Die Krise, die wir seit 2020 durchleben, markiert nichts weniger als einen historischen Wendepunkt. Wir sind in die nächste, höhere Stufe der revolutionären Krise des kapitalistischen Systems eingetreten.
Ein englisches Risiko- und Strategieberatungsunternehmen hat im September 2022 eine Studie veröffentlicht mit dem Titel «101 Länder verzeichnen im letzten Quartal einen Anstieg der zivilen Unruhen». Sie warnen seit 2020 vor einer «neuen Ära ziviler Unruhen». Und: «Das Schlimmste steht uns noch bevor, da der sozioökonomische Druck zunimmt».
Diese Einschätzung ist korrekt. Die Krise seit 2020 markiert nichts weniger als einen historischen Wendepunkt.
Um diesen Wendepunkt zu verstehen, brauchen wir einerseits einen historischen Blick, andererseits müssen wir mit der Wirtschaft (der Grundlage der Gesellschaft) beginnen.
Die Krise von 1973 beendete die Ausnahmeperiode des Nachkriegsbooms. Die systemische Krise des Systems meldete sich zurück: Die Produktivkräfte schlugen an die engen Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft. Der Kapitalismus fand einen Ausweg durch die Ausweitung des Welthandels («Globalisierung») und durch die Einspeisung fiktiven Kapitals in die Wirtschaft. Das waren die Haupttreiber der Aufschwungsperiode seit den 80ern.
Dadurch wurde der Widerspruch zwischen dem hohen Entwicklungsstand der Produktivkräfte und dem engen kapitalistischen Rahmen nicht gemildert, sondern verschärft. Eine Explosion auf weitaus höherer Stufe als die 73er-Krise wurde vorbereitet. Die Weltwirtschaftskrise von 2008 war ihr erster Ausdruck. Diese Krise wurde nie wirklich überwunden. Der «Aufschwung» des langen Jahrzehnts nach 2008/2009 war vollständig blutleer und spekulativ.
Die Krisenjahre nach 2020 (ausgelöst, aber nicht verursacht durch Pandemie und Krieg) beenden die Periode nach 2008 – und damit die ganze Periode nach dem Ende des Nachkriegsbooms. Was ist neu? Die Rechnungen für die Überwindung und das Rauszögern der Krise in der Vergangenheit (Globalisierung, fiktives Kapital) werden auf den Tisch geknallt: Protektionismus und Inflation sind da. Gleichzeitig hat die Bourgeoisie alle Munition verschossen, um der Krise etwas zu entgegnen. Versuche, ein Problem zu lösen, münden in der Verschärfung eines anderen – ohne dass dadurch das ursprüngliche Problem verschwunden wäre.
Dieser Wendepunkt bedeutet den Eintritt in die nächste, höhere Etappe in der systemischen Krise des Kapitalismus. In den nächsten Jahren wird der Kapitalismus von einer Krise zur nächsten stolpern. Es droht eine lange, tiefe Depression.
Nach der 70er-Krise wurde der Welthandel ausgeweitet: 1970 wurde jede achte Ware exportiert, 2008 fast jede dritte. Die Produktivkräfte wurden temporär von den engen Schranken des kapitalistischen Nationalstaats befreit. Diese Globalisierung erschuf eine globale Integration der Wirtschaft, wie sie der Kapitalismus bis dahin nie gesehen hatte.
Die Globalisierung bereitete aber eine Übersättigung der Märkte auf Weltebene vor. Das drückte sich erstmals in der Krise 2008 aus. Der Kapitalismus löste das Problem der Überproduktion seither in keiner Weise. Die internationale Überproduktion machte die Rückkehr des Protektionismus notwendig. Übersättigung der Märkte heisst, dass der Kampf um den Kuchen härter wird. Dadurch muss jeder Nationalstaat versuchen, seinen Kapitalisten ein möglichst grosses Stück vom Kuchen zu sichern – auf Kosten der anderen.
So begann der Motor des Welthandels nach 2008 zu stottern. Vermittelt durch die Pandemie und den Ukraine-Krieg verkehrte sich die Sache vollständig in ihr Gegenteil. Die letzten Jahre markieren das Ende der Periode der Globalisierung – und den Beginn einer Periode des ökonomischen Nationalismus.
