstenteils schiitischen Regionen des Iraks, wie in Basra, Najaf, Karbalah usw.
Die Motivation vieler DemonstrantInnen ist die Forderung nach einem „anständigen Leben“, berichtet der Guardian. „Schon seit mehr als zehn Jahren hat die Regierung nichts mehr für uns getan. Kein Strom, keine Dienstleistungen und keine Jobs“, sagt Lamia Fadhil, 29, „Es reicht. Wir haben genug.“ Ein anderer, Jassem, fügt hinzu: „Falls irgendjemand auf die Idee kommt, diese Proteste würden sich gegen einzelne Minister oder Funktionäre richten, möchte ich das korrigieren. Wir demonstrieren gegen alle, die seit 2003 für den Energiesektor verantwortlich sind.“ Ein weiterer Demonstrant drückt die radikale Stimmung der Bewegung aus: „Die Invasion hat den Irak um 20-30 Jahre zurückgeworfen“, und betont, dass die jetzige Regierung nicht viel besser sei als die amerikanische Besatzung, „diese Regierung kann nicht durch Proteste beeinflusst werden, nur durch Gewalt.“
Die Mobilisierungen vom Freitag folgen einer ganzen Reihe von Protesten im Laufe der vorhergehenden Woche, nachdem eine sengende Hitzewelle die Widersprüche im Land zuspitzte. Während Temperaturen jenseits der 50°C herrschten, blieb Strom ein Luxusgut für viele IrakerInnen. Die chronische Mangelversorgung sorgt dafür, dass manche Gegenden nur wenige Stunden pro Tag mit Strom versorgt werden.
Gepaart mit der zügellosen Korruption der Eliten des Regimes, die entweder genug öffentliche Gelder gestohlen haben, um sich den Strom leisten zu können, oder ihre Machtpositionen ausgenutzt haben, um sich eine konstante Stromversorgung zu garantieren, eskalierten die Spannungen zu weitreichenden Protesten.
An manchen Orten erreichten diese beinahe einen aufständischen Charakter, so wurde bspw. in Samawa (südlich von Bagdad) das Haus des Gouverneurs umstellt und sein Rücktritt gefordert. Die anhaltenden Proteste fallen mit einer Welle von Streiks und Arbeitskämpfen zusammen, die seit dem letzten Jahr immer häufiger werden, nachdem die bankrotte Regierung ihr Privatisierungsprogramm ausgebaut hat.
ArbeiterInnen in Transport, staatlicher Industrie und dem Energiesektor vereinigten ihre Proteste gegen Nichtauszahlung der Löhne, und marschierten gemeinsam vor das Finanzministerium. In Basra ist die Gewerkschaft der ElektroarbeiterInnen federführend in der Organisation der aktuellen Proteste. Ihr Dachverband, die FWCUI, kämpft gegen die Privatisierung des Stromnetzes, und wirft Arbeiterkontrolle und Fabriksbesetzung als Antwort in den Raum.
DemonstrantInnen versammelten sich auch vor den Büros von Grossajatollah Ali al-Sistani, der eine der wichtigsten Stimmen gegen die Korruption des Regimes ist. Letztes Jahr, als der Irak grosse Gebiete an den IS verlor, rief er zur „Mobilisierung des Volkes“ gegen ISIS auf. Hunderttausende folgten ihm, grösstenteils arme, schiitische Jugendliche. Diese „Volksmobilisierungseinheiten“ sind einer der Hauptgründe, warum der Irakische Staat noch nicht zerfallen ist.
Armut und Korruption
Der Krieg verschärfte die Widersprüche allerdings. Tausende werden in den Tod an der Front geschickt und sollen den IS ohne militärische Ausbildung, Plan oder Führung bekämpfen. Während ihre Familien in der tiefsten Armut leben, sind sie das Kanonenfutter im Kampf gegen den IS. Zur selben Zeit scheinen sich grosse Teile des gesellschaftlichen Wohlstandes in Luft aufzulösen. In Basrah, einem Gebiet mit einer der höchsten Ölreserven der Welt, leben mehr als ein Drittel der Bevölkerung in Armut.
Das Planungsministerium schätzt, dass fast 30% der über 33 Millionen IrakerInnen unter der Armutsgrenze leben, wobei angenommen wird, dass der reale Anteil mindestens um 10% höher ist. Die kürzliche Massenflucht aus IS-kontrollierten Gebieten, Arbeitslosigkeit und das Nachlassen der Öl-Einnahmen liessen diesen Anteil stark ansteigen, der letztes Jahr noch 20%-25% betrug.
