Frankreich wird von einer neuen Massenbewegung erschüttert. Am 10. und 18. September gingen Hunderttausende Arbeiter und Jugendliche unter dem Slogan «Bloquons tout!» («Blockieren wir alles!») auf die Strasse.

Der Sparhaushalt von François Bayrou brachte das Fass zum Überlaufen. Schnell wurde daraus aber nicht nur ein Protest gegen einzelne Sparmassnahmen, sondern eine grundsätzliche Ablehnung aller Angriffe auf die Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung. Die von der herrschenden Klasse geforderten 44 Milliarden Euro Einsparungen sind für den französischen Kapitalismus von existenzieller Bedeutung. Heute steht Frankreich gefährlich nahe an einer Schuldenkrise. Eine Ratingagentur nach der anderen stuft die Kreditwürdigkeit des Landes herab, und zum ersten Mal muss Frankreich Geld zu denselben Zinssätzen aufnehmen wie Italien. Im Jahr 2025 werden die Zinszahlungen 65 Milliarden Euro betragen – mehr als das Bildungsbudget – und sie könnten bald den grössten Posten im Staatshaushalt darstellen.

Wenn Bayrou sagt: «Wir sind süchtig nach öffentlichen Ausgaben geworden», meint er damit: Die französischen Arbeiter sollen Opfer bringen. In Wahrheit liegt die eigentliche Ursache der Krise im allgemeinen Niedergang des französischen Kapitalismus.

Der lange Niedergang des französischen Kapitalismus

Der Zusammenbruch der UdSSR 1991 leitete eine Phase intensiver Globalisierung ein, begleitet von der Euphorie der herrschenden Klassen. Die kapitalistische Ordnung hatte gesiegt und versprach ewigen Wohlstand. Die Öffnung der Märkte in China und Russland, gekoppelt mit der Finanzialisierung der Wirtschaft, boten enorme Gewinnchancen. Das wiedervereinigte Deutschland wurde zu einem industriellen Riesen, der das wirtschaftliche und politische Gewicht Frankreichs innerhalb der EU deutlich bedrohte.

Infolgedessen wandten sich die französischen Kapitalisten in den 1990er- und 2000er-Jahren den Finanzmärkten zu und verfolgten ein Programm der Deindustrialisierung und Verlagerung von Produktionsstätten. Innerhalb von 20 Jahren schlossen 50 % der Fabriken, und 2,5 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie gingen verloren. Gleichzeitig halbierten sich innerhalb von 30 Jahren der Anteil Frankreichs am globalen BIP und an den weltweiten Exporten. Diese Strategie machte die französische Wirtschaft besonders anfällig für die Finanzkrise 2008. Eine Rettung gelang nur auf Kosten einer beispiellosen Explosion der Staatsverschuldung – ein Szenario, das sich während der COVID-19-Pandemie wiederholte. Zwischen 2007 und 2025 stieg die Verschuldung von 64 % auf 114 % des BIP.

Die massiven Geldspritzen verhinderten den Zusammenbruch des Finanzsystems und explosionsartige soziale Konflikte, konnten aber den relativen Niedergang der französischen Industrie nicht aufhalten. Die Unternehmen schütteten Rekorddividenden aus, doch davon profitierten nicht produktive Investitionen. In einem Kontext der Überproduktionskrise ist es für die Kapitalisten rentabler, in spekulative Finanzanlagen zu investieren, als die reale Wirtschaft auszubauen. Dies zeigt den Parasitarismus des französischen Kapitalismus, der nur dank staatlicher Hilfen überleben kann.

Um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, muss die Bourgeoisie die Last der Krise auf die Schultern der Arbeiter abwälzen. Macron kam 2017 an die Macht, um genau dies durchzusetzen. Seitdem arbeitet er systematisch daran: Privatisierungen, Flexibilisierung der Arbeit, Öffnung des Schienenverkehrs für private Anbieter, Kürzungen im öffentlichen Nahverkehr, Steuersenkungen für Reiche, Angriffe auf den öffentlichen Dienst und auf die Renten. Die Liste der Massnahmen ist lang.

