Die Wahlen in Mexiko fanden unter dem Eindruck einer riesigen Jugendbewegung gegen den bürgerlichen Kandidaten, Enrique Peña Nieto, statt. Diese Bewegung könnte aufgrund des offensichtlichen Wahlbetrugs nun eine neue Dimension erreichen.
Die Stimmen der Wahlen in Mexiko sind mittlerweile neu ausgezählt und der Mitte-Rechts-Kandidat der Partei der Institutionellen Revolution PRI, Enrique Peña Nieto (EPN), bleibt mit 38,21% der Stimmen der offizielle Sieger. Andrés Manuel López Obrador (AMLO), der Kandidat des Linksbündnisses zwischen PRD, PT und Convergencia [1], kam auf 31,59%. Josefina Vázquez Mota, die für die aktuelle Regierungspartei [2] PAN ins Rennen zog, erlangte 25,41% der Stimmen.
Dass sich die PAN nach zwölf Jahren des intensiven Kampfes gegen die Drogenbarone, der in Mexiko ein Klima permanenter Gewalt entstehen liess, nicht an der Macht halten würde können, war von Beginn an klar. Sowohl EPN als auch AMLO versprachen den dauernden Konflikten auf Mexikos Strassen ein Ende zu setzen. Nach mehr als 70 Jahren durchgehend an der Macht nutzte die PRI die vergangenen Jahre in Opposition, um das durch Korruption und wirtschaftliche Fehlentscheidungen angekratzte Bild in der öffentlichen Meinung zu rehabilitieren und sich als staatstragende Kraft zu präsentieren [3]. Die PRD und ihr Kandidat AMLO konnten schon 2006 nur durch Wahlbetrug von der Machterlangung abgehalten werden. Nach monatelangen, zermürbenden Protesten, die die Anerkennung AMLOs als legitimen Präsidenten forderten, verliefen sich diese jedoch ohne Erfolg.
Die dubiose Figur Enrique Peña Nieto
Enrique Peña Nieto ist vor allem wegen zwei Dingen bekannt: wegen seines guten Aussehens und weil er als Gouverneur des Mexico City umschliessenden Bundesstaates Estado de México brutal die Proteste gegen einen Flughafenbau in Atenco niederschlagen liess. Über ihn gibt es aber noch einiges mehr zu sagen. Seine erste Frau starb relativ jung an einem epileptischen Anfall. Bei einem Interviewtermin konnte sich EPN aber partout nicht an ihre Todesursache erinnern. Von Auftragsmord wird gemunkelt. Kurz nach dem Tod der Frau heiratete er schon eine bekannte Televisa-Schauspielerin. Kritik musste Peña Nieto auch für seinen Auftritt bei der Buchmesse in Guadalajara einstecken. Auf die Frage nach seiner drei liebsten Bücher reagiert er zögerlich, nennt erst die Bibel, dann gibt er bei zwei weiteren Büchern einmal den Titel und einmal den Autor falsch wieder. Spöttische Berichte über diesen Vorfall in den Medien kommentierte seine Tochter schliesslich auf Twitter, indem sie einen Gruss an alle “Idioten”, die Teil des Pöbels („prole“) sind und nur aus Neid kritisieren, schickte. Auf den Demos wird aktuell deshalb häufig “La prole unida, jamás será vencida“ skandiert. [“Der vereinte Pöbel wird niemals besiegt werden”; in Anlehnung an den populären Spruch “El pueblo unido, jamás será vencido”, “Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden”]
Ich bin Nummer 132
Dass Peña Nieto die Bevölkerung polarisiert, wurde spätestens klar, als er der elitären iberoamerikanischen Privatuni in Mexico City einen Besuch abstattete. Anstatt bewundernder Blicke und aufmerksam seinem Wortlaut lauschenden StudentInnen, fand der Präsidentschaftskandidat eine ihn ausbuhende Masse vor. Er flüchtete schliesslich auf die Toilette, musste aber mangels anderer Ausgänge – zu seinem grossen Unmut – schliesslich doch die tobende Menschmenge durchqueren. Ein Grossteil der Medien kritisierten daraufhin das unreife und nahezu gewalttätige Verhalten der Studierenden, woraufhin 131 von ihnen eine Deklaration verfassten, in der sie ihre politische Motivation verteidigten. Viele andere Jugendliche solidarisierten sich. Auf den Protestmärschen finden sich deshalb häufig Plakate auf denen „Ich bin Nummer 132“ geschrieben steht. Dieser Slogan wurde zum Label für eine Massenbewegung, die bereits vor den Wahlen gegen Peña Nieto mobil machte.
Ungereimtheiten am Wahltag
Schon vor dem Wahltag erschlich sich die PRI über die Vergabe von Lebensmittelpaketen und 500-Peso-Scheinen Stimmen. Wer sich davon nicht beeindrucken liess, der wurde in vielen Fällen durch offene Bedrohung eingeschüchtert. Es gibt Fotos von bewaffneten Männern vor Wahllokalen, die zu einer Stimmabgabe für die PRI zwingen wollen oder zumindest das Ausfüllen des Wahlzettels für AMLO unmöglich machen sollen. Von AMLO eingesetzte WahlbeobachterInnen wurden eingeschüchtert, angeschossen oder sogar ermordet. Ausserdem gibt es einige formale Ungereimtheiten: In mehreren Bundesstaaten wurde über 10% mehr Wahlkarten registriert, als es überhaupt Stimmberechtigte gab. Ausserdem stimmen Aussagen von einem US-amerikanischen Professor der Universität von El Paso und Anonymous México überein, die sich durch Hacking Zugang zum Computersystem verschafften und feststellten, dass die der Öffentlichkeit im Laufe des Wahltages präsentierten Zahlen nicht mit den realen übereinstimmten, sondern konsequent Stimmen von AMLO Peña Nieto aufgeschlagen wurden.
