Bundesrat und Bürgerliche sind verantwortlich für den katastrophalen Umgang mit der Corona-Pandemie. Wie kann die zweite Welle bekämpft werden? Nur durch eine unabhängige Politik der Arbeiterklasse: Die SP muss in die Opposition!
Was die Bürgerlichen in dieser Krise abziehen, ist an Fahrlässigkeit und Menschenfeindlichkeit schwer zu überbieten. Nicht dass andere Regierungen Europas ihre Sache gut machen würden. Aber die Schweiz hat sich tatsächlich zu diesem berühmten «Sonderfall» entwickelt, zu dem die nationalen Wortführer sie schon lange hochstilisieren – wenn auch in durchaus anderer Weise. Die Schweiz verzeichnet in der zweiten Welle eine der höchsten Todesraten in Europa.
Die Pandemie ist in der Schweiz völlig ausser Kontrolle, das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Es ist fünf nach zwölf, doch das Versäumnis der Regierung wird nicht korrigiert: «Lockdown» im Privatleben ja, aber die Profitmacherei soll möglichst ohne Einschränkungen weiterlaufen. Während das Personal in den Spitälern am Anschlag ist, hatten die bürgerlichen Fraktionen im Nationalrat (SVP, FDP, Mitte) die Frechheit, zu fordern, der Skibetrieb soll über die Festtage uneingeschränkt laufen: «im Interesse des Wirtschafts- und Tourismusstandorts Schweiz», natürlich! Verhinderbare Tote werden zynisch in Kauf genommen, geopfert für den Profit. Diese Corona-Politik ist ein einziges Debakel.
SP mit Kritik an Corona-Politik
Seit Ende November hat die SP-Führung die Schweizer Corona-Politik kritisiert. Bund und Kantone hätten es verpasst, sich auf die zweite Welle vorzubereiten, Bundesrat und Bürgerliche hätten den Profit über die Gesundheit gestellt.
In ihrem offenen Brief «Fallzahlen runter, Betroffene unterstützen!» fordert die SP «grosszügige wirtschaftliche Unterstützung für Betroffene», um «Existenznöte und Unsicherheit» zu verhindern. Sie stellt Forderungen zum Schutz der Lohnabhängigen und Selbständigen, darunter vor allem auch eine 100% Entlohnung für Kurzarbeit bei tiefen Löhnen. Das sind Schritte in die richtige Richtung.
Doch wie können diese Forderungen umgesetzt werden? Die SP beschränkt sich auf einen Appell an die Bürgerlichen und den Bundesrat. Doch höhere Kurzarbeitsentschädigungen drücken auf die Profite, ein Lockdown erst recht. Die Pandemie bekämpfen und die soziale Sicherheit sichern geht absolut gegen die Interessen des Kapitals, die der Bundesrat und die bürgerlichen Parteien bis aufs Blut verteidigen. Die letzten Wochen und Monate waren deutlich: Welchen Beweis, dass die Profite der Kapitalisten im Widerspruch zu unserer Gesundheit und sozialen Sicherheit stehen, brauchen wir noch?
Die Grenzen der SP-Herangehensweise werden umso gravierender, wenn es um das zweite dringende Ziel des SP-Briefes geht: «Fallzahlen runter!». Darüber, wie das zu erreichen ist, schweigt die SP-Spitze. Sie freut sich nur, dass der Bundesrat jetzt wieder verstärkt die Zügel in die Hand nimmt und fordert eine Strategie und «einheitliche Massnahmen». Die SP-Führung tut, als könne man die Bürgerlichen und den Bundesrat mit Argumenten überzeugen und zum Handeln bringen.
Das wird nicht passieren. Die Bürgerlichen und der Bundesrat vertreten nicht die Interessen der Arbeiterklasse, der Mehrheit der Bevölkerung. Sie werden sich nur bewegen, wenn der Druck aus der Arbeiterklasse steigt und sie Angst um ihre Position haben oder sie mit kleinen Zugeständnissen opportunistisch ihre Unterstützung vergrössern können. Dieser Druck wird nicht im Parlament erzeugt, sondern in den Betrieben, den Quartieren, auf den Strassen.
Die SP muss einen Weg finden, wie die Arbeiterklasse die Forderungen selbst umsetzen oder ihre Umsetzung erzwingen kann. Sie muss im Bündnis mit den Gewerkschaften direkt für die Verankerung dieser Forderungen in den Betrieben, Schulen, Quartieren sorgen. Dort sollen die Forderungen in Versammlungen diskutiert und ihre Unterstützung beschlossen werden.