Während der Grossteil der Bevölkerung unter solchen Bedingungen leidet, wuchert die Korruption in den oberen Schichten. Ein Ökonom sagte, dass „keine Abmachung mit der jetzigen Regierung Sinn macht, auch wenn im Budget Platz wäre, weil die momentane materielle Basis der Regierung ein Netz aus weitreichenden Korruptionskanälen ist und öffentliche Gelder verschwendet werden.“
In Mahawil erzählte ein Bauunternehmer, der mit minimalen Ressourcen die Strassen teeren soll, dem al-Monitor: „Den Auftrag zur Strassenteerung habe ich nur mühevoll bekommen. Ich musste Staatsangestellten und Funktionären Geschenke anbieten. Ich tue was ich kann, aber es steht einfach kein Geld zur Verfügung.“
Makki Hassan, ein Mitglied des Munizipalrats in der westlichen Hamzah Region, erzählte dem al-Monitor: „Das zugewiesene Geld ist in den meisten Fällen ausreichend, aber die Mittelmänner und Auftragnehmer, die ihre Aufträge weiterverkaufen, reduzieren die tatsächlichen Summen auf gerade einmal 20% der ursprünglichen Menge.“
Das Stromnetz, das von der US-Besatzung zerstört wurde, ist währenddessen nur in der Lage ein Maximum von 11.000 Megawatt zu produzieren, die Hälfte von dem was in den Sommermonaten notwendig ist, obwohl Milliarden in seine Modernisierung investiert wurden.
Die US-Besatzung hat ausserdem in klassischer Teile-und-Herrsche Manier im ganzen Staatsapparat ein System der Proporzrepräsentation auf Basis sektiererischer Linien eingeführt. So können korrupte Politiker ihre Posten trotz niedrigem Stimmenanteil behalten, weil sie der richtigen Sekte angehören. Zur selben Zeit verwendeten sie Sektierertum und die Gefahr des „sunnitischen Extremismus“ um die Bevölkerung hinter sich zu versammeln. Die aktuelle Bewegung ist jedoch schon von Anfang an in direkter Opposition dazu. In einem Video der frühen Basrah Proteste richten sich die Slogans gegen: Die schmutzigen Taktiken der Bourgeoisie, Diktatur, die Regierung, die herrschende Partei, den Gouverneur von Basrah, ISIS, religiöse Gesetze, die Gerichte, die Parlamentsabgeordneten – kurz, gegen das gesamte Establishment.
Die herrschende Klasse erschüttert
Die Proteste waren ein grosser Schock für die herrschenden Eliten. Ein aus ihrer Sicht besorgniserregendes Zeichen ist, dass keine der grossen Parteien zu ihnen aufgerufen hat, sondern dass die Bevölkerung selber mit irakischen Flaggen auf die Strasse ging, um gegen sämtliche Funktionäre zu demonstrieren.
Die New York Times berichtete: „Höfliche Polizisten verteilten Wasser, im Gegensatz zu Protesten früherer Jahre, bei denen sie grob gegen DemonstrantInnen vorgingen. Einer der Polizisten verurteilte sogar seine Vorgesetzten, die ihn und andere als Provokateure zu den Protesten schickten. Stattdessen schloss er sich ihnen an. In eine Handykamera ruft er, mit der Demonstration hinter ihm, man habe ihm aufgetragen ‚die Proteste zu ruinieren‘. Auf seinen Vorgesetzten fluchend fügt er hinzu: ‚Wir werden weiterhin für unsere Forderungen kämpfen, auch wenn ihr mich feuert.'“
Die herrschende Klasse ist entsetzt – zu Recht. Im Gegensatz zu früher kann sie in diese Bewegung nicht eingreifen, besonders deshalb, weil viele Mitglieder Teil der bewaffneten „Volksmobilisierungseinheiten“ sind. Das Kräfteverhältnis hat sich verschoben.
Haider al-Abadi, der Ministerpräsident, nannte die Proteste ein „Frühwarnsystem“, für „einen Fehler den wir sofort beheben müssen“, und fügte hinzu, dass „das Volk zu revolutionären Schlüssen kommen wird, wenn diese Situation sich nicht verändert.“
Auch Ajatollah al-Sistani warnt: „Noch erträgt das Volk sein Leiden, und es opfert sich im Kampf gegen den Daesh-Terrorismus, aber seine Geduld hat eine Grenze.“
Bereits am Donnerstag, 30. Juli, legte der Ministerpräsident, um die Bevölkerung von der Sonne fernzuhalten, ein viertägiges Wochenende fest, berief eine Notfallkonferenz der Energieminister ein, und setzte einem heissbegehrten Bonus der Regierungsfunktionäre ein Ende: der rund um die Uhr garantierten Stromversorgung ihrer Klimaanlagen. Die täglich festgelegten Stromausfallzeiten, die die anderen IrakerInnen schon seit langem aushalten müssen, sollen nun auch für Regierungsgebäude und die Wohnungen der Funktionäre gelten.