Ähnlich wie die Globalisierung den ökonomischen Nationalismus zurückbrachte, so brachte die Flut der Märkte mit fiktivem Kapital das alte Schreckgespenst der Inflation: Die künstliche Ausweitung der engen Grenzen der kapitalistischen Profit- und Warenwirtschaft rächt sich in Form der Entwertung des Geldes.
Die Höhe der Kredite in den USA stieg von 150 % (1970) auf 400 % (2008) des BIPs. Das Wachstum der Produktivität hingegen sank kontinuierlich. Nach 2008 ging diese Schere (Geldflut auf der einen Seite, Rückgang des Wachstums der Produktion auf der anderen Seite) noch weiter auseinander. Das Wachstum der Produktion stagnierte nach der ungelösten 2008er-Krise noch mehr. Gleichzeitig druckten die Zentralbanken im Namen von «Quantitative Easing» Unmengen an Geld. So versechsfachten sich von 2008 bis nach der Pandemie die Bilanzen der Zentralbanken von Japan, EU und USA. Über Jahre fand dieses billige Geld keinen Weg in die Produktion und führte nicht zur Inflation der Konsumgüter. Als die Regierungen 2020 auf die Pandemie mit riesigen Ausgaben und einer historisch einzigartigen Flutwelle an Geld auf den Einbruch reagierten, folgte schliesslich die Inflation.
Die Pandemie und der Krieg waren die Zufallsfaktoren, welche der Notwendigkeit der Inflation zum Ausdruck verhalfen. Speist man Geld in die Wirtschaft, während nicht in gleichem Masse die Menge der Werte anwächst, so muss das zur Inflation führen.
Zur gleichen Zeit hat die Bourgeoisie alle Munition verschossen, um den Kapitalismus irgendwie aufzupeppen. Alles, was sie macht, ist falsch.
Es gibt kein Zurück zur Periode der Globalisierung. Für US-amerikanische Kapitalisten ist es rational, dass Biden vor dem Hintergrund des verschärften ökonomischen Umfelds denjenigen Konsumenten Subventionen verspricht, die Waren von US-Kapitalisten kaufen. Aber das heisst, die Krise zu exportieren: Das zwingt die anderen Blöcke zu derselben Politik. So antwortete Macron auf Bidens «Inflation Reduction Act» mit dem Vorschlag eines «Buy European Acts». Die Rationalität vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten bedeutet notwendigerweise Irrationalität vom Standpunkt des Ganzen betrachtet. Der Protektionismus droht den Kapitalismus in eine tiefe Depression runterzuziehen.
Die Rückkehr des Schreckgespensts der Inflation zwang die Bürgerlichen, ihre Geldpolitik um 180 Grad auf den Kopf zu stellen und die Leitzinsen nach Jahrzehnten wieder zu erhöhen. Dadurch soll eine Rezession herbeigeführt und so die Inflation gedrosselt werden. Die Rezession kommt bestimmt bzw. ist bereits da in vielen Ländern – aber die Inflation wird dadurch nicht verschwinden! Die Ausweitung des Welthandels und die Internationalisierung von Produktions- und Lieferketten in der letzten Periode verbilligten die Waren; die neue Periode des ökonomischen Nationalismus hingegen wird sie verteuern. Zum Beispiel wird die Rückverlagerung von Produktionsstätten zur Herstellung von Mikrochips in die USA («CHIPS for America») deren Produktionskosten erhöhen.
Das ist nicht alles. Die Konsequenz der Ausweitung der Kreditmengen in der letzten Periode sind die absurden Schuldenstände. Die internationale Gesamtverschuldung liegt bei unglaublichen 350 % des BIPs. Die Erhöhung der Leitzinsen verteuert nun die Rückzahlung von Schulden. Es drohen Rattenschwänze von Zahlungsausfällen, Kreditklemmen, Staatsbankrotten usw.