Die Arbeiterklasse kann diese Krise lösen, sie muss die Dinge selbst in die Hand nehmen. ArbeiterInnen haben keine Profitinteressen. Wir haben ein Interesse an sozialer Sicherheit und Gesundheit für alle. Wir können Betriebe schliessen, das Pflegepersonal massiv aufstocken und zusätzliches Lehr- und Betreuungspersonal einsetzen. Geld ist genug da, es wird nur verschwendet durch die ineffiziente Privatwirtschaft. Jeder verhinderbare Tod ist einer zu viel. Doch dazu braucht die Arbeiterklasse ihre eigene Partei, unabhängig von den Bürgerlichen und ihren Profitinteressen, mit entsprechenden Forderungen und Programm.
Das Potenzial dafür ist eindeutig da, der Unmut über die Corona-Politik ist riesig. Trotzdem gibt es bisher keine grundsätzliche Opposition zum Bundesrat. Die SP hat sich seit dem Frühjahr in einen klassenübergreifenden Block eingereiht, den wir als «nationale Einheit» bezeichnen können. Sie war damit 2020 eine tragende Stütze der bürgerlichen Krisenpolitik, die verhindert hat, dass sich der Unmut und Widerstand gegen die asoziale Corona-Politik der herrschenden Klasse politisch ausdrücken konnte.
Es ist erfreulich, dass es in diesem Klassenbündnis nun Risse gibt. Das widerspiegelt den Druck aus der Bevölkerung auf die SP. Aber zur Umsetzung der Forderungen der SP und zum Kampf gegen die zweite Welle braucht es den konsequenten Bruch mit den Bürgerlichen. ArbeiterInnen und Kapitalisten haben nicht die gleichen Interessen – auch und gerade in der Krise nicht! Jede Einheit zwischen den beiden ist illusorisch und unhaltbar.
Eine solche «nationale Einheit», in der die Klasseninteressen hinter den vermeintlich gemeinsamen Interessen der gesamten Bevölkerung in einem Land zurückgestellt werden, gibts in der Schweiz nicht erst seit Corona. Sie nimmt hierzulande sogar einen besonders perfiden Charakter an und findet ihren höchsten Ausdruck im Bundesrat als einer institutionalisierten Koalitionsregierung. Die Einbindung der Linken in eine bürgerliche Regierung ist in keiner Art und Weise ein Fortschritt für die Arbeiterklasse – nie! Die sozialdemokratische Regierungsbeteiligung ist ein Mittel zur Stabilisierung der bürgerlichen Herrschaft durch die Unterordnung der Arbeiterklasse unters Kapital. Die SP wurde von den Bürgerlichen in die Regierung eingebunden, weil sie dort ungefährlich ist.
Die SP muss den Anspruch haben, die soziale und gesundheitliche Krise zu lösen. Die Krise selbst zeigt deutlich, dass die Beteiligung im Bundesrat dazu nicht dient. Berset und Sommaruga sind in der Krise die Gesichter eben jenes Bundesrats, den die SP nun richtigerweise anklagt!
Nach Jahrzehnten der Regierungsbeteiligung ist die Zauberformel tief in der Schweizer Mentalität verankert. Das macht sie allerdings nicht richtiger. Die SP muss in die Opposition: Sie muss die ArbeiterInnen rund um ihre Forderungen gegen den Bundesrat mobilisieren. Das führt unweigerlich zum Konflikt mit dem Bundesrat und zum Austritt oder Rauswurf der SP-Bundesräte. Das ist ein notwendiger Schritt. In der Opposition ist die SP für die Bürgerlichen deutlich gefährlicher. Sie muss den Anspruch haben, eine Arbeiterregierung zu stellen, auf der Grundlage der Mobilisierung der Klasse. Alles andere bedeutet, sich selbst und die Arbeiterklasse nicht ernst zu nehmen.
Selbsternannte Pragmatiker werden einwenden: «Aber die Probleme müssen heute gelöst werden, nicht in x Jahren». Das stimmt. Aber der Druck einer mobilisierten Arbeiterklasse mit konsequenten Forderungen führt zu tausendmal mehr und schnelleren Zugeständnissen der Bürgerlichen als jeder Versuch, als Minderheit im Parlament oder in der Regierung die bürgerliche Mehrheit zu überzeugen. Die organisierte, mobilisierte Arbeiterklasse kann heute dafür sorgen, dass die Pandemie unter Kontrolle gebracht und unsere soziale Sicherheit verteidigt wird. Dazu braucht sie aber Forderungen, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Martin Kohler
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