Der Sprecher von al-Sistani, der mit der Stimmung der Massen vertraut ist, sagt allerdings: „Er muss mutiger mit seinen Reformen sein. Er darf sich nicht mit diesen kleinen Schritten zufrieden geben. Er muss die politischen Parteien zur Verantwortung ziehen und klarstellen wer die Reformen behindert, wer auch immer sie sein mögen.“
Abadi reagierte sofort, und versprach al-Sistanis Rat zu folgen. „Ich verpflichte mich den Anweisungen des Grossajatollahs zu folgen, der die Sorgen und Bedürfnisse des irakischen Volkes ausdrückt.“ Er kündigte einen Plan zur Korruptionsbekämpfung an und lud die anderen Parteien dazu ein beizutragen.
Am 9. August präsentierte Abadi einen 7-Punkte Plan, der einen radikalen Angriff auf die Privilegien der Funktionäre und das institutionalisierte Sektierertum darstellen soll. Die Resolution lautet:
Dies ist ein grosser Sieg für die Bewegung und die Massen werden daraus Selbstvertrauen schöpfen. Es ist klar, dass das Regime extrem schwach ist. Seine Legitimation liegt nicht im Staat, sondern in der religiösen Kaste. Doch auch deren Autorität, repräsentiert durch al-Sistani, ist nicht grenzenlos. Indem er die ärmsten Schichten der Bevölkerung bewaffnet und mobilisiert hat, erschuf er eine Kraft, die er nicht mehr einfach kontrollieren kann.
Für viele dieser bewaffneten Gruppen hat die irakische Regierung jede Autorität verloren und obwohl sie formell in die Armee eingegliedert wurden (um Obama die Schmach zu ersparen, auf Schia-Milizen zurückgreifen zu müssen), bleiben sie unabhängige Kräfte.
Die Entwicklung einer revolutionären Bewegung schreitet schon seit der Arabischen Revolution fort. Proteste, die ihren Ursprung in den sunnitischen Regionen hatten, breiteten sich rasch auf den Osten und den Süden auf – gegen Korruption und Sektenherrschaft. Sogar vor den kurdischen Gebieten machte die Protestwelle keinen Halt, woraufhin die dortige herrschende Clique mit Gewalt reagierte. Allerdings konnten diese Bewegungen nicht unter einer revolutionären Führung vereint werden, die Bewegung verlief im Sand und ISIS füllte das entstandene Machtvakuum. Diese Krise markierte das vorläufige Abflauen der Bewegung in den schiitischen Gegenden, als die Massen zum Kampf gegen den Sunniextremismus mobilisiert wurden.
Manche Milizen versuchen die Bewegung hinter Abadi zu vereinen. Qais al-Khazali, der Führer der einflussreichen vom Iran unterstützten Asaib Ahl al-Haq Miliz, forderte die Abschaffung des Parlaments und die Einführung eines Präsidialsystems. „Wenn du denkst, dass du Reformen durchbringen kannst, unterstützen wir dich. Wenn nicht, dann trete zurück.“
Diese und ähnliche Darstellungen, Abadi sei ein ehrlicher, bürgerlicher Demokrat, der „leider“ im Spinnennetz der irakischen Politik gefangen ist, sind schliesslich Trugbilder. Die gegenwärtige Bewegung ist der Beweis, dass die einzige Macht, die in der Lage ist das Establishment zu verändern, die Bewegung der Massen ist. Seit Jahren sind die Forderungen der Massen dargelegt, und die Antwort war immer dieselbe: „es ist ein langer Prozess“, usw. Doch bereits nach einwöchigen Protesten wurden ihre Forderungen erfüllt und obwohl Abadi sich zurückhaltend verhielt, zwangen ihn die Massen zu viel mehr Zugeständnissen als er ursprünglich bereit war zu machen.