Gelbwesten und Rentenreform

Schon bei den ersten Angriffen stiess Macron auf den Widerstand der Massen. Doch wegen der Passivität der Gewerkschaftsführungen gelang es der Regierung, eine ganze Reihe von Angriffen durchzusetzen. An diesem Punkt entstand die Bewegung der Gelbwesten, die für Macron die erste Bewährungsprobe darstellte. Im November 2018 brach als Reaktion auf eine sozial ungerechte Steuer auf Benzin ein spontaner starker sozialer Protest aus. Er war Ausdruck der angesammelten Wut der Bevölkerung nach jahrelanger Verschlechterung der Lebensbedingungen.

Die Bewegung brachte Menschen auf die politische Bühne, die normalerweise ausgeschlossen sind. Sie entwickelte sich ausserhalb der Gewerkschaften, deren Passivität zu zahlreichen Niederlagen geführt hatte. Diese Spontaneität war zugleich die Stärke und die Schwäche der Gelbwesten. Ohne die Unterstützung einer organisierten Arbeiterbewegung erschöpften sie sich schliesslich, trotz einzelner Teilerfolge. Wöchentliche Demonstrationen allein konnten die Regierung nicht stürzen.

Die Bewegung gegen die Rentenreform, die 2019 begann und nach der Pandemie 2023 weitergeführt wurde, wurde unter dem Druck der Arbeiter von den Gewerkschaften organisiert. Sie bestand aus einer Reihe von Streiktagen, oft mit mehreren Wochen Abstand, und mobilisierte Millionen Streikende. Die Bewegung wurde – ähnlich wie die Gelbwesten – von mehr als zwei Dritteln der Bevölkerung unterstützt. Doch die Strategie der Gewerkschaftsführungen, diese bekannten «Aktionstage», zerstreute die Kräfte der Bewegung und führte zu einer bitteren Niederlage für die Massen.

Bloquons tout!

Nach diesem Pyrrhussieg verlor Macron 2024 schliesslich seine relative Mehrheit im Parlament. Fünf Premierminister folgten aufeinander, jeder scheiterte daran, das Austeritäts-Budget der Bourgeoisie durchzusetzen. In diesem Kontext entsteht Bayrous verhasstes Budget und die Bewegung «Bloquons tout»: Die Bourgeoisie muss ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken, indem sie die Arbeiter bezahlen lässt, hat aber keine stabile politische Basis mehr, um dies durchzusetzen.

«Bloquons tout» entstand über soziale Netzwerke als tiefgehende, direkte Reaktion aus den Tiefen der Gesellschaft. Die Bewegung verbreitete sich wie ein Lauffeuer, weil sie perfekt der Situation entsprach. Nach dem Sturz mehrerer Regierungen war die logische Schlussfolgerung: Man kann vom System nichts mehr erwarten. Die Zeit für radikale Massenaktionen ist gekommen, um die Interessen der Mehrheit zu verteidigen.

Die offiziellen Medien bezeichneten die Bewegung mal als verschwörungstheoretisch, mal als extrem rechts, dann plötzlich als Black Bloc und extrem links. Hinzu kam eine massive Repression mit 80’000 eingesetzten Polizisten. Doch diese Hindernisse verstärkten nur die Wut und die Entschlossenheit gegen die herrschende Klasse. Am 10. und 18. September beteiligten sich 300’000 beziehungsweise eine Million Menschen an den Aktionen. Hunderte Protestaktionen fanden in ganz Frankreich statt, die Jugend stand an vorderster Front. Ein Pariser Lehrer äusserte sich so: «Ich bin hier, weil diese illegitime Regierung blockiert werden muss. Bayrou wurde vertrieben, seine Politik muss auch vertrieben werden. Wir wollen kein Kriegs- und Sparbudget.»

Ein Schritt vorwärts für die Arbeiterbewegung

Wir können den Ausgang der Bewegung nicht vorhersagen. Doch sie unterscheidet sich bereits in mehreren Punkten von früheren Kämpfen. «Bloquons tout» ist stark politisiert, ein klares Ziel ist definiert: der Sturz Macrons und das Ende der Austerität. Eine Frage dominiert alle Vollversammlungen und Mobilisierungen: Wie können wir diesmal gewinnen? Die Massen haben aus den grossen Kämpfen der letzten Jahre klare Lehren gezogen.