Die Tage danach – Erste Proteste, skurrile Vorkommnisse und unnötige Aussagen
Kurz nach der Wahl wurden bereits Rufe laut, dass es (wieder) Wahlbetrug gegeben habe. Anstatt offen zum Aufstand aufzurufen (wie er es 2006 gemacht hatte), verlangte AMLO lediglich eine Neuauszählung der Stimmen. Wenig überraschend konnte die mexikanische Wahlbehörde IFE auch bei einer Neuauszählung von mehr als 50% der Stimmen keine fundamentalen Unterschiede feststellen. Dieses Institut ist natürlich in die gegenwärtigen Herrschaftsstrukturen eingebunden und deshalb mutet es seltsam an, dass AMLO es überhaupt in Betracht zog, diesen Weg zu gehen. Zudem ist es unmöglich festzustellen, in welchem Ausmass Stimmen gekauft wurden und schon gar nicht können diese annulliert werden. Die Zahl dürfte aber sehr hoch liegen, wie zwei aktuelle Beispiele zeigen sollen. Einerseits kam es montags vor der PRI-Zentrale in Mexiko City zu Protesten von entzürnten WählerInnen, die für ihre Stimmabgabe noch kein Geld erhalten hatten. Andererseits mussten Supemarkt-Filialen der Soriana-Kette wegen Überlastung schliessen. Die von der PRI verteilten Gutscheine wollten alle gleich nach der Wahl einlösen, in der Angst, dass sie nach der Neuauszählung der Stimmen vielleicht ihre Gültigkeit verlieren könnten.
Montag und Dienstag nach dem Wahlsonntag fanden bereits Demonstrationen gegen den neuerlichen Wahlbetrug statt. Am Samstag, dem 7. Juli, fand in Mexico City mit mehreren Zehntausend Beteiligten nun der bisher grösste Marsch gegen Peña Nieto statt. Auch in anderen Teilen des Landes gehen die Menschen auf die Strasse, um gegen die Einsetzung Peña Nietos zu demonstrieren. Wenn dies geschieht, dann gibt es eine Revolution („Si hay imposición, hay revolución“, “Wenn ihr ihn einsetzt werden wir eine Revolution machen”), drohen sie. Während sich das mexikanische Volk gegen den Wahlbetrug währt, hat der venezolanische Präsident Hugo Chávez nichts Besseres zu tun, als EPN zur Wahl zu gratulieren und zu betonen, dass er die bilateralen Beziehungen gerne weiterführen möchte. Dies ist natürlich eine absolut kritikwürdige Haltung, die viele der im Aufstand befindlichen MexikanerInnen verärgert. Die Kampfbereitschaft ist derzeit hoch und der Wille, diesen weiteren Wahlbetrug wie jene zuvor nicht mehr hinzunehmen, wird die nächsten Tage spannend machen. Entscheidend wird sein, ob sich AMLO vom Druck der Massen mitreissen lässt und zum offenen Widerstand aufruft.
Die GenossInnen von La Izquierda Socialista, die marxistische Strömung in MORENA (jener millionenstarken Front, in der AMLO seine UnterstützerInnen um sich gruppiert), hielten kurz nach den Wahlen eine Veranstaltung ab. Dieses Treffen fand im Gebäude der CNTE Sektion 9, einer demokratischen LehrerInnengewerkschaft, statt. Dabei kamen über 100 Menschen, hauptsächlich Jugendliche aus MORENA Ortsgruppen und von der „Ich bin Nummer 132“-Bewegung. Die GenossInnen argumentierten, dass es notwendig wäre das Land in einem 24-stündigen Generalstreik zu paralysieren, um die wirkliche Macht der ArbeiterInnenklasse zum Ausdruck zu bringen, und eine „Bundesweite Front gegen Einsetzung“ zu organisieren. Eine solche Front sollte alle Kräfte vereinen, die gegen die Einsetzung von Peña Nieto sind und eine Massenbewegung aufbauen wollen um dies zu verhindern. Genosse Adrian beendete seine Ausführungen mit folgenden Worten: „Wir haben nichts zu verlieren. Es ist besser zu kämpfen und zu verlieren, als überhaupt nicht zukämpfen!“
Die Autorin ist Mitglied der SJ Alsergrund/Wien und hielt sich vor Kurzem für einige Monate in Mexiko auf
Zum Weiterlesen: Ein Bericht von dem “In Defence of Marxism”-Korrespondenten aus Mexiko City
Fussnoten
[1] PRD = Partido de la Revolución Democrática, Partei der Demokratischen Revolution; PT = Partido del Trabajo, Partei der Arbeit; Convergencia = Konvergenz, 1999 gegründete sozialdemokratisch orientierte Partei;
[2] Die Machtübergabe erfolgt in Mexiko traditionell erst am 1. Dezember, obwohl die Wahlen immer schon zu Sommerbeginn stattfinden.
[3] Ende der 198er Jahre und während der 1990er Jahre konnten sich in der PRI neoliberale Kräfte durchsetzen, die nahezu alle profitablen Staatsunternehmen an befreundete Angehörige der Eliten zu viel zu niedrigen Preisen verkauften und das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA zu Lasten großer Teile der agrarisch orientierten Bevölkerung unterzeichneten. Nicht nur, aber auch deshalb wurde die wirtschaftliche Lage immer prekärer und sie mündete schließlich 1995 in der Tequila-Krise. Die PRI verlor ihre Legitimität und wurde bei den Wahlen 2000 nach mehr als 70 Jahren an der Macht von der konservativen Partei der nationalen Aktion PAN abgelöst.
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