Ähnlich wie das Ende der Globalisierung droht die geldpolitische Kehrtwende nicht nur eine «kontrollierte» Rezession hervorzubringen, sondern die Rezession in eine tiefe Depression zu verwandeln. Das ist der sprichwörtliche Schritt vom Regen in die Traufe. Ein erster Warnschuss sind der Kollaps der SVB-Bank und die Schockwellen im internationalen Finanzsystem. Es droht die «Mutter aller Schuldenkrisen».
Dieser wirtschaftliche Wendepunkt hebt den Prozess der Vorbereitung auf die Weltrevolution auf die nächste Stufe.
Seite den 80ern greift die Bourgeoisie den Lebensstandard der Nachrkriegsperiode an. Nach 2008 verschärften sich diese Angriffe. So betrat die Arbeiterklasse die neue Etappe der Krise des Systems: unfähig, weitere Angriffe ertragen zu können.
Die Rückkehr der Inflation bedeutete einen materiellen Hammerschlag für die Arbeiterklasse, in jedem Land. Dazu kamen die globalen, dystopischen Schocks der Pandemie und des Kriegs. Das provozierte das Erwachen der Arbeiterklasse in den wichtigsten kapitalistischen Ländern nach Jahrzehnten der Isolation und Passivität.
In den USA nahm dieses Erwachen die Form einer Bewegung für die gewerkschaftliche Organisierung prekärer Arbeiter an. Eine neue Generation radikaler Klassenkämpfer reift vor unseren Augen. In Europa bildet die britische Arbeiterklasse die Vorfront in der Wiederbelebung des Streiks. Die Streikwelle – von Eisenbahnern, Hafenarbeitern, Pöstlern, Müllmännern, sogar Anwälten – hält an. Dieselbe Explosion des Kampfs an der industriellen Front ist in Ländern wie Italien und Deutschland eine Frage der Zeit.
In China sahen wir den Beginn des Aufbrechens des vordergründigen sozialen Gleichgewichts mit dem Kampf der Foxconn-Arbeiter und den nationalen Anti-Lockdown-Protesten Ende letztes Jahr.
In den ex-kolonialen Ländern wurde die Welle an Massenaufständen durch die Pandemie unterbrochen – um auf einer höheren Stufe weiterzugehen. Massenaufstände mit teilweise revolutionären Zügen wie in Sri Lanka und im Iran sind in diversen Ländern notwendig.
Die Bourgeoisie muss die übriggebliebenen Reformen aus der vorletzten Periode vollständig abtragen und hat keine Mittel mehr, um die Krise abzudämpfen. Sie muss diese mit grösster Härte auf die Arbeiterklasse abwälzen – die ihrerseits keine Angriffe mehr ertragen kann! Das ist die Formel für die kommende Entwicklung des Klassenkampfs: Die Bedingungen für soziale Explosionen verschärfen sich überall.
Was für die Weltrevolution fehlt, ist eine revolutionäre Partei. Die Führungen der Massenparteien sind so bankrott wie noch nie.
Eine revolutionäre Massenpartei braucht ein stabiles Rückgrat: eine Schicht aus Revolutionären, welche die einzige wirklich revolutionäre Weltanschauung, den Marxismus, in Fleisch und Blut verwandelt haben. Die Aufgabe der fortgeschrittensten Elemente der Jugend und der Arbeiterklasse besteht heute darin, dieses Rückgrat aufzubauen. Das macht die International Marxist Tendency.
Die Marxisten der IMT sind Jahrzehnte gegen den Strom geschwommen. Heute beginnt dieser sich zu drehen. Wenn die Krise zur Normalität wird, dann entwickelt sich revolutionäres Bewusstsein. So erleben heute kommunistische Ideen ein breites Revival in der Jugend. Jeder Fünfte aller 18 bis 34-Jährigen in den USA sieht den Kommunismus als «ideales System». In Grossbritannien ist es fast jeder Dritte. In der Schweiz wird es ähnlich sein. Das Bewusstsein der Jugend ist das zukünftige Bewusstsein breiterer Schichten der Arbeiterklasse.
Zeit ist die wertvollste Sache in der heutigen Weltsituation. Wenn du findest, der Kommunismus sei erstrebenswert, dann trete noch heute der IMT bei.
Die Redaktion
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
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