Bekämpft die herrschende Klasse
Die Krise im Irak ist die Weiterführung der Krise des Kapitalismus, verstärkt durch einen hundertjährigen Raubzug des Imperialismus. Der einzige Weg sie zu überwinden, ist die Überwindung des Systems. Die Bourgeoisie zittert vor solchen Aussichten. Hinter ihrer sauberen Fassade ist die herrschende Klasse der Region starr vor Angst und dem Ausblick auf zunehmende Klassenkämpfe. Sie werden alles tun um sie abzuwenden, aber sie werden scheitern. In jedem Land werden ihre diesbezüglichen Versuche von der organischen Krise des Kapitalismus vereitelt, gemeinsam mit der inhärenten Gier und Degeneration ihrer Klasse. Jeder Versuch die Situation zu stabilisieren eröffnet neue Fronten, und die historische Notwendigkeit, dieses System zu überwinden, zwingt sich ihnen auf.
In der letzten Zeit konnte das Regime sich auf den IS als die wichtigste Aufgabe berufen. Der Kommandant der Badr Brigade, Hadi al-Amiri, bestätigt, dass das Hauptziel des IS noch immer Bagdad ist. „Wir lügen die IrakerInnen nicht an, die Gefahr des IS-Terrorismus ist da.“
Nichtsdestotrotz wird immer mehr Menschen klar, dass der Kampf gegen ISIS nicht ohne den Kampf gegen das verrottete Regime gewonnen werden kann. An der Front sehen tausende junge Schiiten glasklar, dass sie nur Schachfiguren in den Machtspielchen der herrschenden Clique sind. Anstatt den IS zu vertreiben, werden sie für die Schlammschlachten der Oligarchen benutzt.
„Brüder, Sunna, Schia, wir verkaufen dieses Land nicht“, einer der populärsten Slogans, ist vollkommen korrekt. Der einzige Weg, der zum Sieg führt, ist die Spaltungen des US-Imperialismus und der herrschenden Klasse zu überwinden, und die unterdrückten Völker des Irak zu vereinen. Die Einigung der Menschen auf Klassenbasis ist die grösste Angst der Herrschenden im Nahen Osten. Solange das korrupte Regime besteht, ist keine Einigung möglich. Die aktuelle Bewegung ist deshalb eine Gefahr für alle Eliten, seien es Schiiten, Sunniten oder Kurden, die die Sektentrennung bisher zur eigenen Bereicherung benutzt haben. Es ist gleichzeitig die grösste Drohung an den IS, dessen stärkste Waffe das Misstrauen und der Hass der sunnitischen Bevölkerung auf die schiitischen Spalter in Bagdad ist.
Ein wichtiger Schritt für die Bewegung ist die Verbindung mit der organisierten Arbeiterklasse. Die Gewerkschaftsföderation spricht im Zusammenhang mit den Protesten von Verstaatlichungen, Arbeiterkontrolle, sogar von Fabriksbesetzungen. Das ganze letzte Jahr über kämpften sie gegen Privatisierungen, in denselben Gebieten, die heute von Protesten überzogen sind. Es gilt die Bewegungen zu verbinden und einen Generalstreik zur Rückverstaatlichung der Industrie zu organisieren. Dies ist ein wichtiger Schritt für die ganze Bewegung, nicht nur im Irak, sondern in der gesamten Region.
Die Bewegung im Irak ist ein Anzeichen dafür, dass die arabische Revolution noch lange nicht am Ende angelangt ist. In jedem Land brodelt es unter der Oberfläche. Die herrschende Klasse gerät in Panik, weil ihnen nach und nach die Kontrolle entgleitet. Sollte die Bewegung im Irak siegreich sein, könnte es der Funke sein, der das Feuer der Revolution im Nahen Osten neu entfacht. Es wäre ein Ende der Periode der Reaktion, die derzeit über der Region hängt.
Die Widersprüche, die die Massen zur Aktion riefen, sind in jedem einzelnen Land im Nahen Osten präsent. Die Eliten aller Länder halten sich an der Macht, nicht weil sie stark sind, oder die Unterstützung der Bevölkerung haben, sondern weil es keine Führung gibt, die die Wut der Massen kanalisieren und die Macht übernehmen könnte. Für die ArbeiterInnen im Irak gibt es nur einen Weg: Vorwärts. Sie können keiner anderen Kraft vertrauen als ihrer eigenen. Nur indem sie die Sache in ihre eigenen Hände nehmen, können sie sich über die Barbarei eines kranken, untergehenden Systems erheben.
(Original: http://www.marxist.com/mass-protests-erupt-across-iraq-ruling-class-shaken.htm)
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