Einerseits ist es notwendig, die Wirtschaft lahmzulegen; Samstagdemonstrationen und die Besetzung von Kreisverkehren reichen nicht aus. Andererseits führen einzelne Aktionstage zu nichts, und die französischen Kapitalisten wissen sehr genau, wie sie damit umgehen müssen.

Deshalb ist das Motto «Bloquons tout» besonders treffend. Die einzige Möglichkeit, unsere Gegner dauerhaft zurückzudrängen, besteht darin, alles über längere Zeit zu blockieren. Wir, die Arbeiterklasse, haben die Macht dazu. Wir sind das Rückgrat der gesamten gesellschaftlichen Produktion. Nichts wird ohne die Hände der Arbeiterklasse hergestellt, während die Kapitalisten keine unentbehrliche Rolle spielen. Wenn die Arbeiter ihre eigene Stärke erkennen und beschliessen, die Wirtschaft anzuhalten, kann ihnen nichts im Weg stehen. «Bloquons tout» hat bereits grosse Entschlossenheit und ein hohes Bewusstseinsniveau gezeigt, doch nur ein uneingeschränkter Generalstreik kann den Erfolg der Bewegung sichern.

Dafür ist allerdings ein hohes Mass an Organisation und Zentralisierung nötig – und genau daran mangelt es aktuell am meisten. Ein klarer Plan und eine ausreichende Koordination sind erforderlich, um die gesamte Kraft auf die Ausweitung fortlaufender Streiks zu konzentrieren. Die Gewerkschaften sind in der Gesellschaft die Kraft, die am besten in der Lage ist, dies umzusetzen und wirklich alles zu blockieren. Stattdessen stellen sie dem Staat ein «Ultimatum»: eine Woche, um ihre Forderungen zu erfüllen – andernfalls wird … ein weiterer Aktionstag organisiert. Es ist lächerlich und schädlich, Illusionen in eine Regierung zu säen, deren Existenz allein darauf abzielt, die Wettbewerbsfähigkeit des französischen Kapitalismus auf Kosten der Arbeiter wiederherzustellen.

Und jetzt?

«Bloquons tout» hat bereits Erfolge erzielt, angefangen mit dem vorzeitigen Rücktritt Bayrous noch vor Beginn der Bewegung. Die neue Regierung zog anschliessend die geplante Streichung der Feiertage zurück und machte einige symbolische Zugeständnisse. Die Gewerkschaften wurden unter dem Druck der Massen gezwungen, am 18. September zum Streik aufzurufen. Jetzt müssen Mélenchon und der linke Flügel der Gewerkschaften diesen Druck verstärken, um die Führung der Gewerkschaften dazu zu bringen, ihre vergeblichen Verhandlungen mit der Regierung abzubrechen.

Eine Bewegung, die stark genug ist, um die Austerität zurückzuschlagen, darf sich nicht damit zufriedengeben, dass alle Angriffe zurückgenommen werden. Eine Serie von massiven fortgesetzten Streiks wird die Frage nach dem Rücktritt Macrons aufwerfen – und letztlich danach, wer die Gesellschaft kontrolliert. Die Bewegung fordert «die Macht für das Volk» – das ist ein gutes Ziel, aber was würde das konkret bedeuten? Es gibt keinen Mittelweg: Entweder bleibt die herrschende Klasse an der Macht und setzt ihre Angriffe gegen die Massen unermüdlich fort, oder die Bewegung wird so stark, dass sie sie hinwegfegt und mit einer Regierung der Arbeiter ersetzt.

Eine solche Regierung würde sich weigern, die Schulden zu begleichen, würde Banken und Grossunternehmen enteignen und die Wirtschaft unter demokratischer Kontrolle von Arbeitern und Jugendlichen planen.

Dies ist sicherlich kein einfacher oder sofortiger Weg und erfordert eine radikale Veränderung in der Ausrichtung der Führung der Arbeiterbewegung. Doch die Situation in Frankreich ist ein Vorgeschmack darauf, was in vielen anderen europäischen Ländern bevorsteht. Letztlich gibt es für die historische Krise des Kapitalismus keinen anderen Ausweg als seinen endgültigen Sturz.